Jürgen Manthey: "Königsberg"

Geschichte einer Weltbürgerrepublik


Der 1932 geborene Jürgen Manthey war Leiter der Literatur-Redaktion beim Hessischen Rundfunk und wirkte später als Cheflektor und Herausgeber bei Rowohlt. Von 1986 bis 1998 war er Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Essen.

Das Jahr 2005 ist ein Jubiläumsjahr für die Stadt Königsberg, auf deren Territorium im Jahre 1255 auf Geheiß Hochmeisters Hermann von Salza die Burg Coningsberg errichtet wurde. Doch bereits Anfang des 16. Jahrhunderts lief der Deutsche Ritterorden zu den Protestanten über, wobei die Migration von Luther und Melanchthon selbst betreut wurde. Insbesondere die Idee, sich verheiraten zu dürfen, soll die Zwangsasketen überzeugt haben. Nach der Säkularisierung der Region entstand das Herzogtum Preußen mit Königsberg als Hauptstadt und Albrecht in der Rolle des Herzogs. Dieses Königsberg war nicht nur abgelegen, sondern auch abgeschlossen, eine "höchst unpatriotische Stadt, wo nur Friedensgedanken herrschen". 1566 kam es zu der einzigen öffentlichen Hinrichtung in Königsberg, als drei herzogliche Räte als Sündenböcke herhalten mussten.

Preußen untersteht der polnischen Krone und wird vom Dreißigjährigen Krieg durch bewegliche Bündnispolitik verschont, so etwa kurzzeitig auch mit dem Schweden Gustav Adolf gegen Preußen und Polen. 1701 krönt sich der neuerliche Friedrich I. selbst und begründet das preußische Königreich. Doch insgesamt schätzt man sich nicht sehr und geht sich aus dem Weg, die preußischen Monarchen und die Königsberger Bürger. Königsberg gedeiht in bester Tradition einer griechischen Polis mit aufgeklärtem Bürgertum, das keines Königs bedarf, weder eines kriegerischen, noch eines auf der Flöte dilettierenden.

Als 1758 die Russen Königsberg umzingelt hatten, handelten die Bürger mit dem russischen General eine friedliche Lösung aus. Dieser zog in die Stadt ein und erhielt im Rahmen eines offiziellen Festakts die Stadtschlüssel - und alles Andere blieb beim Alten, außer dass man für die Dauer der Besetzung 13 zusätzliche russische Feiertage beging. Während man in Königsberg die Töchter mit den russischen Offizieren tanzen ließ, schickte man woanders die Söhne zu den Russen ins Feld, um sie erschlagen zu lassen. Hier fragt man sich, welcher Ansatz wohl der intelligentere sei. 1862 zogen die Russen wieder ab, und die Königsberger montierten ein paar Schilder ab. Danach kamen die Preußen wieder. 1813 war es dann an der Zeit, sich von der Landplage Napoleon zu befreien. Napoleon war der Anführer eines der fürchterlichen Heuschreckenschwärme, die eine Landschaft im Nu kahl fressen konnten. Zu dieser Zeit zogen Schwärme in französischem Tuch durch, in preußischem, wieder französischem, dann russischem.

Königsberg wurde zum politischen Laboratorium des 18. und 19. Jahrhunderts, Brutstätte eines aufgeklärten Bürgertums und vieler demokratischer Reformen. Die auf Selbstverwaltung basierende demokratische Verfassung der Städte unserer Zeit hat ihren Ursprung im Königsberg um 1808. Grundlage waren die Ideen eines Immanuel Kant und eines Adam Smith, gepredigt von Kant und seinem überragenden Schüler Christian Jakob Kraus, den Kant "für einen der größten Köpfe hielt, welche die hervorgebracht habe".

