Paula Köhlmeier: "Maramba"


"Die Kinder saßen still beisammen und waren traurig; sie hatten alles, was nur ein Kind sich wünschen mag: gute Eltern, die kostbarsten Spielsachen, die schönsten Kleider, wohlschmeckende Speisen und Getränke, und durften tagtäglich in dem schönen Garten spielen - sie waren traurig, obschon sie nicht wussten, warum, und nicht wussten, was ihnen fehle."
(Aus "Des Märchens Geburt" von Ludwig Bechstein)

47 mit Alltagspoesie gefüllte Prosapralinen

Paula Köhlmeier, 1982 geboren, war die Tochter der Schriftsteller Monika Helfer und Michael Köhlmeier. Sie besuchte das Gymnasium in Dornbirn, nach einem Praktikum als Pflegehelferin im Krankenhaus Hohenems verbrachte sie acht Monate in Mexiko, anschließend studierte sie in Wien an der Filmakademie und arbeitete als PR-Agentin und Filmvorführerin, wollte jedoch eigenen Aussagen nach stets Schriftstellerin werden.

"Zum ersten Abschied sagte er: 'Maramba'. Er sagte: 'Maramba ist ein Gefühl.' Für das es kein Wort gibt, meinte er. Ein Gefühl, das man nicht erklären kann und das nur er hat. Meinte er."
(Aus der Titelgeschichte)

Im Jahr 2002 erhielt Paula Köhlmeier das mit 6.550 Euro dotierte Vorarlberger Literaturstipendium. Die Begründung der Jury lautete: "Es handelt sich um eine ungemein atmosphärische, manchmal sehr zarte Prosa. Sie ist getragen von einer Sprachprägnanz ohne unnötige Zutaten, die poetische Wirkung wird durch unprätentiös und minimalistisch eingesetzte Stilmittel erzeugt. Aus überzeugender literarischer Kompetenz heraus werden Alltagsvorgänge mental und emotional authentisch versprachlicht. Besonders dicht und berührend sind die dialogischen Passagen in Paula Köhlmeiers Texten."
Dass es sich bei der Verfasserin des Texts Nummer 19 um die Tochter des bekannten Schriftstellerpaares handelte, überraschte die Jury nachträglich, denn die eingereichten Bewerbungen waren selbstverständlich anonymisiert zur Beurteilung vorgelegt worden.

Die als große Nachwuchshoffnung in der deutschsprachigen Literaturszene geltende Paula Köhlmeier starb im Alter von 21 Jahren am 22. August 2003 im Landeskrankenhaus Feldkirch. Sie erlag den schweren Kopfverletzungen, die sie sich bei einem Absturz auf dem Weg zur Burgruine Alt-Ems in Hohenems zugezogen hatte.

Aus ihrem literarischen Nachlass stellten Monika Helfer und Michael Köhlmeier "Maramba", eine Reihe von 47 Kurzprosastücken, zusammen, deren Titel wie folgt lauten:
Tagebuch einer Verrückten; Der eine und der andere; Maramba; Das Postkartenmeer; Gleichgewichtsstörungen; Die Geschichte von Leo Lionni; Die Gräfin; Altes Fleisch; Renata Theobaldi; Die Stadt; Das Pop; Ein Freund; Talent zum Glück; Ein schwarzer Käfer; Pyjamawelt voller Schuhverkäuferinnen; Medizinberg; Ich bin eine Diebin; Als Rudolf verrückt wurde; Die Geliebte; Über die Frau in dem roten Wollrock; No One Put Flowers On Flowers; Italien; Die Niere; Schlechte Zähne; Alter; Sie findet ihre Schlüssel nicht; Frau Simon; Für eine Zigarette 5 Minuten; Anzüge; Richard; Frau im Zug; Der mit den schwarzen Haaren und den vielen Tätowierungen; Weißer VW; Herr Edgar Mandel; Wer nichts ist, ist was nicht?; Vom Mann, der sich in alle Richtungen dreht; Eine Frau geht ohne Schirm im Regen; Ein Brief an dich; Alles beginnt; Tabasco; Jacob Corena; Wir alle wollen an nichts denken; Geschichte von Pablo; Ausdruck des Menschen; Es ist vorbei; Mein Talent zum Glück; Von Menschen, die sich fressen oder All you can eat.

