Alfred Komarek: "Die Schattenuhr"
Der zweite Daniel-Käfer-Roman aus dem Salzkammergut
Ein Roman als Sachtext
Im Deutschunterricht lernte ich, zwischen Textsorten zu unterscheiden: Gebrauchstexte
dienen weitgehend dazu, Sachverhalte darzustellen und häufig auch kommerzielle
Ziele zu verfolgen. Literarische Texte führen durch eine kreative Leistung über
die rein sachliche Ebene hinaus. Der Gegensatz ist mir geläufig und klar; auch
in Buchhandlungen weiß ich immer, ob ich gerade durch die Belletristik- oder
eine Sachbuchabteilung schmökere.
Aber Alfred Komareks "Schattenuhr" verwirrt diese scheinbar so einfache Differenzierung.
Der Roman beschreibt einige aufregende Tage im Leben des
mäßig erfolgreichen ehemaligen Chefredakteurs Daniel Käfer, der seinen erholsam
langen Aufenthalt im Ausseer Land beenden sollte, um sich in Wien um neue berufliche
Chancen zu kümmern. Er schafft es jedoch nicht, sich von den Orten der Sommerfrische
zu trennen, beobachtet einen neuen Freund beim Kajakpaddeln auf der Traun, wagt
einen Tandem-Paragleitflug und übernachtet
in
der Dachsteineishöhle. Neben diesem touristischen Zeitvertreib trifft er
vorwiegend sympathische Leute in Gastsstätten, führt mit ihnen witzige und pointenreiche
Gespräche und hört von netten Geschichten aus der Historie des Salzkammerguts,
von berühmten Sommerfrischlern wie Adalbert Stifter und Theodor Herzl, vom prähistorischen
Salzbergbau bei Hallstatt und von Erzherzog Johann auf dem Dachstein. Urlaub
bei Freunden, komm bleib, lass die Seele baumeln, ... und schon fällt zwischen
den Seiten eine Prospektanforderungskarte des Tourismusverbandes Ausseer Land
- Salzkammergut heraus. "Die Schauplätze im Roman 'Die Schattenuhr' haben mir
so gut gefallen, dass ich gerne mehr über die Region erfahren möchte", lese
ich. Man möge die Prospektbestellung durch seine Anschrift ergänzen. Der Roman
als Verpackung für Fremdenverkehrswerbung ...?
In den unzähligen, ausnahmslos namentlich genannten und oft mit wesentlichen
Inhalten der Speisekarte penibel genau geschilderten Gaststätten entwickelt
sich zwischen witzigen Dialogen und lehrreichen Monologen über regionale Sehenswürdigkeiten
ein bisschen Handlung. Im Kastaniengarten der Konditorei Lewandowsky erhält
Daniel Käfer den Auftrag zu einem Bildband über die Region Ausseer Land - Salzkammergut,
dazu gleich ein paar touristische Tipps, die unbedingt im Buchprojekt erwähnt
werden sollen. Von seiner Zimmervermieterin bekommt er schließlich noch einen
geheimnisvollen Plan der Hallstätter Salzstollen, der ihn in die Welt der Wilderer,
archäologischer Raubgrabungen und sensationeller prähistorischer Entdeckungen
entführt. All das geschieht nahezu ohne Eigeninitiative Daniel Käfers, denn
der Sommerfrischler soll auch in den aufregendsten Abenteuern nicht auf Erholung
verzichten müssen.
Alfred Komarek, der Autor der gelungenen Weinviertler "Polt"-Krimis, entführt
diesen Roman in die Fremdenverkehrswerbung. Was von diesem offensichtlichen
Auftragswerk des Fremdenverkehrsverbandes und der örtlichen Gastronomie bleibt,
ist eine flache Handlung, die sich auch durch gekonnt unterhaltsame Dialoge
mit nett-schrulligen Ausseern und Hallstättern nicht vertiefen lässt. Dabei
hat Komarek selbst schon bessere Werbung für seine Heimat gemacht: mit "Ausseerland
- die Bühne hinter den Kulissen", einem Bildband mit Geschichten ohne aufgenötigte
Romanhandlung.