Doch Kant voraus ging Johann Christoph Gottsched (1700-1766), der in Königsberg studierte hatte. Der Sohn eines Pfarrers besuchte bereits mit 14 Jahren die Universität in Königsberg; neben der Theologie interessierten ihn Philosophie, Mathematik, Physik, klassische Philologie, Poesie und Rhetorik; schon 1719 verteidigte er seine erste Dissertation (über ein meteorologisch-physikalisches Thema). Wegen der drohenden Zwangsrekrutierung durch preußische Werber floh er 1724 mit seinem Bruder Johann Friedrich nach Leipzig. Seit dem Sommer 1725 hielt er dort Vorlesungen über Schöne Wissenschaften und die Philosophie Christian Wolffs. 1730 wurde er außerordentlicher, also unbezahlter, Professor für Poesie, 1734 schließlich ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik. Er war ein Wegbereiter einer deutschen Nationalliteratur, wofür Lessing wohl überwiegend geehrt wird. Er redete einer mit bürgerlichen Elementen durchsetzten Monarchie das Wort. Aufgabe der Literatur wiederum sei es in diesem Szenarium, die Potentaten zu beraten, eine Aufgabe, die Kant wenig später den Philosophen zusprach.

Immanuel Kant (1724-1804) ist wohl die Person, deren Namen den engsten Bezug zu Königsberg aufweist. Königsberger aus Überzeugung, tritt er aus der Mischzone der aufgeklärten Gläubigkeit vollends heraus und dekliniert den Kosmos solange durch, bis er ohne äußeren Anlass und Eingriff zu existieren vermochte. Kants geistige Emanzipation definierte sich durch die Verurteilung der "Jugendsklaverei" auf dem pietistisch geprägten "Collegium Fridericanium" und seine Anklage des zur Orthodoxie gewordenen Pietismus. So nennt er den Verstand das Organ der Erkenntnis und die Vernunft das Organ der Moral. Philosophen stehen den Herrschern als Dialogpartner zur Verfügung, wenn diese Zweifel über den rechten Weg haben. Doch nicht als Lehrer und Schüler, wie Sokrates, sondern als Partner. Er ist im Sinne Aristoteles' Republikaner, aber kein Demokrat. Heinrich Heine nannte ihn einst den Alleszermalmer. Friedrich II. nahm von Kant übrigens keine Notiz, was der Autor mit einem generellen Desinteresse an Geist - zumindest im eigenen Land - erklärt. Vermutlich hätte er sich Kant auch ins Französische übersetzen lassen müssen, denn er sprach ja deutsch wie ein Kutscher.

Ein weiterer Königsberger war Johann Georg Hamann (1730-1788), ein Narziss mit Erweckungserlebnis. Die Philosophie ist seiner Ansicht nach die entlaufende Magd der Theologie, und er glaubte sie einfangen zu müssen. So versuchte er auch, Kant zum Verfassen eines gemeinsamen Buches "Philosophie für Kinder" zu bewegen, doch der reagiert nicht einmal.

Johann Gottfried Herder (1744-1803), der Begründer der deutschen Geschichtsphilosophie, wirkte ebenfalls in Königsberg. So schrieb er: "Jede Nation hat den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt." Von außen ist selbst der kulturelle Vergleich schon zweifelhaft, das Einwirken von außen ist in jedem Falle von Übel. Nun bezieht er die "Nation" als kulturelle Einheit sogar auf den zeitlichen Rahmen der Gegenwart und erweitert diesen Imperativ kultureller Identität auf einen zeitlichen Kontext. Dadurch wird die geschichtliche Kontinuität per se (!) als kein erstrebenswertes Gut definiert. Dem Bewahren an sich wird das Bewahren des Bewahrenswerten gegenüber gestellt, und diese Prüfung, was denn aktuell bewahrenswert sei, bedarf einer zeitnahen Prüfung. Das hat hohe politische Aktualität.

Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796) wirkte als Staatsmann, Schriftsteller und Sozialkritiker. So war er u. a. Mitglied der preußischen Landrechtskommission, Stadtrat, Oberbürgermeister und schließlich Stadtpräsident von Königsberg und Freund Immanuel Kants. 1786 erhielt er den Titel eines Geheimen Kriegsrats und Stadtpräsidenten. "Man flechte jeden Bürger in Staats-, in öffentliche Geschäfte ein, und er wird wissen, was zu thun ist." Und weiter: "Es gibt keine Freiheit, die gesetzlos ist; der höchste Grad der Freiheit ist erreicht, wenn sich der Mensch selbst Gesetze gibt, und sie erfüllt; wenn er sich selbst Gesetz ist." Das sind keine guten Aussichten für Könige und Götter sowie deren Bedienstete. In seinen Romanen verbinden sich lyrisch-empfindsame mit humoristischen und philosophisch-lehrhaften Elementen. Bekannt sind außerdem seine geistreichen und witzigen Traktate über die Frage der Frauen. Hippel übte großen Einfluss auf Jean Paul aus.

