Jürgen Manthey: "Königsberg"
Geschichte einer Weltbürgerrepublik
Der 1932 geborene Jürgen Manthey
war Leiter der Literatur-Redaktion beim Hessischen Rundfunk und wirkte später
als Cheflektor und Herausgeber bei Rowohlt. Von 1986 bis 1998 war er Professor für
Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Essen.
Das Jahr 2005 ist ein Jubiläumsjahr für die Stadt Königsberg, auf
deren Territorium im Jahre 1255 auf Geheiß Hochmeisters Hermann von Salza die
Burg Coningsberg errichtet wurde. Doch bereits Anfang des 16. Jahrhunderts
lief der Deutsche Ritterorden zu den Protestanten über, wobei die Migration von
Luther und Melanchthon selbst betreut wurde. Insbesondere die Idee, sich
verheiraten zu dürfen, soll die Zwangsasketen überzeugt haben. Nach der Säkularisierung
der Region entstand das Herzogtum Preußen mit Königsberg als Hauptstadt und
Albrecht in der Rolle des Herzogs. Dieses Königsberg war nicht nur abgelegen,
sondern auch abgeschlossen, eine "höchst unpatriotische Stadt, wo nur
Friedensgedanken herrschen". 1566 kam es zu der einzigen öffentlichen
Hinrichtung in Königsberg, als drei herzogliche Räte als Sündenböcke
herhalten mussten.
Preußen untersteht der polnischen Krone und wird
vom Dreißigjährigen Krieg
durch bewegliche Bündnispolitik verschont, so etwa kurzzeitig auch mit dem
Schweden Gustav Adolf gegen Preußen und Polen. 1701 krönt sich der neuerliche
Friedrich I. selbst und begründet das preußische Königreich. Doch insgesamt
schätzt man sich nicht sehr und geht sich aus dem Weg, die preußischen
Monarchen und die Königsberger Bürger. Königsberg gedeiht in bester Tradition
einer griechischen Polis mit aufgeklärtem Bürgertum, das keines Königs
bedarf, weder eines kriegerischen, noch eines auf der Flöte dilettierenden.
Als 1758 die Russen Königsberg umzingelt hatten, handelten die Bürger
mit dem
russischen General eine friedliche Lösung aus. Dieser zog in die Stadt
ein und
erhielt im Rahmen eines offiziellen Festakts die Stadtschlüssel - und
alles Andere blieb beim Alten, außer dass man für die Dauer der
Besetzung 13 zusätzliche
russische Feiertage beging. Während man in Königsberg die Töchter mit
den
russischen Offizieren tanzen ließ, schickte man woanders die Söhne zu
den
Russen ins Feld, um sie erschlagen zu lassen. Hier fragt man sich,
welcher
Ansatz wohl der intelligentere sei. 1862 zogen die Russen wieder ab,
und die Königsberger
montierten ein paar Schilder ab. Danach kamen die Preußen wieder. 1813
war es
dann an der Zeit, sich von der Landplage
Napoleon zu befreien. Napoleon war der
Anführer eines der fürchterlichen Heuschreckenschwärme, die eine Landschaft
im Nu kahl fressen konnten. Zu dieser Zeit zogen Schwärme in französischem
Tuch durch, in preußischem, wieder französischem, dann russischem.
Königsberg wurde zum politischen Laboratorium des 18. und 19. Jahrhunderts,
Brutstätte eines aufgeklärten Bürgertums und vieler demokratischer Reformen.
Die auf Selbstverwaltung basierende demokratische Verfassung der Städte unserer
Zeit hat ihren Ursprung im Königsberg um 1808. Grundlage waren die Ideen eines
Immanuel Kant und eines Adam Smith, gepredigt von Kant und seinem überragenden
Schüler Christian Jakob Kraus, den Kant "für einen der größten Köpfe
hielt, welche die hervorgebracht habe".