(Wolfgang Moser; 09/2005)
Alfred Komarek: "Die Schattenuhr"
Haymon, 2005. 208 Seiten.
ISBN 3-85218-483-5.
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Alfred Komarek, geboren 1945 in
Bad Aussee, lebt als freier Schriftsteller in Wien, schreibt u.a.
Reisereportagen, Essays und Erzählungen sowie Arbeiten für Hörfunk und TV
(ORF, BR, HR). Zahlreiche Bücher, darunter mehrere Landschaftsbände, u.a. über
das Salzkammergut, das Ausseerland, das Weinviertel, das Ötztal,
die
Lagune von Venedig. Kinderbücher und Kriminalromane um Inspektor Simon
Polt. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a.
Glauser-Preis für den besten Krimi 1998
und Romy für das beste Drehbuch 2002 (gemeinsam mit Julian Pölsler) für
"Polt
muss weinen". Alfred Komarek starb am 27. Jänner 2024
in Wien.
Lien zu Alfred Komareks Netzseite:
https://www.alfred-komarek.at/.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Die Villen der Frau Hürsch"
Ein altmodisch gekleideter Mann auf einer verwilderten Rasenfläche. Mit raschen
Schritten folgt er einem unsichtbaren Ball und versucht ihn mit einem imaginären
Schläger zu treffen.
Daniel Käfer schaut staunend zu und ahnt noch nicht, dass auch er bald in ein
Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit geraten wird.
Käfers erfolgreiches Berufsleben als Chefredakteur ist seit wenigen Wochen
Vergangenheit. Jetzt will er im Ferienparadies seiner Kindheit, dem steirischen
Salzkammergut, die Bilder von damals wieder leuchten lassen und über seine
Zukunft nachdenken.
Er findet sich in einer nur vordergründig harmonischen Welt der Gegensätze
wieder: uralte Strukturen der Salzwirtschaft und die bemühte Eleganz jener
Freizeitarchitektur, die vor über hundert Jahren den Wandel zum Kurort gebracht
hatte.
Daniel Käfers Spurensuche im Ausseerland lässt bald auch seine persönliche
Vergangenheit in einem anderen Licht erscheinen. Wie war es wirklich um die
sorgfältig gepflegte Tradition der gut bürgerlichen Familie bestellt? Vor
allem das Schicksal jener verleugneten, verdrängten Mizzi Käfer, der "Ausseerin",
passt nicht ins wohl geordnete Bild. Ihr sehr bescheidenes Leben als
Dienstbotin, zuletzt in der Villa der Frau Hürsch, und ihr rätselhafter Tod
geben den Blick frei in eine Welt der Ausbeutung und des Elends. Aber auch märchenhafte
Schicksalsfügungen waren möglich ...
Komareks erster Roman aus dem Salzkammergut erzählt spannend und facettenreich.
Und er bietet die ebenso hintergründige wie pointierte Sicht auf eine der
interessantesten Kulturlandschaften Österreichs.
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"Salzkammergut"
Reise durch ein unbekanntes Land. Kreuz- und
Querzüge durch Österreichs Herzlandschaft. (Kremayr & Scheriau)
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"Ausseerland"
Die Bühne hinter den Kulissen. Von Landschaften und Menschen, die
sich dem Fremdenverkehr zwar geöffnet, aber nie unterworfen
haben. (Kremayr & Scheriau)
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Noch ein Buchtipp:
Gerhard Tötschinger: "Mein Salzkammergut"
Das Salzkammergut neu entdecken: Bisher noch nicht Gehörtes und Gelesenes über
das viel geliebte Salzkammergut beschert Gerhard Tötschinger der Leserschaft.
Dabei spielen naturgemäß die Habsburger als Herrscher, Stifter und Gründer,
aber auch als Privatpersonen eine Hauptrolle. Von
Kaiser Maximilian I. bis
Kaiserin
Elisabeth sind eindrucksvolle Spuren zu finden, aber auch im 20. Jahrhundert
hat das Salzkammergut Geschichte geschrieben.
