Karl Ove Knausgård: "Alles hat seine Zeit"
Zweieinhalb
Jahre hat der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård
gebraucht, um einen Roman zu schreiben, wie er in dieser Form neu ist.
Knausgård hat sich auf die Spuren der Engel begeben, wie vor
ihm schon viele in der vergangenen Jahren. Erwähnt seien hier
nur das bahnbrechende Buch des us-amerikanischen Religionssoziologen
Peter L. Berger "Auf den Spuren der Engel" von 1980 und,
kürzlich erst, sehr viel philosophischer und theologischer,
Giorgio Agamben mit dem Essay "Die Beamten des Himmels. Über
Engel", das 2007 im Verlag der Weltreligionen bei Insel als Vorabdruck
aus dem zweiten Teil seines Hauptwerks "Homo sacer" erschienen ist.
Ernsthafte literarische und gleichzeitig theologische
Auseinandersetzung mit dem Phänomen und den
Überlieferungen der Engel habe ich jedenfalls so noch nicht
gelesen. Knausgård lässt einen Erzähler
namens Antinous Bellori, eine von ihm erfundene Gelehrtengestalt aus
dem Barock und der Spätrenaissance, aus seinem umfassenden
Werk "Über die Natur der Engel" berichten. Mit dieser
Wanderung durch die Geschichte der Engel als seinem roten Faden bewegt
sich Karl Ove Knausgård virtuos durch die alttestamentlichen
Erzählungen. Über
Kain
und Abel, über Noah
und die Sintflut, über Sodom und Gomorrha und den
Propheten Hesekiel gelangt der Leser nach einem Zwischenstopp im
spätbarocken und schrittweise aufgeklärten Europa
schließlich auf wundersame Weise zum Protagonisten Henrik
Vankel auf einer Insel vor der norwegischen Küste.
Interessanterweise hat sich der Autor nach eigenen Angaben
früher weder für das Christentum, noch für
die Bibel oder für Religion interessiert. Seine Themen findet
er, vor einem Bild stehend, das unter anderem Engel zeigt. Er beginnt
sich mit der Geschichte der Engel zu befassen, doch der Essay, der
dabei herauskommt, ist ihm zu trocken. Deshalb beginnt er die
Geschichten des Alten Testaments zu lesen und sie neu zu
erzählen. Er schert sich dabei nicht besonders um korrekte
Exegese, doch was man hier über fast 600 Seiten zu lesen
bekommt, ist die spannendste und berührendste Paraphrase
dieser alttestamentlichen Geschichten, die ich je gelesen habe. Als
Theologe kann ich sagen, dass wir mehr solche mutigen Versuche
bräuchten, die biblischen Geschichten in ihrer
Zwischenmenschlichkeit und psychologischer Dynamik für einen
breiten Leserkreis transparent zu machen.
"Alles hat seine Zeit" ist ein großes Werk, das man nach dem
ersten Lesen wegstellen und nach einigen Jahren noch einmal lesen
sollte. Diesen genialen Autor aus Norwegen wird man weiter beobachten
müssen.
Und es ist wieder einmal wie schon so oft: ein zunächst bibel-
und religionsferner Literat öffnet sich dem biblischen Text,
heraus kommt ein wunderbares Ergebnis, und die theologische und
kirchliche Öffentlichkeit nimmt es nicht zur Kenntnis. Sie
bleibt weiter bei ihrer Spezialsprache, die die Menschen heute nicht
mehr anspricht, anstatt sich von Werken wie diesem inspirieren und
verändern zu lassen.
Sie sollten sich Knausgård als Beispiel nehmen. Für
ihn stehen Engel "für viele Dinge. Sie
verkörpern die absolute Gegenwart in der Welt, hier und jetzt
zur Stelle zu sein. Eine Eigenschaft, die uns modernen Menschen
möglicherweise abgeht. Aber sie stehen auch für
Abwesenheit und für die Kunst. Die Kunst ist zum
grenzüberschreitenden Medium unserer Zeit geworden, zu unserem
Versuch, das Menschliche und das Göttliche zu vereinen."
"Alles hat seine Zeit" ist ein gerade für Theologen sehr
empfehlenswerter Roman.
(Winfried Stanzick; 10/2007)
Karl
Ove Knausgård: "Alles hat seine Zeit"
Aus dem Norwegischen von Klaus Berf.
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand Literaturverlag, 2007. 637 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2009.