Doch Kant voraus ging Johann Christoph Gottsched (1700-1766), der in Königsberg
studierte hatte. Der Sohn eines Pfarrers besuchte bereits mit 14 Jahren die
Universität in Königsberg; neben der Theologie interessierten ihn Philosophie,
Mathematik, Physik, klassische Philologie, Poesie und Rhetorik; schon 1719
verteidigte er seine erste Dissertation (über ein meteorologisch-physikalisches
Thema). Wegen der drohenden Zwangsrekrutierung durch preußische Werber floh er
1724 mit seinem Bruder Johann Friedrich nach Leipzig. Seit dem Sommer 1725 hielt
er dort Vorlesungen über Schöne Wissenschaften und die Philosophie Christian
Wolffs. 1730 wurde er außerordentlicher, also unbezahlter, Professor für
Poesie, 1734 schließlich ordentlicher Professor für Logik und Metaphysik. Er
war ein Wegbereiter einer deutschen Nationalliteratur, wofür
Lessing wohl überwiegend
geehrt wird. Er redete einer mit bürgerlichen Elementen durchsetzten Monarchie
das Wort. Aufgabe der Literatur wiederum sei es in diesem Szenarium, die
Potentaten zu beraten, eine Aufgabe, die Kant wenig später den Philosophen
zusprach.
Immanuel Kant (1724-1804) ist wohl die Person, deren Namen den engsten Bezug zu
Königsberg aufweist. Königsberger aus Überzeugung, tritt er aus der Mischzone
der aufgeklärten Gläubigkeit vollends heraus und dekliniert den Kosmos solange
durch, bis er ohne äußeren Anlass und Eingriff zu existieren vermochte. Kants
geistige Emanzipation definierte sich durch die Verurteilung der
"Jugendsklaverei" auf dem pietistisch geprägten "Collegium
Fridericanium" und seine Anklage des zur Orthodoxie gewordenen Pietismus.
So nennt er den Verstand das Organ der Erkenntnis und die Vernunft das Organ der
Moral. Philosophen stehen den Herrschern als Dialogpartner zur Verfügung, wenn
diese Zweifel über den rechten Weg haben. Doch nicht als Lehrer und Schüler,
wie Sokrates, sondern als Partner. Er ist im Sinne Aristoteles' Republikaner,
aber kein Demokrat. Heinrich Heine nannte ihn einst den Alleszermalmer.
Friedrich II. nahm von Kant übrigens keine Notiz, was der Autor mit einem
generellen Desinteresse an Geist - zumindest im eigenen Land - erklärt.
Vermutlich hätte er sich Kant auch ins Französische übersetzen lassen müssen,
denn er sprach ja deutsch wie ein Kutscher.
Ein weiterer Königsberger war Johann Georg Hamann (1730-1788), ein
Narziss mit Erweckungserlebnis. Die Philosophie ist seiner Ansicht nach die
entlaufende Magd der Theologie, und er glaubte sie einfangen zu müssen. So
versuchte er auch, Kant zum Verfassen eines gemeinsamen Buches "Philosophie für
Kinder" zu bewegen, doch der reagiert nicht einmal.
Johann Gottfried Herder (1744-1803), der Begründer der deutschen
Geschichtsphilosophie, wirkte ebenfalls in Königsberg. So schrieb er:
"Jede Nation hat den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit in sich, wie jede
Kugel ihren Schwerpunkt." Von außen ist selbst der kulturelle Vergleich
schon zweifelhaft, das Einwirken von außen ist in jedem Falle von Übel. Nun
bezieht er die "Nation" als kulturelle Einheit sogar auf den
zeitlichen Rahmen der Gegenwart und erweitert diesen Imperativ kultureller
Identität auf einen zeitlichen Kontext. Dadurch wird die geschichtliche
Kontinuität per se (!) als kein erstrebenswertes Gut definiert. Dem Bewahren an
sich wird das Bewahren des Bewahrenswerten gegenüber gestellt, und diese Prüfung,
was denn aktuell bewahrenswert sei, bedarf einer zeitnahen Prüfung. Das hat
hohe politische Aktualität.
Theodor Gottlieb von Hippel (1741-1796) wirkte als Staatsmann, Schriftsteller
und Sozialkritiker. So war er u. a. Mitglied der preußischen
Landrechtskommission, Stadtrat, Oberbürgermeister und schließlich Stadtpräsident
von Königsberg und Freund Immanuel Kants. 1786 erhielt er den Titel eines
Geheimen Kriegsrats und Stadtpräsidenten. "Man flechte jeden Bürger in
Staats-, in öffentliche Geschäfte ein, und er wird wissen, was zu thun
ist." Und weiter: "Es gibt keine Freiheit, die gesetzlos ist; der höchste
Grad der Freiheit ist erreicht, wenn sich der Mensch selbst Gesetze gibt, und
sie erfüllt; wenn er sich selbst Gesetz ist." Das sind keine guten
Aussichten für Könige und Götter sowie deren Bedienstete. In seinen Romanen
verbinden sich lyrisch-empfindsame mit humoristischen und
philosophisch-lehrhaften Elementen. Bekannt sind außerdem seine geistreichen
und witzigen Traktate über die Frage der Frauen. Hippel übte großen Einfluss
auf Jean Paul aus.
