Johanna König: "Das Tuch"


"Dem Tod waren andere Empfindungen vertraut. Wut kannte er, Bedauern, Einsamkeit und Trauer. Aber am geläufigsten war ihm die Langeweile. Sie war es auch, die er am meisten hasste. Die Langeweile plagte ihn viele Zeitschichten hindurch. Kontinuierlich kämpfte er gegen sie an, durch das Erfinden von allerlei Spielen. Seine Art zu spielen war seltsam. Für die Menschen stellten sich diese Spiele verschiedentlich dar. Meistens grausam und unerbittlich."

Eine Schnitzeljagd zwischen Wien, Südengland und Venedig, inszeniert vom Schnitter Tod

"Tuch: Das auf das dt. und niederl. Sprachgebiet beschränkte Wort (mhd., ahd. tuoch, niederl. doek) ist dunklen Ursprungs. Die im Dt. üblichen verschiedenen Pluralformen 'Tuche' "Tucharten" und 'Tücher' "Tuchstücke" (für einen bestimmten Zweck) sind erst im 19. Jh. streng geschieden worden (...)" - soweit das Duden-Herkunftswörterbuch.

In Johanna Königs Roman "Das Tuch" ist der Ursprung nämlichen Tuches zwar kein dunkler, jedoch hat es mit dem titelgebenden Stück eines Hemdes eine ganz besondere Bewandtnis, tropften doch einst Tränen des Todes, die er eines von seiner Mutter getöteten Mädchens wegen vergoss, darauf ("In diesem Tuch ist die Zeit aller Dinge eingewoben, mit meinen Tränen versiegelt.")


Johanna König am 21. November 2004 im Rahmen 
der "Buchwoche" im Wiener Rathaus (Foto: Doris Krestan)

Dass sich der Tod einem kurzweiligen Spielchen nicht abgeneigt zeigt, zumal in Wien, ist aus mancherlei Sagen bekannt, man denke nur an die schaurige Kegelpartie im Stephansturm!
Die Handlung von "Das Tuch" spannt auf mehreren Ebenen einen Bogen ausgehend von einem Ereignis zur Zeit der Pestepidemie im Venedig des Jahres 1348 bis zur Gegenwart, wobei das Tuch einer von vier antiken Gegenständen, die zum Spiel des Todes gehören, ist.

Menschen sind Statisten auf der Bühne des Lebens, manche von ihnen dem Tod unterhaltsamer als andere.
In "Das Tuch" erweist sich der Tod als Kenner und greift mithilfe von Traumvisionen nach der hübschen, mutigen Judith Vielhaber, die er zur Mitspielerin erwählt. Der Einsatz: Judiths Leben.
Tuch, Vase, Federkiel und Spiegel, geheimnisvolles Zubehör des Spieles, verleihen einigen unfreiwilligen Mitspielern das trügerische Gefühl, scheinbar Macht über Leben und Sterben ihrer Mitmenschen zu besitzen - sie alle erliegen der verführerischen Verlockung der dunklen Seite ...
Selbstredend versteht sich der Tod darauf, die auserkorenen Mitspieler gefügig zu machen, die Regeln nach seinem Geschmack und Gutdünken aufzustellen oder umzuwerfen, ganz wie es ihm gefällt.

Irgendwo im Labyrinth der Katakomben unterhalb des Wiener Stephansdoms zieht im Eröffnungskapitel, "Die Totenstadt" betitelt, Simon Anderwald, ein unglücklicher Tagträumer, ein blutbeflecktes, augenscheinlich altes Stück Stoff aus einem ungewöhnlich großen Totenkopf. Was der bis auf seine strengen Ausdünstungen eher unscheinbare Aufseher gefunden hat ist nichts Geringeres als jenes Tuch, das einst der Tod höchstpersönlich dort deponierte, bis die Zeit für das Spiel reif sein würde.
Unversehens nimmt eine schicksalhafte Verkettung von Ereignissen ihren Lauf, während das Tuch mehrmals den Besitzer wechselt. Zunächst stirbt Simon Anderwald, der Antiquitätenhändler Gabriel Monsan verliert seine Seele und seine Frau ihr Leben, Judiths Freundin Editia Glanz empfängt auf dem Bildschirm ihres Computers eine unmissverständliche Warnung, welche sie Judith unverzüglich überbringt. Gabriel Monsan stirbt in England durch Blitzschlag, die nächste Station Judiths auf der Suche nach dem Tuche ist Venedig, wo die junge Frau ihren treuen Mitstreiter und Gefährten namens David Burgart erkennt, dessen Koch infolge des Hantierens mit den magischen Gegenständen Selbstmord begeht (der Titel dieses Kapitels lautet übrigens "Orales Desaster").
"Kreuzhaus, Mädchen, Tuch ... such', Judith ... such' ..." - so die Mahnung des Todes an seine Gespielin, woraufhin Judith und David gewissermaßen Himmel und Hölle in Bewegung setzen und es in einer entweihten Kirche zum alles entscheidenden Spielzug kommt.

"Das Tuch" ist keine Neuauflage des ewigen Kampfes von Gut und Böse, sondern eine flotte Abfolge von Szenen, welche den Menschen als Spielball höherer Mächte zeigen.
Passagen, die Johanna Königs Rechercheergebnisse und poetische Ausführungen (beispielsweise über Ratten, Engel, Pest) beinhalten, bewirken ein gewisses Innehalten, Unterbrechen der Romanhandlung, und man stellt fest, dass das nur wenig mehr als 150 Seiten umfassende Buch prall gefüllt ist mit dichten Beschreibungen und Betrachtungen, wobei der Hauch der unausweichlichen Vorherbestimmtheit jeder Fügung sämtliche Kapitel durchdringt: Schicksalsergeben spielen die Protagonisten die ihnen vom Tod zugedachten Rollen, und letztendlich ist selbst der Tod kein von Bedürfnissen freier Akteur auf seinem Spielfeld.

Obzwar die Wurzeln von "Das Tuch" Ferdinand Raimunds Schaffen berühren, weisen die enge Handlungsführung einerseits und das absehbare Ende andererseits den Roman als Vertreter des zeitgenössischen Spannungsliteraturgenres aus. Ingesamt ist "Das Tuch" ein durchgehend kurzweiliges und stellenweise hochsensibles Stück Literatur.

Das letzte Wort gebührt - wie könnte es anders sein - dem Schnitter Tod:
"Doch du weißt, eines Tages trage ich auch dein Leben fort. Wo also liegt dein Gewinn? Im Jetzt. Ja, natürlich. Das Jetzt ist gut für dich. Lebe es, du hast es verdient ..."

(kre; 11/2004)


Johanna König: "Das Tuch"
Hermagoras, 2004. 158 Seiten.
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