Martín Kohan: "Sekundenlang"
Verani
ist Sportredakteur bei einer Zeitung in
Patagonien. Wir
schreiben das
Jahr 1973, es ist September, das Nachbarland Chile ist in
großem Aufruhr, der
Putsch
gegen Salvador Allende steht kurz
bevor. Doch das beschäftigt Verani und seinen Kollegen Ledesma
aus dem Kulturressort weniger. Sie sind voller Engagement für
eine Sonderbeilage der Zeitung, die nach dem Willen des
Redaktionsleiters Arteche zum fünfzigjährigen
Jubiläum der Zeitung erscheinen soll. Jeder Redakteur und
Mitarbeiter soll sich, so seine Idee, mit irgendeinem ihm für
sein Ressort wichtig scheinenden Ereignis im September 1923 befassen,
als die Zeitung das Licht der Welt erblickte.
Alle tauchen sie kurz darauf beim Archivar der Zeitung auf, der die
Rahmenhandlung des Buchs beschreibt. Verani, der Sportredakteur,
recherchiert den legendären Boxkampf des Argentiniers Luis
Ángel Firpo im September 1923 in den USA gegen den
amtierenden Weltmeister Jack Dempsey, als der Argentinier auf
skandalöse Weise um den Sieg gebracht wurde. Und Ledesma,
kultur- und kunstbeflissen, entscheidet sich, über den
Aufenthalt der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Richard
Strauss im September 1923 in Buenos Aires zu schreiben.
Ledesma fühlt sich Verani überlegen; er belehrt ihn
mit Informationen über
Richard
Wagner, der mit Richard Strauss
befreundet war, und dessen erste Symphonie damals 1923 im Teatro
Colón seine südamerikanische Uraufführung
erlebte. Doch Verani setzt sich tapfer zur Wehr und lässt sich
von dem intellektuellen Vedesma nicht unterkriegen. Als Verani im Zuge
seiner Recherchen eine alte Zeitungsmeldung ausgräbt, nach der
ebenfalls im September 1923 eine unbekannte Leiche in einem Hotelzimmer
in Buenos Aires gefunden wurde, lässt ihn die Idee nicht mehr
los, dass es zwischen dem Tod dieses Unbekannten und den beiden
historischen Großereignissen irgendeine mysteriöse
Verbindung gegen könnte.
Und er verfolgt seine Spur konsequent, lässt die Belehrungen
Ledesmas über sich ergehen, der ihm die Parallelen zwischen
einem Boxkampf und einer Symphonie erläutert und ihn auf hohem
musikwissenschaftlichen Niveau in die Hintergründe der
eigenartigen Freundschaft zwischen
Gustav
Mahler und Richard Strauss
einführt.
Es sei vorweg verraten: es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Tod des
Unbekannten, dem Boxkampf und den Wiener Philharmonikern. Wie
Martín Kohan die Geschichte sich entwickeln lässt,
ist ungeheuer spannend und gleichzeitig voller hintergründigem
Humor geschrieben. Die Hintergrundinformationen zu Mahler und Strauss
sind für den musikalischen Laien höchst
aufschlussreich und interessant zu lesen. Und die Schilderung von
ungefähr zwanzig Sekunden eines historischen Boxkampfes
über viele Dutzend Seiten hinweg sind das am meisten
verdichtete Stück Literatur, das der Rezensent seit langem
gelesen hat.
Wie Martín Kohan die entscheidenden Sekunden des Kampfes
zwischen Jack Dempsey und seinem argentinischen Herausforderer Luis
Ángel Firpo aus der Sicht eines Fotografen, des Ringrichters
und aus der Sicht Dempseys selbst schildert, ist einfach genial und mit
höchstem Genuss zu lesen. Er verknüpft in diesen
Sekunden, als Dempsey, von Firpo niedergeschlagen, aus dem Ring
fällt, drei Lebensgeschichten völlig
unterschiedlicher Menschen miteinander.