Heinrich von Kleist (1777-1811) stand ab 1804
in preußischen Diensten und wurde nach Königsberg entsandt, um dort die politische
und wirtschaftliche Verwaltung zu studieren und bei Kraus Vorlesungen zu hören.
Nach Abschluss dieser "Ausbildung" sollte er die preußische Exklave Ansbach/Bayreuth
mit Königsberger Kameralistik reformieren. Doch Kleist zieht es eher zu Literatur,
und so betreibt er die Studien nicht sehr nachhaltig, wenngleich ihn der wirtschaftsliberale
Kurs zur Novelle "Michael Kohlhaas" inspiriert. "Michael Kohlhaas" ist so gesehen
der klassische Vorläufer eines Wirtschaftskrimis, gespeist aus dem wirtschaftsliberalen
Klima Königsbergs. Auch "Der zerbrochene Krug" ist ein politisches Stück, thematisiert
es doch Korruption staatlicher Organe am Beispiel des Dorfrichters Adam. Doch
die staatliche Hierarchie in Person des Gerichtsrats Walter stellt den Sollzustand
wieder her und ist somit Garant der staatlichen Integrität. Sogar die Landesverteidigung
wird als bürgerlicher Beitrag zum Wohle des Staates gewertet.
E.T.A. Hoffmann wurde 1776 in Königsberg geboren. Er wächst bei Tante und
Onkel auf und sehnt sich nach einer richtigen Familie, wie sie sein Freund
Theodor Gottlieb Hippel, Neffe des Bürgermeisters Theodor Gottlieb von Hippel
(das Register unterscheidet leider nicht zwischen beiden) hat. Er schließt sein
Jurastudium an der Albertina mit Bravour ab. 1796 verlässt Hoffman Königsberg
und begibt sich nach Glogau, später nach Berlin. Dort durchläuft er die
Juristische Laufbahn und wird Mitglied des Oberappellations-Senates am Berliner
Kammergericht. Doch bricht sich letztlich auch die Königsberger republikanische
Prägung Bahn und beendet sein ohnehin durch Krankheit kaum noch ausgeübtes
Richteramt, als er sich dafür einsetzt, dass eine Gesinnung alleine noch nicht
strafbar sein könne - auch wenn die Gesinnung noch so lästig sein sollte. Er
stirbt am 1822 in Berlin.
Theodor von Schön wurde am 20. Januar 1773 in Ostpreußen geboren und starb am
23. Juli 1856. Zu seinen Lehrern an der Königsberger Universität gehörten
Immanuel Kant und vor allem auch Christian Jakob Kraus. 1816 wurde er Oberpräsident
von Westpreußen, ab 1824 des vereinigten Preußens. Kantianer durch und durch,
hatte er feste Vorstellungen von den Rollen der Monarchie und der Religion in
einem Staatsgebilde, die Friedrich Wilhelm auch zu hören bekam. Sein Oberpräsidialrat
des katholischen Schul- und Kirchreferats Joseph von Eichendorff musste sich
ebenfalls die Frage gefallen lassen, "woher wir denn wüssten, dass das
Christentum höher steht als der Buddhismus und der Mohammedanismus. Inspiration
könne hierbei nichts entscheiden, dann alle drei Religionen erhöben hierauf
Anspruch." Auf diese Antwort wartet die Menschheit immer noch.
Johan Jacoby war Radikaldemokrat aus Königsberg, Abgeordneter in der
Paulskirche, im Stuttgarter Rumpfparlament und später im preußischen
Abgeordnetenhaus. Den scharfsinnigen Friedrich Wilhelm IV. veranlasste er zu der
Einschätzung, Liberale, Demokraten, Juden und Franzosen seien alles ein
Gelichter. Und "gegen Demokraten helfen nur Soldaten". Diesen
Friedrich Wilhelm IV. kennt man auch unter dem Namen "Romantiker auf dem
Thron".