Heinrich von Kleist (1777-1811) stand ab 1804 in preußischen Diensten und wurde nach Königsberg entsandt, um dort die politische und wirtschaftliche Verwaltung zu studieren und bei Kraus Vorlesungen zu hören. Nach Abschluss dieser "Ausbildung" sollte er die preußische Exklave Ansbach/Bayreuth mit Königsberger Kameralistik reformieren. Doch Kleist zieht es eher zu Literatur, und so betreibt er die Studien nicht sehr nachhaltig, wenngleich ihn der wirtschaftsliberale Kurs zur Novelle "Michael Kohlhaas" inspiriert. "Michael Kohlhaas" ist so gesehen der klassische Vorläufer eines Wirtschaftskrimis, gespeist aus dem wirtschaftsliberalen Klima Königsbergs. Auch "Der zerbrochene Krug" ist ein politisches Stück, thematisiert es doch Korruption staatlicher Organe am Beispiel des Dorfrichters Adam. Doch die staatliche Hierarchie in Person des Gerichtsrats Walter stellt den Sollzustand wieder her und ist somit Garant der staatlichen Integrität. Sogar die Landesverteidigung wird als bürgerlicher Beitrag zum Wohle des Staates gewertet.

E.T.A. Hoffmann wurde 1776 in Königsberg geboren. Er wächst bei Tante und Onkel auf und sehnt sich nach einer richtigen Familie, wie sie sein Freund Theodor Gottlieb Hippel, Neffe des Bürgermeisters Theodor Gottlieb von Hippel (das Register unterscheidet leider nicht zwischen beiden) hat. Er schließt sein Jurastudium an der Albertina mit Bravour ab. 1796 verlässt Hoffman Königsberg und begibt sich nach Glogau, später nach Berlin. Dort durchläuft er die Juristische Laufbahn und wird Mitglied des Oberappellations-Senates am Berliner Kammergericht. Doch bricht sich letztlich auch die Königsberger republikanische Prägung Bahn und beendet sein ohnehin durch Krankheit kaum noch ausgeübtes Richteramt, als er sich dafür einsetzt, dass eine Gesinnung alleine noch nicht strafbar sein könne - auch wenn die Gesinnung noch so lästig sein sollte. Er stirbt am 1822 in Berlin.

Theodor von Schön wurde am 20. Januar 1773 in Ostpreußen geboren und starb am 23. Juli 1856. Zu seinen Lehrern an der Königsberger Universität gehörten Immanuel Kant und vor allem auch Christian Jakob Kraus. 1816 wurde er Oberpräsident von Westpreußen, ab 1824 des vereinigten Preußens. Kantianer durch und durch, hatte er feste Vorstellungen von den Rollen der Monarchie und der Religion in einem Staatsgebilde, die Friedrich Wilhelm auch zu hören bekam. Sein Oberpräsidialrat des katholischen Schul- und Kirchreferats Joseph von Eichendorff musste sich ebenfalls die Frage gefallen lassen, "woher wir denn wüssten, dass das Christentum höher steht als der Buddhismus und der Mohammedanismus. Inspiration könne hierbei nichts entscheiden, dann alle drei Religionen erhöben hierauf Anspruch." Auf diese Antwort wartet die Menschheit immer noch.

Johan Jacoby war Radikaldemokrat aus Königsberg, Abgeordneter in der Paulskirche, im Stuttgarter Rumpfparlament und später im preußischen Abgeordnetenhaus. Den scharfsinnigen Friedrich Wilhelm IV. veranlasste er zu der Einschätzung, Liberale, Demokraten, Juden und Franzosen seien alles ein Gelichter. Und "gegen Demokraten helfen nur Soldaten". Diesen Friedrich Wilhelm IV. kennt man auch unter dem Namen "Romantiker auf dem Thron".