Überraschend neue Fakten, biografische Details und immer wieder köstliche und
aufschlussreiche Geschichten und Anekdoten machen das Buch zum Lesegenuss. Ein
kulturgeschichtlicher Führer und gleichzeitig eine Liebeserklärung an einen
Landstrich, der Kaiser und Könige, Komponisten und Literaten verzaubert hat,
wie auch jeden Anderen, der ihn je bereist hat. (Amalthea)
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Dietmar Grieser:
"Nachsommertraum"
"Seelenlandschaft" Salzkammergut: Auf den Spuren berühmter Sommerfrischler aus
der Welt der Kunst.
Zur Rezension ...
Leseprobe:
(...) "Wenn ich mich recht entsinne, Gerd, war dieses Mädchen - Sanna hieß es,
nicht wahr? - ganz und gar nicht verzagt. Und das grenzenlose
Vertrauen
in den älteren Bruder war durchaus gerechtfertigt. Aber ganz abgesehen davon:
Was hast du konkret vor?"
"Wir verbringen die heutige Nacht in der
Dachstein-Rieseneishöhle. Von der Organisation her ist alles
vorbereitet: Die Bewilligung der Betriebsgesellschaft und eine
Sonderfahrt der Seilbahn zur Mittelstation, wo der Schlüssel
zum Höhleneingang für mich bereitliegt. Nur gerettet werden
wir am Morgen nicht. Wir fahren einfach mit der ersten Gondel
talwärts."
"Und was geschieht in der Höhle?"
"Wir folgen möglichst dicht Stifters Erzählung. Da geraten
die Kinder erst einmal in ein großes, blau schimmerndes
Eisgewölbe und später in eine Art Gebäude aus vereisten
Steintrümmern. Wir hingegen bleiben im Eisgewölbe - im
Tristandom, genauer gesagt. Und du brauchst keine Bedenken
haben. Ich kenne mich in der Höhle aus, biete Führungen zu
Spezialthemen an."
"Alles andere hätte mich gewundert."
"Nicht wahr? Weiter im Detail: Wir sind warm angezogen - waren die Kinder in der Geschichte ja auch
- aber das sollte
reichen. Die Temperatur in der Höhle liegt knapp unter null.
Natürlich hab ich alles Notwendige mit, sollte sich
herausstellen, dass wir ordentlich biwakieren müssen."
"Beruhigend. Und die Wegzehrung? Auch Stifter-gerecht?"
"Das will ich meinen. Brote, kleine Kuchenstücke, Mandeln,
Nüsse und schwarzer Kaffeesud." Gerd Gamsjäger griff nach
einem prall gefüllten Rucksack. "Außerdem hab ich eine
Batterielampe mit. Passt zwar nicht, ist aber vielleicht ganz
praktisch."
"So, da sind wir." Gerd schaute zu den gelb leuchtenden
Fenstern des Schönberghauses hinüber. "Dort geht jetzt der
Hüttenzauber an. Wir werden es stiller haben. Zum Höhleneingang
ist es kaum eine Viertelstunde. Ich geh voran und beleuchte
den Weg. Sei vorsichtig."
Käfer ging erst ein wenig unsicher, dann gewöhnten sich
seine Augen an die Dunkelheit. Er löste den Blick vom Boden
und sah tief unten winzige Lichter. Gerd blieb stehen und hob
den Kopf. "Schau dir einmal diesen Sternenhimmel an, Daniel.
Direkt ehrfürchtig könnte man werden."
"Ja."
Käfer blieb einen Augenblick stehen. Die Luft war scharf und
herb. Er nahm sich vor, in Zukunft wieder öfter im Gebirge zu
wandern. Weiß Gott, es gab Schöneres als Geld zu verdienen
und sich damit gesellschaftlich wichtig zu machen.