Eduard von Simson war Jurist und Staatsrechtler und wie Jacoby Mitglied
zahlreicher Parlamente, die er meist auch präsidierte, Karl Rosenkranz zwischen
1833 und 1848 Ordinarius für Philosophie an der Albertina.
Die wohl bemerkenswerteste Königsbergerin des 20. Jahrhunderts dürfte wohl
Hannah Arendt gewesen sein, ganz außergewöhnlich in Bildung und Format. Neben
nicht alltäglichen An- und Einsichten zeichnete sie sich durch
eine Breite Widersprüchlichkeit aus als beispielsweise atheistische Jüdin oder
als treue Anhängerin Heideggers, die Philosophie verehrend, die Person
verachtend.
Anfang des 20. Jahrhunderts biegt Königsberg auf die vorläufige Zielgerade
seiner Geschichte ein. Man schrammt noch einigermaßen glimpflich am Ersten
Weltkrieg vorbei, doch dann sammeln sich auch in Königsberg die
nationalsozialistischen Faulgase. Geschichtswissenschaftler wie Hans Rothfels
bieten freiwillig pangermanische Theorien an, die den nationalsozialistischen
Ideenkontext legitimieren helfen. Die Zahl der letztlich instrumentalisierten
Wissenschaftler reicht hin bis hin zu dem Biologen
Konrad
Lorenz, der
wissentlich oder fehlinterpretiert auch den Naziologen zuarbeitete. In
politischen Ämtern sind nach 1933 auch Königsberger Nazis anzutreffen. Doch
anscheinend statistischen Gesetzen folgend, kommen neben Nazis wie Erich Koch auch
Mitverschwörer des
20. Juli 1944 aus den Reihen der Königsberger, so etwa Carl
Friedrich Goerdeler. Die nationalsozialistischen Faulgase jedoch machen schließlich
ab 1943 in gewaltigen Explosionen 700 Jahre Geschichte und Kultur dem Erdboden
gleich. Im April 1945 liegen schließlich 90 Prozent der Innenstadt, 40 Prozent
des
gesamten Stadtgebiets in Trümmern, derweil sich die Nazibonzen längst aus dem
Staub gemacht hatten. Die deutsche Königsberger Bevölkerung muss ab 1945 die
Rote Armee erdulden, die in beispielloser Härte den östlichen Außenposten des
einstigen Aggressors befällt. Doch einzelne Soldaten, deren Psyche der Krieg
aus dem Definitionsbereich hinaus transportierte, befehligt von einer überwiegend
stalinistischen Kamarilla, können dafür nur bedingt verantwortlich gemacht
werden. Schließlich werden zwischen Oktober 1947 und Oktober 1948 die letzten
Deutschen ausgewiesen. Zurück bleibt ein Kaliningrad, das mit dem alten Königsberg
nichts mehr zu tun hat.
Fazit:
Was ist das Besondere dieser Stadt? Sind Kants Ideen der Schlüssel oder die
schiere Existenz Kants? Hat Kant nur formuliert, was Königsberg ausgebrütet
hat? Oder anders formuliert: Wurde Königsberg durch Kant, was es später wurde,
oder konnte ein Kant nur in Königsberg gedeihen? Nach der Lektüre dieses
umfangreichen, aber höchst gelehrten und angenehmen Buches hat man eine Menge
über Königsberg und viele bedeutende und weniger bedeutende Königsberger
gelernt. Denn wie sagte Goethe noch: Wer nicht von 3000 Jahren sich weiß
Rechenschaft zu geben, bleib' im Dunkeln, unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.
Zwischen der Burggründung im Jahre 1255 und dem Jahre 2005 liegen arithmetische
750 Jahre, doch eine Feier dieser Art fordert zumindest partiell eine Art
Kontinuität. 1945 nahezu vollständig in Schutt und Asche gelegt, gestaltet
sich der Wiederaufbau nicht im Sinne des vormaligen Königsbergs, wie die
dreiteilige Dokumentation des
Klaus Bednarz über Ostpreußen zeigte. Der
ehemalige Stadtkern weist in Resten alte Bausubstanz auf, besteht aber im
Wesentlichen aus Freifläche, breiten Straßen und fantasielosen Monstren in
Plattenbauweise. Das alte Königsberg scheint also unwiederbringlich vergangen
zu sein. Doch diese Dokumentation zeigte auch, dass die Jugend Kaliningrads
wieder von Königsberg spricht und die lange deutsche Geschichte zu kultivieren
beginnt. Und so besteht Anlass zur Hoffnung ...
