Gerhard Schulz: "Kleist"
Eine Biografie
"Nichts bei Kleist ist
einfach."
Der Autor
Gerhard Schulz ist emeritierter Professor für deutsche Sprache und Literatur an
der Universität Melbourne und ausgewiesener Kenner der deutschen Literatur
zwischen 1770 und 1830.
Kleist. Auch wenn man sich immer wieder einmal mit Kleist auseinandersetzt, so
kann es passieren, dass man am Ende dennoch nicht in der Lage ist, diesen mit
wenigen Worten zu beschreiben. Versucht man es trotzdem, könnte so etwas dabei
herauskommen:
Heinrich von Kleist gab zwei zeitlich getrennte Studiengänge und zwei berufliche Laufbahnen auf, die ihm vermutlich ein bequemes und vor allem wirtschaftlich und gesellschaftlich gesichertes Leben ermöglicht hätten.
Er verbrachte zusammengenommen ein volles Jahr mit Reisen (15.000 km), getrieben von geänderten Lebensplänen und gelegentlich Fluchtreflexen.
Er schrieb innovative Schauspiele, hatte jedoch zu Lebzeiten durchgängig Pech bei deren Aufführungen, obwohl ihm Wieland 1802 für seine Dramatik ein begeistertes Testat ausstellte.
Er gab insgesamt 153 Ausgaben der "Berliner Abendblätter" nahezu im Alleingang heraus und scheiterte unverschuldet an Zensur und Administration.
Er war oft und zunehmend in Geldnöten und bettelte nach dem Scheitern der "Abendblätter" vergebens um eine Anstellung beim Staat.
Im Herbst 1811 hatte er keine Kraft mehr und brachte sich im Alter von 34 Jahren überlegt und ohne Aufsehen um.
Es
stellt sich nun die Frage, ob und wie es dem Autor gelang, diesen Heinrich von
Kleist zwischen zwei Buchdeckel zu packen?
Gerhard Schulz stellt dem Werk die beiden sich widersprechenden Kennzeichen
biografischen Schreibens voran, dass nämlich vergangenes Leben immer nur
bruchstückhaft zugänglich sei, gleichzeitig aber menschliche Gefühle, das
Denken und Handeln über Zeiten hinweg ähnlich bleiben. Dennoch, so schreibt
der Autor, entsteht hierdurch der reizvolle Gegensatz historischer Ferne und
zeitloser Nähe oder Ähnlichkeit menschlichen Empfindens. Erschwert wird dieses
zu zeichnende Bild natürlich durch die Persönlichkeiten von
Biografen und
Lesern, doch das gilt ja für nahezu alle Arten von Literatur mit historischem
Anspruch.
Der Autor spricht von den Schwierigkeiten bei der Erforschung von Kleists
Lebens, da Tagebücher fehlen und viele Beteiligte dessen Spuren eher
verwischten als konservierten, so handelte etwa die Familie Kleists allein schon
wegen des Selbstmords. Und somit gibt es auch einige undokumentierte Strecken
seines Lebens. Es erschweren auch die oft zur Fiktion übergleitenden Briefe
Kleists das Leben des Biografen.
In einem einleitenden Kapitel werden Zeit und Person umrissen, was den Leser
einstimmt und das Verständnis für den nachfolgenden Text erleichtert. Bei der
Bewertung der einen oder anderen historischen Person kann man geringfügig
anderer Meinung sein, so etwa, ob
Friedrich II. ein aufgeklärter Herrscher war
oder nicht, und ob Voltaire ihn wirklich verehrte. Dieser literarische Virtuose
der Aufklärung und Großkaspar Arouet verehrte letztlich nur die, die auch ihn
verehrten, vermutet der Rezensent.
Der Autor ordnet Kleist als unpolitischen Menschen ein nach der Definition der
Politik als Kunst, des Möglichen, des Abwägens, der Bereitschaft zum
entschiedenen aggressiven Handeln ebenso wie zum geschickten Kompromiss. Doch da vermag der Rezensent dem Autor
nicht ganz zu folgen, denn die Politik hat auch den Auftrag, den Menschen ein
freies, emanzipiertes, wirtschaftlich und rechtlich gesichertes Leben zu ermöglichen.
Und damit hat der
"Michael Kohlhaas" ebenso zu tun wie
"Die
Hermannschlacht" oder der "Prinz von Homburg". Und in einem Preußen
Friedrich Wilhelm III. wusste Kleist genau, was er da einklagte. Goethe hingegen
wäre zwar der Definition des Autors zufolge ein politischer Mensch gewesen,
aber dieser war es nach Ansicht des Rezensenten eben nicht, da ihm
beispielsweise Menschenrechte nichts sagten und er auch Pressefreiheit für überflüssig,
gar gefährlich hielt. Doch mit diesen Details, die die Biografie im Kern gar
nicht berühren, hat sich die Kritik des Rezensenten auch schon erschöpft, der
Rest ist anerkennendes Staunen über eine herausragende Biografie eines
herausragenden und schwierigen deutschen Literaten.
Apropos Goethe. 1807 missglückte die von diesem
in Weimar inszenierte Aufführung
des Lustspiels "Der zerbrochene Krug". Die Gründe für das Scheitern
der Aufführung waren dem Rezensenten bislang nicht bekannt, denn selbst die
beiden renommierten Goethe-Biografen Friedenthal und Conrady decken diese in
ihren Werken nicht auf. Es war, so die vorliegende Biografie, somit nicht nur
das Zergliedern eines Einakters in drei Akte, sondern der Umstand, dass
unmittelbar vorher bereits eine Oper aufgeführt wurde und zudem der Darsteller
des Dorfrichters Adam einen schleppenden Vortrag hatte. Aber vielleicht war
Goethe auch schon zu sehr Goethe, um sich noch einmal mit einem innovativen
Schauspiel auseinanderzusetzen und dem eine Bühne zu bereiten. In seinen
nachfolgenden Urteilen über die Werke Kleists hat sich der Geheime Rat auch
nicht mit Ruhm bekleckert.
Obwohl sich Teile der Vita des Heinrich von Kleist der sicheren Erkenntnis
entziehen, kann man überwiegend nachzeichnen, was er trieb. Doch was ihn
hierbei antrieb, bleibt wohl weitgehend im geschichtlichen Dunkel. Das bietet
natürlich reichlich Gelegenheit für Spekulation. Diese enthält uns der Autor
nicht vor, aber er unterlässt zumeist eine Wertung. Gelegentlich deutet er an,
was er für wahrscheinlicher hält - erinnert sei beispielsweise an die
geheimnisvolle Reise nach Würzburg im Jahre 1800. Auf den letzten 200 Seiten
kommt eine Spannung auf, der man sich kaum entziehen kann.
Da werden es zukünftige Kleist-Biografen aber schwer haben, denn diese
Biografie ist fachlich und stilistisch ein Meisterwerk. Dabei lernt man Kleist
kennen, folgt ihm, beobachtet ihn, aber dennoch wird stets ein Abstand gewahrt,
den viele Biografen leider vermissen lassen. Folgender Satz mag diesen Anspruch
des Autor unterstreichen: "Der Grad der Intimität dieser Liebe zwischen
Marie und Heinrich von Kleist gehört jedenfalls in den Bereich des Privaten,
von dem wir nichts wissen, aber auch nichts zu wissen brauchen."
(Klaus Prinz; 09/2007)
Gerhard Schulz: "Kleist. Eine Biografie"
C.H. Beck, 2007. 608 Seiten.
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