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Karl Ove Knausgård wurde 1968
geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor seiner Generation.
Als erster Debütant überhaupt bekam er den Norwegischen
Kritikerpreis verliehen. "Alles hat seine Zeit" war nominiert für den "Nordischen
Literaturpreis" und wurde ausgezeichnet mit dem "Publikumspreis des
Norwegischen Rundfunks".
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Lieben"
Was bleibt von all der Romantik
und Leidenschaft, wenn der Alltag Einzug hält ins Leben zweier moderner, auf
Selbstverwirklichung bedachter Menschen mit kleinen Kindern? Anspruch und
Wirklichkeit prallen aufeinander. Das tägliche Ringen um Freiräume, Lebensfreude
und Zeit wird zum unauflösbaren Konflikt. Die eigene Identität muss mit Klauen
verteidigt, die Liebe immer wieder neu gefunden werden. Ein Kraftakt, von dem
Karl Ove Knausgård in seinem Roman "Lieben" voller Zärtlichkeit und mit
entwaffnender Ehrlichkeit erzählt. Das radikale Vaterporträt seines umjubelten
Vorgängerromans "Sterben" wird nun in "Lieben" ergänzt durch das kompromisslose
Suchen nach Nähe und Beziehung.
"Und dann erzählte ich ihr, wer sie für mich war. Alles, was ich in meinem Brief
geschrieben hatte, sagte ich ihr nun. Ich beschrieb ihre Lippen, die Augen, ihre
Art zu gehen, die Worte, die sie benutzte. Ich sagte, dass ich sie liebte,
obwohl ich sie nicht kannte. Ich sagte, dass ich mit ihr zusammen sein wollte.
Dass es das Einzige war, was ich wirklich wollte." (Luchterhand Literaturverlag) zur Rezension ...
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"Leben" zur Rezension ...
Noch ein Buchtipp:
Giorgio Agamben: "Die Beamten des Himmels. Über Engel"
In fast allen Religionen erscheinen sie, die Mittler zwischen Himmel
und Erde, die Boten, Kundschafter und Wächter. Jakob sieht sie
im Traum, bei der
Opferung des Isaak greift ein Engel ein, und der
Engel des Herrn erscheint Moses
im brennenden Busch.
In den Psalmen sind sie gegenwärtig,
im
Talmud, in den Midraschim, in der
Liturgie und in der mystischen Tradition. In den Evangelien
verkünden Engel die Geburt Jesu, sie verleihen ihm bei seinen
Versuchungen Kraft, sie sind bei seiner Auferstehung zugegen und werden
ihn bei seiner Wiederkunft begleiten. Im Islam protestieren sie vor
Allah gegen seinen Plan, menschliche Wesen ins Leben zu rufen. Eine
ihrer Aufgaben ist es, gute und schlechte Taten aufzuzeichnen.
Dionysius Areopagita hat die Hierarchie der Engel festgelegt: die
Seraphim, die Gott am nächsten stehen, die Cherubim als
Beschützer des Gartens Eden sowie die Thronoi ("erhabene
Gestalten"). Darunter stehen die "Herrschaften", "Mächte" und
"Gewalten", auf welche die "Fürstentümer", "Erzengel" und die "Engel"
(Schutzengel) folgen; sie sind den Menschen am nächsten. Die
Analogie zu einem königlichen Hofstaat, in dem
Höflinge und Beamte zwischen König und Volk
vermitteln, ist unverkennbar.
Giorgio Agamben folgt in seinem Essay den verschiedenen
Interpretationen und Funktionszuschreibungen, die Engel in ihrer
Deutungsgeschichte erfahren haben. Dabei steht die Frage nach ihrem
Verhältnis zur Macht im Mittelpunkt, sind sie es doch, die in
der trinitarischen Ökonomie des Himmels und deren
säkularen Erscheinungsformen als "Beamte des
Himmels" die Macht in all ihrer Herrlichkeit repräsentieren.
Das Weltliche und das Heilige fallen zusammen im Begriff der
Hierarchie, und steht diese erst einmal, genau wie in Kafkas Universum,
im Zentrum, neigen Engel und Bürokraten dazu, sich
zu vermischen: Zuweilen ist die Verwaltung der irdischen Monarchie das
Muster für die englischen Ministerien, umgekehrt kann die
himmlische das Urbild für die irdische Bürokratie
bilden. (Verlag
der Weltreligionen)
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