Das Geräusch der Schritte gab der Stille hier oben einen
steten, bedächtigen Rhythmus. Was für ein Tag und was für
eine Nacht ... Unversehens war Käfer auf seinem Weg zurück
in den Berufsalltag in eine bislang verborgen gebliebene
Gegenwelt geraten.
"So. Der Höhleneingang!" Gamsjäger richtete den Strahl
der Taschenlampe auf ein massives Tor, sperrte auf und ging zu
einem Schaltkasten. "Ich mache erst einmal Licht, Daniel,
damit du die Höhle als Ganzes kennen lernst. Darf ich
bitten?"
Er ging voran und blieb wenig später in einer Tropfsteinhöhle
stehen. "Eis gibt es erst tiefer im Inneren des Berges. Dort
aber jede Menge und in einer wunderbaren Vielfalt der Formen.
1910 ist dieses Höhlensystem entdeckt worden. In den
folgenden Jahren wurde es gründlich erforscht und
erschlossen. Fantasievolle Burschen, die Herren Entdecker, und
nicht nur im Berg, sondern auch in der deutschen Sagenwelt
zuhause. War ja groß in Mode damals. Darum gibt es hier unten
einen Palast der Königin Kondwiramur, je einen prächtig
ausgestatteten Eisdom für König Artus, Parzival und Tristan
und so weiter. Doch was rede ich. Man folge mir und man
staune."
Fast eine Stunde durchschritten die beiden eine vielfarbig
schimmernde Zauberwelt. Türme, Wälle und Zinnen aus Eis fügten
sich zu immer wieder neuen Bildern. Eis, nach oben strebend
oder nach unten wachsend, verband sich da und dort zu Säulenreihen
oder filigranen Vorhängen.
Gerd Gamsjäger war stehen geblieben. "Die Beleuchtung ist
übrigens einfarbig. Gelb, Grün, Blau und all die Zwischentöne
entstehen durch die unterschiedliche Stärke und Dichte des
Eises. Und jetzt, mein Lieber, wollen wir uns an den Ort der
Handlung begeben."
Im Tristandom angekommen schaute er sich suchend um. "Hier
ist ein recht ebenes Stück nackter Fels." Er stellte die
Batterielampe vor sich auf den Boden. "Ich werde die große
Beleuchtung abschalten. Die Kinder haben schließlich auch nur
das Licht der Sterne gehabt."
Dann saßen die beiden einander gegenüber, das kleine Licht
dazwischen.
"Direkt komfortabel, Daniel, was sagst du?"
"Aber ja. Jedenfalls ist mir so ein Hotelzimmer noch nicht
untergekommen. Das nenn ich eiskalten Luxus."
"Dazu gehört natürlich auch die entsprechende Verpflegung. Hier, greif zu, mein
Freund, es ist ausnahmsweise gratis. Darf's eine literarische Beilage sein?"
Gamsjäger schlug das mitgebrachte Buch auf. "Die Kinder gingen in den Graben
fort und gingen in das Gewölbe hinein. Es war ganz trocken und unter ihren Füßen
hatten sie glattes Eis. In der ganzen Höhlung aber war es blau, so blau wie
gar nichts in der Welt ist, viel tiefer und viel schöner blau als das Firmament,
gleichsam wie himmelblau gefärbtes Glas, durch welches lichter Schein hineinsinkt
... Schön, wie? Was hat dich übrigens gestört, als du dieses Buch bei mir gesehen
hast?"
"Mein Unbehagen hat einen Namen, Gerd. Eustach Schiller.
Dieser Herr hat vor ein paar Wochen
aus Stifters Nachsommer
zitiert und in der Folge einiges Unheil angerichtet."
"So ein kleiner, dicker, altmodisch gekleideter Mensch? Der
ist häufig in Hallstatt zu sehen in letzter Zeit."
"Hat er ein neues Objekt der Begierde im Auge?"
"Es wird geredet. Am Ufer, dem Ort gegenüber, steht das
Schloss Grub."
"Kenn ich. Ein märchenhaftes Anwesen."