Für jemanden, der nicht gleich das ganze Leben, vielleicht aber dieses Buch als Bonbonnière sehen möchte, bietet "Maramba" zartbittere Gegenwartsimpressionen, manche davon mit überraschenden Einsprengseln, mit autobiografischen Elementen durchsetzte Häppchen, in Alltagspoesie oder auch Tristesse eingebettete Momentaufnahmen.
Als durchgehend verwendete Stilmittel dienen vor allem innere Monologe, knappe Dialoge und auf das Wesentliche reduzierte kreative  Beschreibungen (z.B. in Form von Wortschöpfungen). Viele der vornehmlich kurzatmig flackernden Sätze wirken wie hastig gesetzte Nadelstiche eines unruhigen Zickzackmusters auf Stoffresten, aus denen eine tröstliche Flickendecke für einsame Stunden angefertigt wird, oder wie in Drehbuchsprache eingefrorene Skizzen.

Atmosphärisch der Prosa Aglaja Veteranyis verwandt, allerdings gewissermaßen den umgekehrten Weg gehend, entsteht ein sich mit jedem Kapitel engmaschiger knüpfendes Netz aus lose verbundenen Geschichten. Während bei Aglaja Veteranyi eine Entwicklung der Ereignisse von Innen nach Außen festzustellen ist, entfalten sich Paula Köhlmeiers Texte auf Grundlage genau registrierter Sinneseindrücke im Wechselspiel mit Gedankengängen. Aus wenigen Worten entstehen kleine dichte Szenen bzw. Skizzen von filmischer Präzision. Unablässiges Vorwärtsdrängen und frostige Passivität prägen abwechselnd den Erzählduktus, es finden sich jedoch auch Momente eines scheu nach Nestwärme Ausschau haltenden Humors. Jugendlichen Überschwang, wie er oftmals das Schreiben anderer Autoren dieser Generation beeinflusst, sucht man in "Maramba" vergebens.

Paula Köhlmeiers unterkühlt-distanzierte Sprache besticht durch Exaktheit sowie unaufgeregten Fluss und bildet treffsicher das landläufig temperamentlose Aneinandervorbeireden ab.
"Maramba" beginnt mit einem Doppelmord und endet mit einem Mord. Es wird viel geraucht und gekifft, Kaffee getrunken, herumgesessen und geredet; nicht immer wird tatsächlich viel gesagt. Man trifft auf Verlassene, Betrüger und Betrogene, Reisende, Suchende in flüchtigen Begegnungen, auf Fordernde, Wartende und Streitende in Momenten der Eifersucht, auf schmerzlicher Einsamkeit Verfallene voller Überdruss, und wiederholt ist von Selbstmördern die Rede.

Im Mittelpunkt der 47 Texte stehen einzelne (bzw. vereinzelte), in ihrem Scheitern eingekapselte Menschen, deren Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume und Enttäuschungen, diese häufig auf der bereits erwähnten Kommunikationsunfähigkeit der Protagonisten fußend, wobei aus dem Spannungsfeld zwischen "Wortkargheit", welche dem inneren Erleben nicht abträglich sein muss, und äußerlicher wie innerlicher "Wortarmut" entlarvende Dialoge resultieren und die Figuren auffallend wenig Teilnahme an ihrem Geschick erkennen lassen.
Neben "nicht wiederbefüllbaren Einwegcharakteren" treten andere mehrmals in Erscheinung, darunter Rutha, das sensible, widerspenstige alter ego der Autorin.

Paula Köhlmeier hat die Menschen auf der Suche nach Geschichten durchleuchtet, Eindrücke und Beobachtungen durch ihren Sprachfilter gepresst und die solcherart verdichteten Produkte konserviert, wobei die permanente wechselseitige Durchdringung von Erleben und Schreiben eine berückende Unmittelbarkeit zeitigt.