Am Ende geht der Kampf weiter, als sei nichts geschehen, Firpo wird um
seinen verdienten Sieg betrogen, und der mysteriösen
Zusammenhang zwischen der Leiche aus der Zeitungsnotiz und dem Boxkampf
erfährt viele Jahre später eine überraschend
Lösung.
Dieser Roman ist witzig geschrieben und vermittelt neben einer
Fülle interessanter historischer Details einen Lesegenuss ganz
eigener Art.
(Winfried Stanzick; 04/2007)
Martín
Kohan: "Sekundenlang"
(Originaltitel "Segundos afuera")
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Suhrkamp, 2007. 269 Seiten.
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Martín Kohan, 1967 in Buenos Aires geboren und dort lebend, hat fünf Romane, zwei Bände mit Erzählungen und zwei große Essays (einen über Eva Perón und einen über Walter Benjamin) veröffentlicht.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Zweimal Juni"
1978, 1982: Zweimal Juni, zweimal Fußballweltmeisterschaft, und beide Male
verliert Argentinien knapp gegen Italien. Auf die erste Niederlage, in Buenos
Aires, folgt dennoch der Titelgewinn und der propagandistische Triumph der Militärjunta.
Die zweite Niederlage, in Spanien, führt nicht nur zum Ausscheiden der
Nationalmannschaft - sie wird begleitet vom katastrophal gescheiterten
Falklandkrieg, der das Ende der Schreckensherrschaft einleitet.
Und doch gibt es selbst in solchen Zeiten immer auch Leute, die es ganz gut
getroffen haben. Etwa der junge Rekrut, der zunächst bei einem Militärarzt als
Fahrer arbeitet und später als Medizinstudent den Krieg in der Zeitung
verfolgt. Als er aber auf einer Gefallenenliste einen Namen bemerkt, der
ihm bekannt vorkommt, entspinnen sich seine Erinnerungen, die an ein
grauenhaftes Ereignis rühren. Mit dieser scheinbar unbeteiligten Stimme eines
Mitläufers macht der Roman den Leser zum Komplizen und gewinnt eine
Drastik und Intensität, die einem den Atem raubt.
Martín Kohan schrieb mit "Zweimal Juni" den maßgeblichen Roman über
die traumatischen Ereignisse der letzten Militärdiktatur. (Suhrkamp)
zur
Rezension ...
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Weiterer Buchtipp:
Christiane Mühlegger-Henhapel, Alexandra
Steiner-Strauss (Hrsg.):
"Richard Strauss und die Oper"
Zum
150. Geburtstag des großen Komponisten
Richard Strauss (1864-1949) gehört zu den Wegbereitern der musikalischen
Moderne. Schon zu Lebzeiten war der Dirigent und Komponist erfolgreich, vor
allem seine Opern werden in aller Welt geschätzt. Als Direktor der Wiener
Staatsoper feierte er zwischen 1919 und 1924 Erfolge, löste aber auch
Kontroversen aus. Gemeinsam mit dem Dichtern
Hugo von Hofmannsthal und dem
Bühnenbildner Alfred Roller schuf er mit "Elektra" und
"Der Rosenkavalier"
wegweisende Operninszenierungen.
Stefan Zweig gewann er für das Libretto zur
Oper "Die schweigsame Frau", weitere geplante Projekte scheiterten jedoch an der
Politik des NS-Regimes.
Faszinierende Quellen aus dem Wiener Theatermuseum zeichnen ein vielschichtiges
Porträt dieses großen Komponisten.
Christiane Mühlegger-Henhapel: Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft
und Romanistik an der Universität Innsbruck. Seit 1999 Kustodin im Theatermuseum
in Wien, verantwortlich für die Sammlung Handschriften und Nachlässe.
Alexandra Steiner-Strauss: Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und
Germanistik an der Universität Wien. Seit 2002 Kustodin im Theatermuseum in
Wien, verantwortlich für die Sammlung Handzeichnungen. (Residenz)
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