"Mit einer mehr als turbulenten Geschichte. Im 17. Jahrhundert ist dort noch
das Gut Grub gestanden. Der Ischler Salinenverweser Christoph Eyssl von Eysselsberg
hat sich dort niedergelassen, ein Säufer und Schurke zum Fürchten. In einem
Wutanfall soll er sogar ein Kind gegen die Mauer geschleudert haben. Die Blutspuren
dieser Gräueltat sind angeblich noch lange sichtbar gewesen. Im 19. Jahrhundert
hat dann die Frau eines russischen Diplomaten das Gut nach ihren romantischen
Vorstellungen umbauen lassen. Seitdem geben sich dort Spekulanten, verträumte
Investoren und verkrachte Existenzen die Tür in die Hand. Sieht fast so aus,
als gäb's bald wieder einen neuen Eigentümer."
"Nicht meine Sorge. Sag einmal, Gerd, wie willst du denn
deine literaturbegeisterten Höhlengänger unterhalten, die
Nacht über?"
"Ich weiß noch nicht so recht. Natürlich werde ich von Stifter und dem Hintergrund
der Erzählung reden und ein paar passende Stellen vorlesen. Ich habe auch schon
an den Einsatz von Projektionen und Toneffekten gedacht. Immerhin überleben
die Kinder letztlich nur, weil sie das schreckliche Geräusch von berstendem
Eis wach hält."
"Kitsch sollt' es halt keiner werden ..."
"Alles, nur das nicht. Ich will auch vermitteln, wie es ist,
Kälte und Ausgesetztheit im Berg zu ertragen, auch ein wenig
Hunger. Und wenn die Zeit bis zum Morgen lang und länger
wird: Das gehört dazu. Umso fröhlicher möchte ich dann das
gute Ende vor dem Höhleneingang inszenieren."
"Ob du das alles bei den Behörden durchbringst? Ich meine
von wegen Sicherheit und so ..."
"Es wird bestimmt beschwerlicher werden als unsere Nacht heute. Sei's drum.
Müde, Daniel?"
"Ja, schon. Der Tag heute hat mich ganz schön gefordert."
"Nur wer an seine Grenzen geht, findet auch seine Mitte. Ist
übrigens von mir."
"Toll. Kompliment."
"Magst Kaffeesud haben? Extra stark, extra bitter!"
"Her damit."
Das hätte die tapfere kleine Sanna aber anders gesagt."
"Ich bin nicht tapfer und klein bin ich erst recht nicht."
"Stimmt schon. Wir wollen das Stifter-Theater nicht übertreiben.
Außerdem, ob tapfer oder nicht, du warst wenigstens beruflich
erfolgreich, Daniel. Kannst von der Abfertigung wahrscheinlich
bis ans Ende deiner Tage leben. Ich bin nur originell."
"Und hast jede Menge Spaß daran. Wenn das nicht mehr zählt
als ein dickes Konto ..."
"Zugegeben. Aber nicht selten wird's ziemlich knapp. Was glaubst du, warum wir
für jeden Scheißdreck Geld von dir verlangen?"
"Ich bekomm ja was dafür."
"Na klar. Anständig habgierig ist die Devise. Aber schön wär's schon, einfach
sagen zu können: Du bist mein Gast, Daniel, bleib so lange du magst."
"Kommt vielleicht noch." Käfer stand auf und ging ein
paar Schritte, um sich zu wärmen. "Und wenn wir schon von
Erfolg reden. Dir nimmt kein Konzern dein Lebenswerk aus der
Hand und schmeißt es auf den Mist."
Käfer schaute um sich. Im schwachen Licht von Gerds
Batterielampe war nur noch ein wild wucherndes Gewirr bizarrer
Formen zu sehen, das in weiterer Entfernung mit der Dunkelheit
verschmolz. Es gab keine Grenzen mehr, diese Welt aus Eis
wuchs über sich hinaus. Käfer fror nicht, doch er spürte,
wie die Bilder rings um ihn allmählich auch in ihm waren,
dieses frostige, unendlich langsame Wachsen und sich Verändern.