Eduard von Simson war Jurist und Staatsrechtler und wie Jacoby Mitglied zahlreicher Parlamente, die er meist auch präsidierte, Karl Rosenkranz zwischen 1833 und 1848 Ordinarius für Philosophie an der Albertina.

Die wohl bemerkenswerteste Königsbergerin des 20. Jahrhunderts dürfte wohl Hannah Arendt gewesen sein, ganz außergewöhnlich in Bildung und Format. Neben nicht alltäglichen An- und Einsichten zeichnete sie sich durch eine Breite Widersprüchlichkeit aus als beispielsweise atheistische Jüdin oder als treue Anhängerin Heideggers, die Philosophie verehrend, die Person verachtend.

Anfang des 20. Jahrhunderts biegt Königsberg auf die vorläufige Zielgerade seiner Geschichte ein. Man schrammt noch einigermaßen glimpflich am Ersten Weltkrieg vorbei, doch dann sammeln sich auch in Königsberg die nationalsozialistischen Faulgase. Geschichtswissenschaftler wie Hans Rothfels bieten freiwillig pangermanische Theorien an, die den nationalsozialistischen Ideenkontext legitimieren helfen. Die Zahl der letztlich instrumentalisierten Wissenschaftler reicht hin bis hin zu dem Biologen Konrad Lorenz, der wissentlich oder fehlinterpretiert auch den Naziologen zuarbeitete. In politischen Ämtern sind nach 1933 auch Königsberger Nazis anzutreffen. Doch anscheinend statistischen Gesetzen folgend, kommen neben Nazis wie Erich Koch auch Mitverschwörer des 20. Juli 1944 aus den Reihen der Königsberger, so etwa Carl Friedrich Goerdeler. Die nationalsozialistischen Faulgase jedoch machen schließlich ab 1943 in gewaltigen Explosionen 700 Jahre Geschichte und Kultur dem Erdboden gleich. Im April 1945 liegen schließlich 90 Prozent der Innenstadt, 40 Prozent des gesamten Stadtgebiets in Trümmern, derweil sich die Nazibonzen längst aus dem Staub gemacht hatten. Die deutsche Königsberger Bevölkerung muss ab 1945 die Rote Armee erdulden, die in beispielloser Härte den östlichen Außenposten des einstigen Aggressors befällt. Doch einzelne Soldaten, deren Psyche der Krieg aus dem Definitionsbereich hinaus transportierte, befehligt von einer überwiegend stalinistischen Kamarilla, können dafür nur bedingt verantwortlich gemacht werden. Schließlich werden zwischen Oktober 1947 und Oktober 1948 die letzten Deutschen ausgewiesen. Zurück bleibt ein Kaliningrad, das mit dem alten Königsberg nichts mehr zu tun hat.

Fazit:
Was ist das Besondere dieser Stadt? Sind Kants Ideen der Schlüssel oder die schiere Existenz Kants? Hat Kant nur formuliert, was Königsberg ausgebrütet hat? Oder anders formuliert: Wurde Königsberg durch Kant, was es später wurde, oder konnte ein Kant nur in Königsberg gedeihen? Nach der Lektüre dieses umfangreichen, aber höchst gelehrten und angenehmen Buches hat man eine Menge über Königsberg und viele bedeutende und weniger bedeutende Königsberger gelernt. Denn wie sagte Goethe noch: Wer nicht von 3000 Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib' im Dunkeln, unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.

Zwischen der Burggründung im Jahre 1255 und dem Jahre 2005 liegen arithmetische 750 Jahre, doch eine Feier dieser Art fordert zumindest partiell eine Art Kontinuität. 1945 nahezu vollständig in Schutt und Asche gelegt, gestaltet sich der Wiederaufbau nicht im Sinne des vormaligen Königsbergs, wie die dreiteilige Dokumentation des Klaus Bednarz über Ostpreußen zeigte. Der ehemalige Stadtkern weist in Resten alte Bausubstanz auf, besteht aber im Wesentlichen aus Freifläche, breiten Straßen und fantasielosen Monstren in Plattenbauweise. Das alte Königsberg scheint also unwiederbringlich vergangen zu sein. Doch diese Dokumentation zeigte auch, dass die Jugend Kaliningrads wieder von Königsberg spricht und die lange deutsche Geschichte zu kultivieren beginnt. Und so besteht Anlass zur Hoffnung ...

