Gert Ueding: "Abenteuer im Wirklichen oder Die Gegenwart unserer Klassiker"


Zeitlose Literatur und ihre Bedeutung für die Leser von heute

Wer bestimmt eigentlich darüber, welche Bücher man gelesen haben muss? Welche Kriterien müssen sie erfüllen?

Gert Ueding vertritt die Ansicht, dass die Bedeutung eines "Klassikers" davon abhängt, ob er uns berühren kann, ob wir uns darin wieder finden. Unter diesem Gesichtspunkt untersucht er bedeutende Literatur von der Antike bis in unsere Zeit. In der Einleitung stellt der Autor seinen Anspruch an lesenswerte Werke vor und gibt dem Leser Hilfestellungen zum optimalen Gebrauch seines Buchs. Die Kapitel orientieren sich an zentralen menschlichen Erfahrungen: "Begegnungen", "Zwangslagen", "Raubmenschen", "Glückswechsel", "Abenteuer im Wirklichen". Unterkapitel greifen konkrete Situationen heraus. So findet der Leser unter "Begegnungen" nicht nur den zwischenmenschlichen Aspekt, sondern vor allem die Begegnungen zwischen den Literaturen unterschiedlicher Länder; unter anderem arbeitet er vorzüglich die Hassliebe und gegenseitige Abhängigkeit von Deutschen und Franzosen heraus sowie die Faszination des Orients, der in der Türkei und mit der Literatur über die Türkei beginnt. Doch auch Wells' "Krieg der Welten" enthält Begegnungen. Überhaupt hat der Autor keine Kontaktschwierigkeiten mit Werken, die von Wissenschaftlern als trivial abgetan werden, vom Publikum jedoch begeistert angenommen wurden.

"Zwangslagen" thematisiert vor allem persönliches Unglück, zum Beispiel angesichts von Naturkatastrophen - hier begegnet uns unter anderem Storms "Schimmelreiter" - oder mittelbar und unmittelbar aufgrund von Krankheit und Tod (beispielsweise in "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad). Doch auch die Politik stellt Zwangslagen bereit, wie etwa der Diktator in Sartres "Im Räderwerk" bestätigen kann.

"Raubmenschen": der Titel spricht für sich. Übergriffe aller Art sind schon immer Thema in der Literatur gewesen, wie übrigens auch die "Glückswechsel", man denke nur an Jeanne d'Arc, zunächst als Siegerin über England gerühmt, dann als Hexe verbrannt. "Abenteuer im Wirklichen" hingegen ist vielleicht das vielschichtigste Kapitel des Buchs. Naturbetrachtung in der Literatur stellt keine Seltenheit dar und kein Risiko für den Autor, ganz anders als Tagebücher, deren Brisanz ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Die Politik kommt im Unterkapitel "Verfassungsgeschichten" noch einmal zum Zuge; "Brot und Spiele" sowie "Wein-Lese" befassen sich mit elementaren Bedürfnissen. Neben den Utopien "künstlicher Paradiese" bietet die Literatur jedoch beispielsweise auch viele berührende Szenen des "Abschieds von den Eltern", etwa in "Effi Briest" und Helga Königsdorfs "Entsorgung der Großmutter".

Die Aufmachung des Buchs lässt auf strengen Sachbuchcharakter schließen: Jeder Abschnitt wird von einem charakteristischen Literaturzitat eingeleitet, und in der Randspalte findet der Leser alle für diesen Abschnitt relevanten Stichworte. Am Ende des jeweiligen Unterkapitels werden, ebenfalls in der Randspalte, die zitierten Werke samt Autor und Entstehungsjahr aufgeführt. Darüber hinaus kann man alle im Buch erwähnten Werke im Literaturverzeichnis nachschlagen.