(kre; 02/2005)


Paula Köhlmeier: "Maramba"
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Monika Helfer und Michael Köhlmeier.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2005. 256 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Piper, 2007. 256 Seiten.
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Leseprobe:

Tagebuch einer Verrückten

Ich habe vor drei Jahren geheiratet. Einen Mann mit großen Händen und richtigen Gedanken. Richtige Gedanken passen in eine Schublade. Die Schublade sieht von außen wie von innen ordentlich aus. Sein Kopf ist nach Bereichen sortiert: Arbeit, keine Arbeit, Frau. Nie verirrt sich ein Gedanke in einen falschen Bereich.
Das ist natürlich eine Übertreibung. Ich übertreibe immer und automatisch. Das sagen mein Mann, mein Arzt und ich. Wir haben ein goldenes Türschild mit Silberschrift. Tauber ist unser Name. Ich putze das Türschild einmal im Monat. Das ist mein Beitrag zu unserer Ehe.
Mein Mann war zwölf, als sein Vater gestorben ist. Für seine Mutter war das die Vertreibung aus dem Paradies. Mein Mann hat seine Mutter wieder aufgeblasen, nachdem sie platt auf dem Boden lag. "Es war schwierig, aber ich habe uns repariert", sagt mein Mann.
Sein Vater war Bauer. Mein Mann verkaufte den Hof, schaffte neues Geld auf die Bank, und seine Mutter steckte sich im Frühling wieder Blumen in die Haare.
Mein Mann ist ein Mechaniker für kaputte Seelen. Er hatte ein hartes Leben und ist heute glücklich. Ich hatte kein hartes Leben und bin heute unglücklich.
Am Tag bin ich allein. Ich versuche, lange zu schlafen, damit der Tag kürzer ist. Ich rauche im Bett Zigaretten und trinke viel schwarzen Kaffee.
Ich vermisse meinen Mann nicht, wenn er weg ist. Ich rufe ihn nicht an, wenn er sich verspätet.
Allein gehe ich durch die Wohnung. Ich brauche fünf Minuten, wenn ich langsam durch alle Zimmer gehe. Das ist meine Zeit. Fünf Minuten für eine Zigarette. Fünf Minuten für meinen Rundgang. Das sind zusammen zehn Minuten. So vergeht meine Zeit. Ich koche nicht. Wir leisten es uns, essen zu gehen. Wir haben genug Geld. Das ist unser Glück.
Wir sind glücklich.
Mein Mann sagt: "Wir sind glücklich", und ich verlasse mich auf das Glück. Ich bin froh, daß er sich darum kümmert. Ich habe wenige Wünsche. Ich sage nie: "Nein". Weil ich nicht weiß, was ich nicht möchte. Ich sage nie aus Überzeugung: "Ja". Ich bin ein Mitläufer. Heute, früher bei meinen Eltern und in der Schule. Ich wasche gern meine Haare. Meine Haare sind lang und schön. Männer wollen meine Haare angreifen, und ich sage nicht nein. Ich kämme sie vor dem Fenster.
Meine Gedanken sind sorgfältig verpackt in meinem Kopf, aber sie kommen ungeordnet aus meinem Mund. Meine Gedanken sind wie ein Fallschirmspringer, der nicht springen will. Ich habe Angst vor zuviel. Ich habe Angst vor zu wenig, und mein Kopf meint, es gibt nichts dazwischen. Dann weine ich. Am liebsten allein. Ohne Grund. So eine Eigenschaft ist furchtbar.
Ich nehme Tabletten gegen zu viele Gedanken. Mein Mann bringt mir die Tabletten. Mein Mann liest die Packungsbeilage. Mein Mann spricht mit einem Arzt. Der Arzt und mein Mann sagen, daß die Tabletten gut für mich sind.
Seit einem halben Jahr hat mein Mann eine Geliebte. Eine große Frau mit dicken Haaren und breiten Hüften. Volksschullehrerin. Eine Frau, die den Kindern sagt, daß sie nicht über vorgezeichnete Linien hinaus malen dürfen, und die Kinder, die es doch tun, zum Psychologen schickt.