Dem Autor sei ein Dank ausgesprochen für dieses ausgezeichnete Buch. Möge es auch ins Polnische und Russische übersetzt werden und viele aufgeschlossene Leser finden.

(Klaus Prinz; 03/2005)


Jürgen Manthey: "Königsberg"
Hanser, 2005. 736 Seiten.
ISBN 3-446-20619-1.
ca. EUR 30,80.
Buch bei amazon.de bestellen

Lien:
https://www.kaliningrad.info/

Leseprobe:

Alles (fast alles) war anders in Königsberg. Anders als in den Städten vergleichbarer Größe entlang der Küste von Ost- und Nordsee, anders als in den Städten der übrigen ehemaligen Ostprovinzen, ja in Deutschland insgesamt, Berlin darin eingeschlossen. Anders auch als das Bild in unseren Köpfen von dieser alten Hauptstadt Preußens, eines nachher wegen seiner berüchtigten Militärkaste übel beleumundeten und daher 1946 von den Alliierten aufgelösten Staates. Zu den erstaunlichen Besonderheiten bei einer Stadt in so exponierter Lage gehört, daß Königsberg in den knapp 700 Jahren seines Bestehens nicht einmal von außen gewaltsam erobert oder zerstört worden ist. Und das nicht etwa, weil es als Festung uneinnehmbar gewesen wäre - die Verteidigungsanlagen befanden sich zu allen Zeiten in einem erbarmungswürdig schlechten Zustand -, vielmehr dank dem Vermittlungstalent und Verhandlungsgeschick seiner Bürger - sowie den Dukaten aus dem Stadtsäckel.

Was haben wir uns nicht mit politik-verächtlichem, deutsch-mystisch auftrumpfendem Gedankengut (gegen westlichen Liberalismus, englischen Krämergeist und französischen Sansculotismus) abzugeben, sobald wir uns mit deutscher Geschichte vor 1945 (und teils noch danach) beschäftigen. Um dahinter zu kommen, ab wann Deutschland eigene Wege ging - nicht nur der direkten Demokratie-Verhinderung, die gab es woanders auch, sondern einer hinhaltenden Verfassungs-Verweigerung bis in das Jahr 1918 - gerieten wir ständig weiter zurück in die Vergangenheit, hofften dabei immer auch auf Belege für vereitelte Alternativen, hielten nach Plätzen Ausschau, auf denen die Kämpfe für ein anderes, besseres Deutschland ausgetragen worden und verlorengegangen waren.

Und da ist uns entgangen, daß es das alles in gedanklich feinster Ausführung und modellhaft vorgestellter Praxis ausgerechnet in einem Gemeinwesen gegeben hat, dem wir eher zugetraut hätten, eine Bastion des verhaßten reaktionären Preußengeists gewesen zu sein. Wie aber hätte dann Hannah Arendt, Tochter einer jüdischen Königsberger Familie und 1933 nach Frankreich und 1941 in die USA emigriert, bei einem Deutschland-Besuch 1964 erklären können: "In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg."