Die eigentlichen Kapitel sind zwar durchaus sachlich, doch ohne Strenge und mit Herzblut verfasst, sodass für den Leser rasch ersichtlich wird, was das Anliegen des Autors ist - und worum es auch in der Literatur grundsätzlich geht: um den Menschen in seiner Welt, wie er sich mit ihr auseinandersetzt, sie manchmal bekämpft, mitunter siegt, oft freilich untergeht. Wie bereits erwähnt, greift der Autor anhand der einzelnen Abschnitte Lebenssituationen aller Art heraus und führt Beispiele aus der Literatur an, in denen genau diese Situationen treffend und anrührend thematisiert werden, epochen- und nicht selten auch kulturübergreifend und daher hier und heute von ungebrochener Aktualität. Wo nötig, flicht Gert Ueding behutsam Interpretationen ein, meistens freilich sprechen die Werke für sich, von denen die meisten den Freunden der "Belles Lettres" vertraut sein dürften.

Dank der übersichtlichen Aufmachung findet man sich rasch und problemlos im Buch zurecht. Wer möchte, kann das Buch ganz konventionell von Anfang bis Ende lesen, doch lässt es sich ebenso gut abschnittsweise betrachten - von Stichwort zu Stichwort, je nach Anliegen und Gemütsverfassung des Lesers.

Ein schönes und bedeutsames Buch, das dem Leser Freude an den "Klassikern" der Literatur vermittelt und aufzuzeigen vermag, welche unter ihnen auch heute nichts von ihrer Relevanz eingebüßt haben.

(Regina Károlyi; 09/2007)


Gert Ueding: "Abenteuer im Wirklichen oder Die Gegenwart unserer Klassiker"
Klett-Cotta, 2007. 327 Seiten.
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Gert Ueding wurde 1942 in Schlesien geboren und wuchs im Rheinland auf. Nach Studium und Dissertation arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter Ernst Blochs. 1988 übernahm er den Lehrstuhl für Rhetorik an der Universität Tübingen von Walter Jens. Er ist einem breiteren Publikum auch als Kritiker und Publizist bekannt.

Leseprobe:

Wir sind alle noch hier

"Erhielte sich ein Staat durch Straßenbeleuchtung und Kanalanlagen, wäre Rom nie untergegangen."
Gottfried Benn

Über Leselust, literarische Bildung und die Gegenwart unserer Klassiker


Soviel Klassik - um es salopp zu sagen - hatten wir schon lange nicht mehr. Ob monumentale Klassiker-Bibliothek, ob Kanon-Anthologien für alle Gattungen oder Auswahl-Editionen ehrgeiziger Feuilletonredakteure - sie alle beanspruchen mehr oder weniger eingestanden das Kriterium mustergültiger, zeitenthobener, eben: klassischer Prägung. Die Konjunktur des Geschäfts (denn ein Geschäft ist es natürlich auch) stimuliert inzwischen sogar Literaturprofessoren, ihrer Lesebiographie kanonischen Rang zu verleihen; wie bescheiden mutet dagegen das Büchertagebuch des großen Romanisten Curtius an. Die Konjunktur erreicht schon solche Ausmaße, daß man sich an ein Gleichnis Hegels erinnert fühlt: die Eule der Minerva beginne erst in der Dämmerung ihren Flug; was nichts anderes heißt, als daß die Reflexion hinterherhinkt und das Nachdenken über den Tag beginnt, wenn er eigentlich schon vorbei ist. Ein Ton von Musealität im fragwürdigen Sinne schwingt dabei mit, denn wenn wir ein vitales Verhältnis zu unserer klassischen Literatur hätten, brauchte es keine Reservate.

