Georg Klein: "Sünde Güte Blitz"


Sündhaft gut und blitzgescheit

Es ist Samstag, und es ist Nacht in einer kleinen Stadt nahe der deutsch-polnischen Grenze. Angela Z., eine arbeitslose Physikerin, die sich als Hausmeisterin ein Zubrot verdient, feiert mit einer Flasche Sekt ihren 45. Geburtstag. Nur der Vollmond leistet ihr Gesellschaft. Bis plötzlich ein merkwürdiges Geburtstagsgeschenk bei Angela auftaucht. Ein Geschenk, das buchstäblich vom Himmel fällt und das durch sein unerwartetes Erscheinen bewirkt, dass Angela Z. ihrerseits aus allen Wolken fällt. Der Ankömmling entpuppt sich als ein Wesen von einem anderen Stern. Aber es ist nicht etwa das Sams aus Paul Maars Kinderbüchern, es ist ein nackter Mann, ein Gesandter, ein Bote aus einer anderen Welt auf die Erde beordert. Doch woher kommt er? Wer hat ihn geschickt, und was ist seine Botschaft? Obwohl die Geschichte aus der Sicht eines Angehörigen jener fremden Rasse erzählt wird, denn der Erzähler spricht immer von unserem Gesandten, von unserem Boten, erfährt man nur wenig über Sinn und Zweck der Mission dieses splitternackt vom Himmel gefallenen Gesandten. Beschwerlich ist denn auch der Weg, auf dem der Leser sich seinen Weg zum Verstehen bahnt, immer wieder verstrickt er sich im bizarren Gestrüpp von seltsamen Andeutungen und aberwitzig skurrilen Begebenheiten.

Nachdem der geheimnisvolle Gesandte nun etwas unsanft aber doch unversehrt auf dem Planeten Erde gelandet ist, erfährt der Leser in den folgenden sechs Kapiteln zunächst, was sich aus Angelas Perspektive in den letzten sechs Monaten so alles an Seltsamem zugetragen hat im Umfeld jener Gebäude, für die sie als Hausmeisterin Verantwortung übernommen hat. Im Mittelpunkt steht dabei ein Ärzteteam, Dr. Schwartz und Dr. Weiss, zwei Allgemeinmediziner, die sich dort niedergelassen haben und für einiges Aufsehen sorgen, wobei insbesondere Dr. Weiss in der Lage zu sein scheint, erstaunliche Dinge zu bewerkstelligen. Aber auch sonst geschieht allerhand Seltsames. Kurzbeinige, mit Quadratschädeln ausgestattete Zwerge geben ihre Visitenkarte ab, beispielsweise als Spiegelbild auf einem lackierten Schuhschrank. Und die nur däumlingsgroße aber rapide wachsende Frucht eines bemerkenswerten Geburtsvorgangs spukt hin und wieder durch das unwirklich anmutende Geschehen, und zwar mit einem bestrumpften und einem unbestrumpften Fuß. Fragen tun sich auf. Was transportiert Dr. Weiss in seinem auffälligen roten Lederrucksack, den er ständig mit sich herumträgt? Warum lässt er niemanden in seine Wohnung? Wer oder was bewirkt seine erstaunlichen diagnostischen Fähigkeiten und die Heilwirkung, die offenbar von ihm ausgeht? Ist es vielleicht der Gnom mit dem Bocksgeruch, der diese heilenden Kräfte auf den Doktor überträgt? Und was hat der verstorbene Tüftler und Hobby-Gelehrte Gottlieb Ameis mit all dem zu schaffen? Genau wie der kleine Sportsfreund, das von Dr. Weiss röchelnd und hustend ins Leben gespieene Söhnchen, trank er zu Lebzeiten mit Vorliebe Ziegenmilch und musste dazu in seiner Jugend über Zicklein, Geißen und Böcke wachen. Oftmals mit einem bestrumpften und mit einem Barfuß. Später elektrisierte und galvanisierte er dann Menschen mit Hilfe der von ihm selbst konstruierten Apparate, aber geheilt hat er damit niemanden. Ja, selbst der geniale und nahezu unfehlbare Diagnostiker Dr. Weiss stößt an seine Grenzen, als er vor einem banalen Nasenbluten seine ärztlichen Waffen strecken muss. Erst die in Wasser aufgeweichten Weißbrotklumpen, die seine Sprechstundenhilfe ihm in die Nasenlöcher pfropft, können den Blutfluss zum Versiegen bringen. An einer Stelle des Buches erklärt der Herr Dr. Weiss, dass alle Menschen auf sämtlichen Bühnen des Lebens Amateure seien, dass ein echter Fachmann ihm noch nicht untergekommen sei, dass sich das wahrhaft Professionelle vor allem in einem möglichst gewitzten Vortäuschen des Fachmännischen zeige.

Und auch im Roman ist fast alles falsch an den Menschen, es ist Fassade so wie die Fassade auf dem Umschlagbild. Aber die Fassade hat Löcher, Fenster, die zu einer anderen Wirklichkeit weisen. Und untrennbar ineinander verwoben scheinen Traumwelt und Wirklichkeit. Katzengleich, auf leisen Sohlen, schleicht sich etwas unbestimmbar Abstruses in den Alltag der Personen und verzerrt die gewohnte Normalität ins Absurde. Das Ganze mündet zum Schluss in einer Art irrealer Unlösung. Die Antworten auf viele der aufgeworfenen Fragen verwehen im Wind grotesker Mutmaßungen, und die zwischendurch wie Krümel ausgestreuten Hinweise können den Hunger des Lesers nach Wissen oder Aufklärung nicht stillen. So wenig, wie der menschliche Hunger nach Wissen überhaupt befriedigt werden kann. Und da sind wir beim Hauptthema des Buches, der Wissensgläubigkeit, dem uneingeschränkten Vertrauen in die Allmacht der Wissenschaft, die hier immer wieder in Frage gestellt wird. Das Buch beginnt mit einem Zitat Gottfried Benns: "Lesen Sie viel; auch wissenschaftliche Bücher, obschon die Wissenschaft als Ganzes Unfug ist, ist sie lehrreich", und es endet mit der Frage: "Was wissen wir? Was blökt die hehre Wissenschaft?"

Die Sprache Georg Kleins ist von einer unaufdringlichen Eleganz, eine gleitende, beinahe schwerelose Eloquenz des geschriebenen Wortes, und sie ist von fesselndem Reiz, mit Witz und Metaphern angereichert in der genau richtigen Dosierung, dazu von einer beklemmenden, oftmals auch von Bitterkeit durchtränkten Ironie. Lesen Sie den Roman zweimal oder dreimal, das Buch ist es wert, mehrfach gelesen zu werden. Wie sagte Karl Kraus sinngemäß: Man lese alle Schriftsteller zweimal, die einen entdeckt man, die anderen entlarvt man.

(Werner Fletcher; 04/2007)


Georg Klein: "Sünde Güte Blitz"
Rowohlt, 2007. 192 Seiten.
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Georg Klein wurde 1953 in Augsburg geboren und lebt in Ostfriesland. Sein Roman "Libidissi" wurde 1998 als eines der wichtigsten Bücher gefeiert. 1999, im Erscheinungsjahr der Erzählungen "Anrufung des Blinden Fisches", wurde ihm der "Brüder-Grimm-Preis" verliehen und anno 2000 der "Ingeborg-Bachmann-Preis".

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

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