Obwohl die Stadt Königsberg hieß, waren sich die preußischen Könige, die sich regelmäßig aus Anlaß ihrer Krönung dorthin begaben, dessen bewußt, daß sie die Huldigungszeremonie an einem Ort über sich ergehen ließen, an dem traditionell das Königtum der Hohenzollern (und vorher die absolutistische Herrschaft der Brandenburgischen Kurfürsten) höchst nachdrücklich und kontinuierlich in Frage gestellt wurde. Der "Königsberger Oppositionsgeist", stellt Friedrich Wilhelm IV. 1842 resigniert fest, sei so alt wie die Monarchie in Preußen. In Wirklichkeit war er so alt wie die Stadt selbst. Dieses Königsberg, in dem Kant sein ganzes Leben verbracht hat, Haupt der deutschen Aufklärung und Begründer einer Philosophie als Kritik aller bis dahin für nicht hinterfragbar gehaltenen Systeme; dieser Ursprungsort und Ausgangspunkt grundlegender, weit nach Deutschland und in die Zukunft hineinwirkender Reformen und Anstöße für ein neues, modernes Verständnis von Philosophie, Literatur und Politik; dieses Königsberg ist spätestens 1933, nachdem Kräfte schon vorher darauf hingearbeitet hatten, von der Landkarte der Zivilisation verschwunden. Was an gesellschaftlichen und baulichen Resten von einer großen Tradition der Integration und Toleranz, der Vermittlung und des Austauschs immer auch zwischen Ost und West zeugte - der Dichter Johannes Bobrowski hat in seiner Erzählung "Der Mahner" diese Zeugnisse in einer beeindruckenden Bestandsaufnahme noch einmal mit Blick auf 1933 beschworen -, das ist untergegangen in den Feuersbrünsten der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Es begann mit der Zerstörung der Innenstadt Ende August 1944 durch englische Flieger, wurde fortgesetzt mit dem Beschuß während der langen Belagerung seit Ende Januar 1945 und vollendet durch den sogenannten Sturm, mit dem die Rote Armee zwischen dem 6. und dem 9. April den restlichen Widerstand der von Hitler zur Festung erklärten Stadt brach.

Das frühere nördliche Ostpreußen ist heute ein Teil von Rußland, Königsberg seit 1946 in Kaliningrad umbenannt. Gelegentlich wird dort, meist von offizieller Seite, darauf hingewiesen, die Stadt und der Landstrich, in dem sie liegt, seien ja auch früher schon einmal russisch gewesen. Der Gouverneur des Kaliningrader Gebiets, Wladimir Jeqorow, 2001 in einem "Spiegel"-Gespräch wörtlich: "Übrigens enthielt die ostpreußische Geschichte ja auch ein russisches Element, weil Ostpreußen einst zu Rußland gehörte."

Während des Siebenjährigen Krieges hatten russische Truppen von 1758 bis 1762 ganz Ostpreußen besetzt. Doch beim Tod der Zarin Elisabeth gab ihr Nachfolger Peter III., ein Verehrer von Friedrich II., die bereits in das russische Reich eingegliederte Provinz umgehend an Preußen zurück. Nie vorher und nie wieder sind in Königsberg, zusammen mit den Offizieren der zaristischen Armee, so prächtige Feste gefeiert und so aufwendige Bälle veranstaltet worden wie in dieser Zeit.

Daran mußte ich denken, als ich in Kaliningrad bei einem gemeinsamen Essen, verleitet durch das Gefühl fortschreitender Vertrautheit mit den (unterschiedlichen) Meinungen der Anwesenden, einen ironisch-melancholischen Trinkspruch ausbrachte: Hätte Königsberg nicht 1762 gleich russisch bleiben können (wozu ja wirklich nicht viel gefehlt hat), was wäre der Stadt und den Bewohnern zweihundert Jahre später nicht alles erspart geblieben! Die Reaktion am Tisch ließ, wenn ich freudige Zustimmung erwartet hatte, zu wünschen übrig - vielleicht angesichts der Zustände draußen: den alten Frauen am Straßenrand mit dem Bund Petersilie oder den fünf Äpfeln vor sich, deren Verkaufserlös das tägliche Stück Brot sichern soll, und daneben, gleich um die nächste Ecke, die Villen der Neuen Russen hinter hohen Mauern, bewacht von Leibwächtern mit scharfen Hunden.

Der erweiterten Tischrunde aus dem Kaliningrader Restaurant "Zwölf Stühle" sei dieses Buch gewidmet: Europäer alle, Demokraten, "Westler" (ich habe ihrer Diskussion unmittelbar vor den Gouverneurswahlen im Jahr 2000 zugehört), die sich für das Erlernen der deutschen Sprache einsetzen und um das Gedächtnis der kulturellen Vergangenheit dieser Stadt vor 1933 bemühen, ohne die russische Identität (in ihrer ganz besonderen Kaliningrader Spielart) preiszugeben.

zurück nach oben