Dann hörte er Gerds Stimme. "Und meiner Mutter würde ich wünschen,
ein angenehmeres Leben zu führen. Die Rente nach meinem Vater
ist lächerlich klein. Und ich kann die Gute auch nicht
wirklich unterstützen."
"Dein Vater?"
"Knappe,
Wilddieb, Kletterer, Frauenheld. Eines Tages ist er
aus der Wand gefallen. Und auf eine zweite Ehe hat die Mutter
dankend verzichtet."
"Und du, Gerd? Dir müssen die Weiber doch in hellen Scharen
nachlaufen."
"Halb so schlimm. Außerdem ... das Schilehrer-Bergführer-Syndrom. Im Bett hast
du sie bald einmal. Aber als Familienvater sieht dich keine. Irgendwie auch
zu Recht übrigens. Wie steht's denn mit dir, wenn's überhaupt noch steht?"
"Frechdachs. Da gibt es die Sabine, ohne die ich schlichtweg
vor die Hunde ginge."
"Klingt ziemlich unerotisch. Was ist mit der Anna?"
"Hat sie von mir erzählt? Inzwischen bin ich nicht einmal
mehr ganz sicher, ob da was war."
"Soll ich sie fragen, bei Gelegenheit?"
"Untersteh dich!"
"Wie du meinst, Daniel. Wie spät ist es eigentlich? Ich mag
keine Uhren, mit einer Ausnahme."
"Gegen drei Uhr früh. Die Ausnahme?"
"Eine Sonnenuhr an unserer Hausmauer, ich zeig sie dir
morgen. Die ist an einer Stelle angebracht, wo an 365 Tagen im
Jahre garantiert kein Sonnenstrahl hinkommt, eine Schattenuhr,
sozusagen."
"Und was gefällt dir daran?"
"Ein Zeitmesser, der sich der Zeit verweigert. Ist das
nichts?"
"Doch. Hat was."
Jetzt war auch Gerd aufgestanden und wandte sich lächelnd
einem fiktiven Publikum zu.
"Nun ist der unterhaltsame Teil unserer Reise durch die
Nacht so ziemlich vorbei. Irgendwann zeigen die dunklen
Dämonen
ihre Fratzen. Nur jetzt nicht einschlafen, sonst gewinnen sie
ihr eiskaltes Spiel ... nicht einschlafen, sagt bei Stifter
der Bub Konrad zu seiner Schwester Sanna. Denn weißt du, wie
der Vater gesagt hat, wenn man im Gebirge schläft, muss man
erfrieren, so wie der alte Eschenjäger auch geschlafen hat
und vier Monate tot auf dem Steine gesessen ist, ohne dass
jemand gewusst hatte, wo er sei."
Käfer klatschte leise
Applaus. "Gute Dramaturgie. Und wie geht's weiter, Gerd?"
"Jetzt werden wir zwei damit aufhören, uns die Zeit zu
vertreiben. Wir werden schweigen, frösteln, der Stille zuhören
und den Tropfen, die in sie fallen. Wir werden es lernen müssen,
Eintönigkeit und Langeweile zu ertragen - und dabei nicht
einzuschlafen, bis uns der Morgen rettet."
Sie saßen dann einfach da, jeder in seinen Gedanken
verfangen. Manchmal fühlte sich Käfer großartig, dann lächerlich,
dann nur noch leer und müde.
Allmählich wurde er gleichgültig. Eine seltsam starre Ruhe
kam über ihn. Dann hörte er Gerds Stimme. "Wie spät,
Daniel?"
"Gegen sieben Uhr."
"Gratuliere, das Leben hat uns wieder! Ich darf bitten ... Der
Sonnenaufgang!"
Gerd Gamsjäger schaltete die Beleuchtung ein. Mit einem Mal
wich die Geisterwelt der Nacht einer überschwänglichen Fülle
an kostbarer Schönheit. Käfer stand auf, reckte und streckte
sich. "Gestern war ich ein Vogel. Heute bin ich König. Und
was kommt demnächst?" (...)