Michael Köhlmeier: "Abendland"
Doppelkonferenz während des "abendländischen" Jahrhundertflugs
"Wann ist eine Geschichte eine gute Geschichte?",
sinniert der 95-jährige Protagonist in Michael Köhlmeiers Roman und bedient sich dabei Aristoteles: "Wenn
sie gebaut ist wie ein Leben."
"Abendland" ist mehr: Die Fülle eines ganzen Jahrhunderts ist
hier eingefangen.
Der an alte Erzähltraditionen Europas anknüpfende
Roman wäre ein würdiger Buchpreisträger des
Jahres 2007 gewesen. Nicht, dass man
Julia Francks
Leistung schmälern möchte, aber Michael
Köhlmeiers Opus Magnum besticht mit einer Ernsthaftigkeit und
Tiefe, wie sie der deutschsprachige Roman im Allgemeinen und der
österreichische im Besonderen lange nicht geboten haben.
Mit "Abendland" hat der österreichische Schriftsteller Michael
Köhlmeier ein Monumentalkunstwerk erschaffen. Monumental
aufgrund seiner Stoffdichte und der beinahe 800 eng gesetzten Seiten;
und Kunstwerk wegen seiner klugen und raffinierten Vernetzung zweier
Familienbiografien und unzähliger Einzelschicksale
über einen Zeitraum eines ganzen Jahrhunderts: eine
literarische Weltumrundung.
Im Handlungsmittelpunkt steht der 95-jährige Carl Jacob Candoris, Professor für Mathematik, Kosmopolit und
Jazz-Liebhaber. Er diktiert - den nahen Tod bereits vor Augen - seinem
Patenkind und Freund, dem 52-jährigen Schriftsteller Sebastian Lukasser, seine Lebenserinnerungen, die sich schon bald als eine Art
Lebensbeichte herauskristallisieren. Lukasser soll daraus ein Buch
formen, um etwas von Candoris für die Nachwelt zu
hinterlassen. "Am Ende seines langen Lebens will er dem
langen Leben den lebenslang vermissten Sinn geben, indem er es zu einer
großen Symphonie verkomponiert, besser: zu einer Oper.",
wie Sebastian diese "geplante Inszenierung" bezeichnet.
Schutzengel Candoris
Ein Jahr nach Carls Tod beginnt Sebastian, seine Aufzeichnungen
und Mitschnitte zu ordnen. An diesem Ordnen und Analysieren
lässt er den Leser teilhaben. Dabei greift Sebastian diese
Inszenierung immer mehr selbst auf, um gleichfalls sein Leben zu
resümieren, frei nach Carls Motto: "Welchen Wert das
Leben eines Menschen hatte, zeigt sich in dem Wert, den jene, die
seinem Leben Wert gaben, ihm in ihrem eigenen Leben weiterhin
beimessen." So nimmt nach und nach das Leben der Familie
Lukasser mehr Raum im Roman ein. Candoris bleibt jedoch
uneingeschränkt verbindendes Element der Erzählung.
"Für uns war das Leben eine andauernde
Aufeinanderfolge von Problemen; er bot die Lösungen an",
stellt Sebastian im Nachhinein fest. Der aus vermögendem Haus
stammende Candoris entdeckt
im
Nachkriegs-Wien Sebastians Vater, den zum Alkoholismus
neigenden, begnadeten Jazz-Gitarristen Georg Lukasser und nimmt ihn
fortan unter seine Fittiche. Candoris und seine portugiesische Frau
Margarida werden gleichsam zu Schutzengeln der Familie Lukasser.
Aus verschiedenen Ich-Perspektiven bekommt der Leser Teile der
Biografien der Protagonisten realistisch, jedoch nicht chronologisch,
erzählt. Köhlmeier nimmt mitunter erst nach 400
Seiten einen zuvor ausgeworfenen Gedankensplitter wieder auf. Trotzdem
verliert sich der sogenannte rote Faden niemals. Geschickt und
vortrefflich behandelt der Autor die verschiedenen Zeitebenen, die
kunstvolle Verknüpfung von Vor- und Rückblenden sowie
das narrative Gesamtkonzept des Werks, welches eine Menge von
Handlungsebenen überblicken muss.
Gedankenmäander
Allerdings erfordert die Lektüre erhöhte
Lesekonzentration bei gleichzeitiger Nonchalance. Es empfiehlt sich, in
dieses Buch hineinzugleiten. "Abendland" ist ständig im Fluss,
bewegt und unstet; beinahe so, als wäre ein
impressionistisches Landschaftsbild von Renoir mit seiner transparenten
Farbigkeit und beruhigenden Strahlkraft direkt neben dem in
schwarz-weiß gehaltenen, fotorealistischen
RAF-Zyklus von
Gerhard Richter platziert, dessen erregende Aktivität
geradlinig auf den Betrachter übergeht. Gleichwohl strahlt
Köhlmeiers literarische Melange, diese wilde, nicht homogene
Mischung, durchaus eine ergänzende Harmonie aus.
Die Erzählweise ist ein ständiges Sicherinnern und
entspricht am ehesten unseren eigenen Gedanken, die ebenfalls
unablässig im Fluss und niemals linear sind.
