Marie Haller-Nevermann, Dieter Rehwinkel (Hrsg.): "Kleist"
Ein moderner Aufklärer?
Der
märkische Sisyphos
Das Buch enthält Aufsätze und Reden renommierter
Literaturwissenschaftler zu
Kleists Werk, die dem Kleist-Kolloquium entstammen, das im Rahmen der
Genshagener Gespräche im Mai 2004 stattfand. Das Buch bildet
so eine Collage
von acht einzelnen Aufsätzen und Reden. Anmerkungen wurden
jedem Autor selbst
überlassen, und so verfügen sieben Texte
über Anmerkungen und einer sogar
über ein Literaturverzeichnis. Den maximalen Genuss hat man
zweifellos mit
einer profunden Werkkenntnis.
Anke Bennholdt-Thomson untersucht Kleists Stellung zwischen
Aufklärung und
Romantik. Man hat es bereits geahnt: und so kann Kleist als ein Dichter
des
Übergangs angesehen werden. Hans-Jürgen Schings
untersucht die Tabubrüche,
die Kleists undiskrete Schilderung grässlicher Tode und Leiden
in seinen
Erzählungen unternahm. Norbert Oellers widmet sich der
ästhetischen
Positionierung Kleists, der durch Kant-Studien in eine nachhaltige
Krise
gestürzt wurde. Peter-André Alt würdigt
auf gewohnt brillante Weise das zu
Lebzeiten glücklose dramatische Werk Kleists, das ihn dennoch
ans Ende der
Reihe Lessing,
Schiller und Goethe
rückt. Gesa von Essen nimmt Kleists
politische Positionen und Äußerungen unter die Lupe.
Der Jurist Peter Raue
analysiert Kleists Beziehungen zu juristischen Themen, die sich u. a.
in Michael
Kohlhaas oder dem Zerbrochenen Krug
manifestieren. Karol Sauerland
beschreibt die Stellung Kleists in der polnischen Germanistik
insbesondere nach
1945. Den letzten Teil bestreitet Peter Stoltzenberg mit einer
Untersuchung der
Rezeption Kleists an deutschen Theatern.
1802 bestätigte der große
Wieland dem
25-jährigen Kleist, dass dieser über
glänzende Talente verfüge. Als er dann
solchermaßen gestärkt ab 1804 in
preußischen Diensten stand und nach
Königsberg
entsandt wurde, um dort die politische und wirtschaftliche Verwaltung
zu
studieren und bei dem Kant-Schüler Kraus Vorlesungen zu
hören, so nutzte
Kleist diese Chance nicht. Nach Abschluss dieser "Ausbildung"
hätte
er die preußischen Exklave Ansbach/Bayreuth mit
Königsberger Kameralistik
reformieren sollen. Doch Kleist zog es zur Literatur und er
verabschiedete sich
aus dem Staatsdienst.
Auch vor Schillers Augen zeichnete sich in den 1780er Jahren ein
geradliniger
Lebensweg ab. Als Regimentsarzt hatte er ein auskömmliches
Leben mit
Perspektive vor Augen, doch es trieb ihn eine von der eigenen
Genialität
überzeugte Besessenheit in eine ungewisse, aber selbst
bestimmte Zukunft.
Kleist wurde von derselben Besessenheit angetrieben wie Schiller,
allerdings
ohne dass ihm dessen Erfolg vergönnt war. Er vollzog jedoch
auch nicht
Schillers Anpassung an den (letztlich höfischen)
Literaturbetrieb.
Insgesamt kann Kleist eine große Zerrissenheit zugeschrieben
werden - ein
früher Vorläufer
Hemingways, wie Dietmar Fritze einst
schrieb. So hatte er
schon moderne ästhetische, also politisch-moralische,
Positionen, dennoch
verfiel er gelegentlich dem befremdlichen Populismus
antifranzösischer
Agitationen, wie zum Beispiel im "Kriegslieds der Deutschen". Nachdem
er feststellte, dass Ottern, Schlangen und dergleichen vertrieben
seien, bemerkt
er:
"Nur der Franzmann zeigt sich noch
In dem deutschen Reiche.
Brüder, nehmt die Keulen doch,
Daß auch der entweiche!"
Im "Katechismus der Deutschen" hingegen nimmt er die Franzosen wieder
aus und benennt
Napoléon
als den alleinigen Verursacher der Probleme, dämonisiert ihn
gar. Doch dann
folgen abstruse religiöse Thesen: "Weil Gott es lieb ist, wenn
Menschen,
ihrer Freiheit wegen, sterben." Doch auch das sollte man nicht
überbewerten, weil auch andere Autoren dieser Zeit mit weitaus
weniger
Problemen ihre "Aussetzer" hatten, denn Schillers hoch gelobte Jungfrau
halte ich für mindestens ebenso befremdlich.