Dem Autor sei ein Dank ausgesprochen für dieses ausgezeichnete Buch. Möge es
auch ins Polnische und Russische übersetzt werden und viele aufgeschlossene
Leser finden.
(Klaus Prinz; 03/2005)
Jürgen Manthey: "Königsberg"
Hanser, 2005. 736 Seiten.
ISBN 3-446-20619-1.
ca. EUR 30,80.
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Lien:
https://www.kaliningrad.info/
Leseprobe:
Alles (fast alles) war anders in Königsberg. Anders als in den Städten
vergleichbarer Größe entlang der Küste von Ost- und Nordsee, anders als in
den Städten der übrigen ehemaligen Ostprovinzen, ja in Deutschland insgesamt,
Berlin darin eingeschlossen. Anders auch als das Bild in unseren Köpfen von
dieser alten Hauptstadt Preußens, eines nachher wegen seiner berüchtigten
Militärkaste übel beleumundeten und daher 1946 von den Alliierten aufgelösten
Staates. Zu den erstaunlichen Besonderheiten bei einer Stadt in so exponierter
Lage gehört, daß Königsberg in den knapp 700 Jahren seines Bestehens nicht
einmal von außen gewaltsam erobert oder zerstört worden ist. Und das nicht
etwa, weil es als Festung uneinnehmbar gewesen wäre - die
Verteidigungsanlagen befanden sich zu allen Zeiten in einem erbarmungswürdig
schlechten Zustand -, vielmehr dank dem Vermittlungstalent und
Verhandlungsgeschick seiner Bürger - sowie den Dukaten aus dem Stadtsäckel.
Was haben wir uns nicht mit politik-verächtlichem, deutsch-mystisch auftrumpfendem
Gedankengut (gegen westlichen Liberalismus, englischen Krämergeist und französischen
Sansculotismus) abzugeben, sobald wir uns mit
deutscher
Geschichte vor 1945 (und teils noch danach) beschäftigen. Um dahinter zu
kommen, ab wann Deutschland eigene Wege ging - nicht nur der direkten Demokratie-Verhinderung,
die gab es woanders auch, sondern einer hinhaltenden Verfassungs-Verweigerung
bis in das Jahr 1918 - gerieten wir ständig weiter zurück in die Vergangenheit,
hofften dabei immer auch auf Belege für vereitelte Alternativen, hielten nach
Plätzen Ausschau, auf denen die Kämpfe für ein anderes, besseres Deutschland
ausgetragen worden und verlorengegangen waren.
Und da ist uns entgangen, daß es das alles in gedanklich feinster Ausführung
und modellhaft vorgestellter Praxis ausgerechnet in einem Gemeinwesen gegeben
hat, dem wir eher zugetraut hätten, eine Bastion des verhaßten reaktionären
Preußengeists gewesen zu sein. Wie aber hätte dann Hannah Arendt, Tochter
einer jüdischen Königsberger Familie und 1933 nach Frankreich und 1941 in die
USA emigriert, bei einem Deutschland-Besuch 1964 erklären können: "In meiner
Art zu denken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg."