Köhlmeier lässt den alten Candoris wunderbar
über diese Gedankenmäander sinnieren: "Die
Erinnerung beschreibt einen denkwürdigen Kreis, der sich von
der Gegenwart in die Vergangenheit dreht, bis er die 180 Grad erreicht,
also sozusagen in der Gegenwart desjenigen ankommt, an den erinnert
werden soll, gleich darauf aber in die Zukunft wechselt, weil die
Erinnerung immer auch die Reflexion des Sicherinnernden über
sich selbst mit einschließt, er sich also sagt, so, wie ich
mich jetzt an diesen erinnere, werde ich mich eines Tages an mich
selbst erinnern, nämlich, dass ich einst der war, der ich
jetzt bin - womit er aber bereits in der Vorzukunft, im
futurum exactum, angekommen ist, also bei 270 Grad, wo sich
der Kreis zum Ausgangspunkt zurückkrümmt. Die
Erinnerung sei wie die Treppe der Mönche auf dem Bild des
Maurits Cornelis Escher, die immer nach oben - oder nach unten -
führt, in Wahrheit aber nie die Ebene verlässt,
weswegen dieser Zustand irreal und irrational sei, in seiner Wirkung
jedoch ungeheuer mächtig."
Anhand dieser Sätze wird klar: "Abendland" kann und darf nicht
in einem Ruck durchgelesen werden. Der Roman ist zu komplex und zu
vielschichtig, obwohl er einen steten imaginären Sog auf den
Leser ausübt.
Weltumspannender "abendländischer" Bogen
Dabei verwebt Köhlmeier viel Autobiografisches in seine beiden
Hauptprotagonisten. So, wie auch er Mathematik studierte, hat er den
Part des Mathematikers an Candoris vergeben. Obwohl diese Figur
gleichsam eine kleine Hommage an den Innsbrucker Mathematiker Leopold
Vietoris ist, der 111 Jahre alt wurde. Das meiste von ihm selbst ist
zweifelsohne in Sebastian Lukasser zu finden, allerdings nicht
biografischer Art, wie der Autor erklärt.
Der Roman erzählt sowohl das Leben des Carl Candoris als auch
das von Sebastian Lukasser, mit einer großen Zahl an
Nebenfiguren; allesamt großartige Charakterstudien. Dieses
Leben spielt sich zu wichtigen Teilen in Wien und Manhattan ab. Es ist
sehr viel von Jazz und einiges von Mathematik sowie Atomphysik die
Rede. Doch was bereits der Titel erahnen lässt: Das Buch
bewegt sich nicht nur in der kleinen Zelle der Familie mit all ihren
komplizierten Verstrickungen, sondern Köhlmeier spannt den
Bogen weiter.
Politische Wechselbäder
"Abendland" zeigt das Abendland in all seinen Varianten und vielen
politischen Wechselbädern: Monarchie, Diktatur und Republik,
Kirche und Agnostiker, Heiligsprechung und Suizid, Genozid der Hereros
in Deutsch-Südwestafrika,
das stalinistische Moskau, englische
Geheimdienstaktionen, Oppenheimers "Manhattan Project" und die
Atombombe, den
Nürnberger
Prozess, eine tragische New Yorker
"Weiß-Schwarz-Beziehung" und eine Auszeit in North Dakota,
die Musikszene und die deutsche Studentenszenerie, RAF und
Psychoanalytisches im Wiener Kaffeehaus.
Der Autor lässt seine Protagonisten durch die gesamte Welt,
über alle Kontinente mäandern. Grauen erzeugende
Namen wie Salazar,
Stalin
und Hitler kreuzen ihre Bahnen genauso wie
berühmte Wissenschaftler (Einstein,
die Mathematikerin Emmy
Noether, Manfred von Ardenne, Niels Bohr, Otto Hahn) oder bekannte
Musikgrößen (Duke Ellington, Billie Holiday).
Köhlmeier setzt viele Farbtupfer, die am Ende ein
beeindruckendes Gemälde ergeben: Eine gewaltige, weit
umspannende Melange, in Komposition, Stil und dichter
Atmosphäre, die bis zur letzten Zeile überzeugt.
Zwischen Wien, wo Lukasser lebt, und Lans (oberhalb von Innsbruck), wo
Candoris seine letzten Lebensjahre verbrachte, liegt eine ganze
(Erzähl-)Welt und zugleich ein außerordentliches
Lesevergnügen für viele Abende. Es gibt nicht allzu
viele Romane, die einen solchen Eindruck hinterlassen.
Fazit:
"Abendland" ist ein Roman über das Leben und den Tod,
über Schuld und Sühne, über Krieg und
Frieden, über Männer und Frauen, Väter und
Söhne, Musik und
Mathematik
während eines Streifzuges
durch das 20. Jahrhundert.
Es ist ein äußerst weises, intelligentes,
wissenswert-philosophisches und unterhaltsames Buch, voller
Detailwissen und Bildung, das nur so vor sprachlicher Eleganz und
Lebensklugheit funkelt.
Ein ganz großes Stück Literatur und ein wahrer
Genuss für anspruchsvolle Leser: Das Buch
2007!
(Heike Geilen; 12/2007)
Michael
Köhlmeier: "Abendland"
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2007. 784 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2008.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Die Abenteuer des Joel Spazierer"
"Ich besaß nie den Ehrgeiz, ein guter Mensch zu werden." Joel Spazierer,
geboren 1949 in Budapest, wächst bei seinen Großeltern auf und ist vier Jahre
alt, als sie von Stalins Schergen abgeholt werden. Fünf Tage und vier Nächte
verbringt er allein in der Wohnung und lernt eine Welt ohne Menschen kennen. Es
fehlt ihm an nichts, er ist zufrieden. Eher zufällig findet ihn seine Mutter,
die noch Studentin ist. Joel Spazierer lernt nie, was gut und was böse ist. Sein
Aussehen, sein Charme, seine Freundlichkeit öffnen ihm jedes Herz. Er lügt,
stiehlt und mordet, ändert seinen Namen und seine Identität und betreibt seine
kriminelle Karriere in vielen europäischen Ländern. Die Geschichte, die er uns
ganz unschuldig erzählt, ist ein
Schelmenroman über die Nachtseiten unserer
Gesellschaft. (Hanser)
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