Der
Zerbrochene Krug,
Michael Kohlhaas
und Der Findling sind kleistsche Exponate der Suche
nach Gerechtigkeit, dem Widerstreit zwischen Recht und Gerechtigkeit.
Doch sein Anspruch auf Anerkennung widerfährt ihm gerade mit
dem Zerbrochenen Krug nicht, der in einer
Inszenierung Goethes am 2. März 1808 in Weimar bei Publikum
und Kritik durchfiel. Kleist soll Goethe daraufhin zum Duell gefordert
haben, was durchaus vorstellbar scheint. Auch wirtschaftlich war seine
Schriftstellerei wenig erfolgreich - die Marke Heinrich von
Kleist war noch nicht geboren.
Kleist entwickelte auch eine überdurchschnittliche
Reisetätigkeit. Von 1792
bis 1809 legte er mehr als 15.000 km zurück, das sind etwa 365
Tage in
Postkutschen, auf Pferderücken oder den eigenen
Füßen. Einzig die letzten
beiden Jahre verbrachte er ohne größere Reisen in
Berlin. Doch dort wurde er
zusehends instabil, und so beging er am 21. November 1811
einigermaßen
mittellos zusammen mit der krebskranken Henriette Vogel Selbstmord.
Fazit
In der zweiten Jahreshälfte 2010 werden zögerlich die
ersten Betrachtungen zu
Heinrich von Kleist erscheinen, Anthologien werden folgen. Anfang 2011
wird
hoffentlich eine bibliophile und erschwingliche Werkausgabe erscheinen,
gefolgt
von einer neuen Taschenbuchausgabe. Hanser wird vermutlich eine 800
Seiten
starke Biografie herausgeben, ich schätze mal von
Peter-André Alt verfasst.
Vielleicht haben wir Glück und
Rüdiger
Safranski entdeckt den Kleist auch noch rechtzeitig.
Die deutschen Bühnen werden wieder Kleist spielen, auch Penthesilea
und Die
Hermannsschlacht, es werden Motorräder auf
der Bühne fahren und
Indianer auf den Planken gegen Römer und Preußen
kämpfen und so wird die
Reihe derer, die uns ihren statt den
Kleist näher bringen wollen,
wieder ein Stückchen länger.
Doch ich freue mich auf 2011 und eine Reihe schöner
Kleist-Bücher.
(Klaus Prinz; 09/2005)
Marie
Haller-Nevermann, Dieter Rehwinkel
(Hrsg.): "Kleist"
Mit einem Vorwort von Rudolf v. Thadden.
Wallstein, 2005. 191 Seiten.
ISBN 3-89244-898-1.
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Weitere
Buchtipps:
Heinrich
von Kleist: "Penthesilea"
In den Kampf der Griechen um Troja greift Penthesilea,
Königin der Amazonen, mit ihrem Heer ein. Sie trifft auf
Achill, und eine leidenschaftliche Liebe entflammt zwischen den beiden.
Auf dem Schlachtfeld wollen sie einander erobern. Penthesilea
wähnt sich als Siegerin, doch bald schon wird ihr klar, dass
sie selbst besiegt und gefangen wurde. Aus Liebe will sich Achill
schließlich freiwillig zu ihrer Gefangenen machen und tritt
ihr unbewaffnet entgegen, aber Penthesilea glaubt, er wolle sie erneut
besiegen und demütigen. Mit ihrer Hundemeute stürzt
sie sich auf den wehrlosen
Achill und tötet ihn in rasendem
Liebeswahn. Zu spät durchschaut sie die wahren
Zusammenhänge.
Kleists 1808 erschienenes Trauerspiel, uraufgeführt 1876,
findet an entfesselter Gewalt, an Heftigkeit und affektiver Schlagkraft
in der Geschichte des deutschen Dramas kaum seinesgleichen.
Buch bei
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Helmut
Sembdner (Hrsg.): "Heinrich von
Kleist. Sämtliche Werke und Briefe."
Als 1961 die nach den Erstdrucken und Handschriften von
Helmut Sembdner besorgte und kommentierte zweibändige
Kleist-Ausgabe erschien,
feierte man dies als Durchbruch der Kleist-Philologie. Endlich konnte
man einen
unverfälschten Kleist lesen, bis hin zum Komma.
Die mustergültige Edition von Helmut Sembdner wurde inzwischen
zum
Standardwerk, das durch zahlreiche Revisionen stets auf den neusten
Stand der
Forschung gebracht wurde. Mit Anmerkungen, einem Nachwort des
Herausgebers,
einer Lebenstafel zu Kleist und einem Personenregister. (Hanser, dtv)
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Diethelm Brüggemann: "Kleist. Die Magie - Der Findling -
Michael Kohlhaas
- Die Marquise von 0.... - Das Erdbeben in Chili - Die Verlobung in St.