Obwohl die Stadt Königsberg hieß, waren sich die preußischen Könige, die sich
regelmäßig aus Anlaß ihrer Krönung dorthin begaben, dessen bewußt, daß sie die
Huldigungszeremonie an einem Ort über sich ergehen ließen, an dem traditionell
das Königtum der Hohenzollern (und vorher die absolutistische Herrschaft der
Brandenburgischen Kurfürsten) höchst nachdrücklich und kontinuierlich in Frage
gestellt wurde. Der "Königsberger Oppositionsgeist", stellt Friedrich Wilhelm
IV. 1842 resigniert fest, sei so alt wie die Monarchie in Preußen. In Wirklichkeit
war er so alt wie die Stadt selbst. Dieses Königsberg, in dem Kant sein ganzes
Leben verbracht hat, Haupt der deutschen Aufklärung und Begründer einer Philosophie
als Kritik aller bis dahin für nicht hinterfragbar gehaltenen Systeme; dieser
Ursprungsort und Ausgangspunkt grundlegender, weit nach Deutschland und in die
Zukunft hineinwirkender Reformen und Anstöße für ein neues, modernes Verständnis
von Philosophie, Literatur und Politik; dieses Königsberg ist spätestens 1933,
nachdem Kräfte schon vorher darauf hingearbeitet hatten, von der Landkarte der
Zivilisation verschwunden. Was an gesellschaftlichen und baulichen Resten von
einer großen Tradition der Integration und Toleranz, der Vermittlung und des
Austauschs immer auch zwischen Ost und West zeugte - der Dichter Johannes Bobrowski
hat in seiner Erzählung "Der Mahner" diese Zeugnisse in einer beeindruckenden
Bestandsaufnahme noch einmal mit Blick auf 1933 beschworen -, das ist untergegangen
in den Feuersbrünsten der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs. Es begann mit
der Zerstörung der Innenstadt Ende August 1944 durch englische Flieger, wurde
fortgesetzt mit dem Beschuß während der langen Belagerung seit Ende Januar 1945
und vollendet durch den sogenannten Sturm, mit dem die Rote Armee zwischen dem
6. und dem 9. April den restlichen Widerstand der von
Hitler
zur Festung erklärten Stadt brach.
Das frühere nördliche Ostpreußen ist heute ein Teil von Rußland, Königsberg
seit 1946 in Kaliningrad umbenannt. Gelegentlich wird dort, meist von
offizieller Seite, darauf hingewiesen, die Stadt und der Landstrich, in dem sie
liegt, seien ja auch früher schon einmal russisch gewesen. Der Gouverneur des
Kaliningrader Gebiets, Wladimir Jeqorow, 2001 in einem "Spiegel"-Gespräch wörtlich:
"Übrigens enthielt die ostpreußische Geschichte ja auch ein russisches
Element, weil
Ostpreußen einst zu Rußland gehörte."
Während des Siebenjährigen Krieges hatten russische Truppen von 1758 bis 1762
ganz Ostpreußen besetzt. Doch beim Tod der Zarin Elisabeth gab ihr Nachfolger
Peter III., ein Verehrer von
Friedrich II., die bereits in das russische Reich
eingegliederte Provinz umgehend an Preußen zurück. Nie vorher und nie wieder
sind in Königsberg, zusammen mit den Offizieren der zaristischen Armee, so prächtige
Feste gefeiert und so aufwendige Bälle veranstaltet worden wie in dieser Zeit.
Daran mußte ich denken, als ich in Kaliningrad bei einem gemeinsamen
Essen,
verleitet durch das Gefühl fortschreitender Vertrautheit mit den
(unterschiedlichen) Meinungen der Anwesenden, einen
ironisch-melancholischen
Trinkspruch ausbrachte: Hätte Königsberg nicht 1762 gleich russisch
bleiben können
(wozu ja wirklich nicht viel gefehlt hat), was wäre der Stadt und den
Bewohnern
zweihundert Jahre später nicht alles erspart geblieben! Die Reaktion am
Tisch
ließ, wenn ich freudige Zustimmung erwartet hatte, zu wünschen übrig -
vielleicht angesichts der Zustände draußen: den alten Frauen am
Straßenrand
mit dem Bund Petersilie oder den fünf Äpfeln vor sich, deren Verkaufserlös
das tägliche Stück
Brot sichern soll, und daneben, gleich um die nächste
Ecke, die Villen der Neuen Russen hinter hohen Mauern, bewacht von Leibwächtern
mit scharfen Hunden.
Der erweiterten Tischrunde aus dem Kaliningrader Restaurant "Zwölf Stühle"
sei dieses Buch gewidmet: Europäer alle, Demokraten, "Westler" (ich habe
ihrer Diskussion unmittelbar vor den Gouverneurswahlen im Jahr 2000 zugehört),
die sich für das Erlernen der deutschen Sprache einsetzen und um das Gedächtnis
der kulturellen Vergangenheit dieser Stadt vor 1933 bemühen, ohne die russische
Identität (in ihrer ganz besonderen Kaliningrader Spielart) preiszugeben.