Mein Mann sagte: "Ich habe eine Geliebte." Ich stand in der Küche und dachte: Scheiße, jetzt muß ich etwas tun.
Ich lag zwei Tage im Bett. Am dritten Tag kam sie uns besuchen. Sie hatte einen festen Händedruck. Sie heißt Susanne Knopf. "Wir sind doch erwachsene Menschen", sagte mein Mann. Er kochte Spaghetti mit Tomatensauce. Susanne Knopf schnitt das Gemüse. Ich lag im Bett. Sie lachten in der Küche.
Ich war das Kind. Meine Eltern waren in der Küche. Ich stellte mir vor, wie es wäre, das Kind von meinem Mann und seiner Geliebten zu sein.
Mir ist alles recht. Ich fühle mich keinem Gefühl zugehörig.
Mein Mann sagte, ich bekomme die Wohnung und jeden Monat Geld. Ich brauche nicht zu arbeiten. Er wohnt bei Susanne Knopf. Susanne Knopf raucht keine Zigaretten. Mein Mann sagt, er redet mit dem Arzt über mich. Der Arzt gibt mir stärkere Tabletten. Ich sehe aus wie ein Geist. Das Türschild darf ich behalten.
Ich frage mich, wie ich das alles berichten soll. Ich muß berichten. Es wird ein Mann in Uniform vor mir sitzen. Er wird einen Bericht schreiben. In Handschrift auf ein weißes Blatt Papier wird er genau notieren, was ich sage. Oder er tippt in eine Schreibmaschine. Eine grüne Schreibmaschine. Der Mann in Uniform arbeitet acht, manchmal neun Stunden am Tag. Seine Lippen werden sich auf und ab bewegen. Er wird klare Fragen stellen und klare Antworten erwarten.
Ich habe meinen Mann erstochen. Auf dem Küchentisch. Susanne Knopf lag auf ihm. Bevor ich beide erstochen habe, lag sie auf ihm, und nachdem ich sie erstochen hatte, lag sie noch fester auf ihm.
Ich hätte sie, vor meinem Mord, von ihm herunterrollen sollen. Ich hatte so viel im Kopf. Jetzt liegen sie tot aufeinander. Ich bin nicht eifersüchtig auf eine Tote. Ich hätte nur meine Arbeit richtig machen müssen.
Der Mann in Uniform will kurze und richtige Antworten. Nach diesen Fragen werde ich nichts mehr gefragt werden. Das werden meine einzigen Worte zu meinem Mord sein. Danach werde ich nichts mehr zu sagen haben. Nach diesem Verhör ist mein Leben vorbei.
Die Haustür war angelehnt.
Ich ging in die Küche. Mein Mann lag nackt auf dem Küchentisch. Auf ihm Susanne Knopf. Bleiche Haut. Ihre Haut sah wie Schweizerkäse aus.
Ich nahm das Küchenmesser und stach auf den Berg ein. Das muß ein komisches Bild gewesen sein. Ich bin eine sehr kleine, unauffällige Frau. Ich falle nicht auf. Wenn ich auf Partys eingeladen bin, was selten vorkommt, halte ich mich meistens auf der Toilette auf. Ich sitze auf der kalten Kloschüssel und warte vor mich hin. Ich wippe mit den Füßen. Ich warte, bis alles vorbei ist.
Von mir denkt keiner etwas Schlechtes. Von mir denkt man sich überhaupt nichts. Es muß ein komisches Bild gewesen sein. Man wird sagen: Aber nein, die Frau Tauber wurde in das Bild hineinretuschiert. Sie hat ihren Mann nicht getötet. Sie hat nicht so viel Kraft.
Das wird der Mann in Uniform nicht wissen wollen. Nichts von all dem. Jetzt ist es bald so weit. Ich bin gleich da. Ich werde sagen: Mein Name ist Rita Tauber. Ich habe meinen Mann und seine Geliebte erstochen. Das war vor einer Stunde und zehn Minuten. Sie liegen beide noch auf dem Küchentisch. Gehmanngasse 43.
Als ich gegangen bin, waren sie noch warm. Ich habe sie umgebracht, weil mein Mann mich verlassen wollte. Wegen einer Geliebten, die richtige Gedanken hat und nicht wie ich durch die Wohnung schleicht. Ich habe sie umgebracht, weil ich wollte, daß etwas passiert in meinem Leben.

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