Domingo
- Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik"
In einem Brief an Ernst von Pfuel hat Kleist einmal von der "Finesse,
die den Dichter ausmacht" gesagt, sie kennzeichne denjenigen, der "auch
das sagen" kann, "was er nicht sagt." In seinem eigenen Werk hat Kleist
so manches gesagt, was er nicht sagt. Er hat es verschlossen mit
hermetischem Schlüssel. Es zeigt sich, dass dieser
Schlüssel in seinen Werken jeweils im Kontext der
Schuldproblematik versteckt ist. In der vorliegenden Studie wird die
hermetische Grundstruktur des Kleistschen Werkes freigelegt. Wie Goethe
im "Faust"
und in "Wilhelm Meisters Wanderjahre", so rekurriert Kleist auf die
uralte hermetische Tradition der
Alchemie - eine Alchemie, die nicht unbedingt ein Labor
benötigt. Während die exoterische Oberfläche
seiner Erzählungen an Denk- und Gefühlsgewohnheiten
der Moderne appelliert, zeigt die hermetische Dekodierung, dass Kleist
mit historischem Scharfblick und frappierender Einsicht in die
Anthropologie des Schuldbegriffs scharfe Kritik an der Moderne
übt. Bekräftigt werden die Ergebnisse der Analyse
durch zahlreiche Bildfunde aus der hermetischen Tradition sowie durch
etwa zwei Dutzend neuentdeckte Textquellen. Der Autor Diethelm
Brüggemann, 1967 promoviert bei Ludwig Erich Schmitt in
Marburg, im selben Jahr berufen auf die germanistische Professur an der
National University of Ireland in Dublin, später (1984-1988)
in gleicher Funktion an der University of the Witwatersrand,
Johannesburg (S.A.), hat sich in seinen Publikationen zunehmend mit
Fragen der hermetischen Tradition befasst. Zuletzt dazu: "Makarie und
Mercurius. Goethes 'Wilhelm Meisters Wanderjahre' als hermetischer
Roman" (1999) sowie "Alchemie ohne Labor. Aufschlüsselung des
Kryptogramms in Rembrandts Radierung 'Sogenannter Faust'", in: Jahrbuch
der Berliner Museen 43 (2001). (Königshausen & Neumann)
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Doris
Claudia Borelbach: "Mythos-Rezeption
in Heinrich von Kleists Dramen
Wenn Kleist in seinen Dramen, zumal in der "Familie
Schroffenstein", in "Penthesilea", im "Zerbrochnen
Krug" und in "Amphitryon" in auffälliger Weise mythische
Stoffe
und Gehalte thematisiert, so ganz offensichtlich nicht, um im Bunde mit
den
Frühromantikern der "Erwartung eines kommenden Gottes" das
Wort zu
reden. Vielmehr scheint es ihm vor allen Dingen darum zu tun, die
Fortgeltung
mythischer Denkweisen in der Moderne sinnfällig zu machen. Im
Widerspruch zum
aufklärerischen Verdikt über den Mythos einerseits
und im Widerspruch zum
frühromantischen Versuch seiner Rehabilitierung andererseits,
wie er im
Programm der "Neuen Mythologie" Gestalt gewonnen hat, erweist sich
Kleists Mythos-Rezeption als eigentümlich ambivalent. Nicht
nur depotenziert
sie den Mythos, um in kritischer Absicht seine terroristische Funktion
zu
erhellen. Sie verteidigt zugleich gewisse Wahrheitsgehalte, die dem
Mythos
inhärent sind und die aufs Engste mit dessen poetischer
Qualität
zusammenhängen. Eine mögliche Erklärung
für diese Ambivalenz liegt darin, dass
Kleist den Mythos selbst als "eine der Leistungsformen des Logos"
(Hans Blumenberg) anerkennt. Er billigt ihm bestimmte
erkenntniskritische Potenziale
zu, weil er der zeitgenössischen Dominanz der Ratio
grundlegend misstraut.
Gerade in dieser Distanzierung, so zeigt die vorliegende Studie, liegt
die
Modernität der Kleistschen Dramen entschieden
mitbegründet. Die Autorin Doris
Claudia Borelbach studierte Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte
an der
FU Berlin und an der Sorbonne. Seit 1996 DAAD-Lektorin für
deutsche Sprache und
Literatur an der Université de Vincennes à Saint
Denis (Paris VIII).
(Königshausen & Neumann)
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Jens Bisky:
"Kleist" zur
Rezension ...
Eine
Biografie. Das
unstete Leben des Heinrich von Kleist
Gerhard Schulz: "Kleist"
zur Rezension ...
Eine Biografie
Hans Joachim Kreutzer: "Heinrich von Kleist" zur Rezension ...