Die Leselisten und Kanon-Anthologien sind also ein Symptom und zugleich der Versuch, der schwindenden Leselust durch kräftige Impulse neuen Auftrieb zu geben. Wer solche Ambition belächelt, vergißt die machtvolle Tradition europäischer Kanonbildung, die in modernen Versionen fortlebt. Als Kanon bezeichneten die Griechen zunächst nur Maßrute oder Waagbalken, ein Norm-Maß also, das im Tempel niedergelegt als Richtschnur für das handwerkliche Instrument diente. Bald schon wurde der Begriff übertragen auf Norm und Regel im allgemeinen, bedeutete einen Traditionsbestand, der das Gültige aus dem Vergänglichen heraushob und der Zukunft übermittelte. "Der 'Kanon'", so faßte zuletzt noch der wohl größte Kenner der europäischen Bildungsgeschichte Manfred Fuhrmann seine wichtigsten Funktionen zusammen, "sucht zwischen der unüberschaubaren Vielfalt der Kultur und den einzelnen, die an ihr teilhaben, zu vermitteln: Er reduziert die Potenzialität auf Aktualität, auf eine für das einzelne Subjekt überschaubare Auswahl."

Einen Aspekt gilt es dabei noch zu betonen. Der literarische Kanon ist eine Erfindung der Rhetoren, seine früheste Fixierung findet er bei Cicero und Quintilian, aber das heißt nichts anderes, als daß er zuerst für die rednerische Praxis gedacht war, im Kontext der Volksversammlung, auf dem Forum, in der Beratungsrede den Ort seiner Bewährung fand - kurz: daß seine politische Wirksamkeit ihn legitimierte, keine allgemein menschliche Bildungsidee, wie man sie ihm erst seit dem 19. Jahrhundert zuschrieb. Der literarische Kanon, die in ihm gesicherten Autoren, formulierten den gemeinsamen Grund, aus dem die Überzeugungsmittel ihre Glaubwürdigkeit, das rednerische Ethos seine gewinnende Kraft und die Sprache ihre Klarheit und Ausdrucksvielfalt gewinnen. So blieb er auch immer offen, denn wenn sich das Selbstverständnis der Gemeinschaft änderte, wandelte sich auch der Kanon, mußte ergänzt und modifiziert werden. Der Kanonschwund der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts zeigt nur einen besonders radikalen Aspekt solchen Wandels, richtete sich mehr gegen die im Kanon tradierte Bildungsidee als gegen seine handlungsorientierende Funktion - die man schlicht übersehen hatte.

Die gegenwärtige Kanondiskussion hat viele Facetten: fragwürdig rückwärtsgewandte und produktiv weiterführende zugleich. Ein ungebrochenes Zurück zum Bildungskanon, wie ihn das 19. Jahrhundert mit seiner klassizistischen Nostalgie entwarf, wird es nicht geben. Die Voraussetzung, nämlich die Verschränkung von bürgerlicher Bildung und Besitz, ist verschwunden. Doch gibt es zwingende Gründe, die für eine erneute und erneuerte Kanonbildung sprechen - und zwar jenseits privater Vorlieben. Wenn die deutsche Sprache als differenziertes, präzises, ästhetisch ausdrucksstarkes und rhetorisch wirkungsvolles Medium der Verständigung erhalten bleiben soll, sind wir auf die Literatur angewiesen. Alle anderen Einrichtungen und Organe des Sprachgebrauchs, die Massenmedien, Parlamente, Bildungsinstitutionen vernutzen Sprache und sind, wenn sie nicht selber verkommen wollen, auf den Kanon angewiesen. Das gilt natürlich auch für die Schriftsteller selber, die nicht schon kraft Amtes dem allgegenwärtigen, allesdurchdringenden Universum des öffentlichen Geredes entgehen können, sondern ebenso die kritische Funktion des Kanons benötigen. Dessen begrifflicher Ursprung als Eichmaß enthält eben jenen Aspekt normativer Genauigkeit, die es erlaubt, aus der unendlichen Fülle der Gegenstände die maßgebenden auszuwählen und weiterzureichen. An der Notwendigkeit eines derartigen Korrektivs haben auch Genieästhetik, Originalitätsforderung und Werkautonomie nichts geändert - im Gegenteil. Die Proklamation des autonomen Kunstwerks führte geradewegs in die alles nivellierende Maschinerie der modernen Kulturindustrie, als deren Widerpart sie sich ursprünglich verstehen wollte. Wenn jedes Werk selbst regelsetzend ist, gibt es keinen Schutz mehr vor Regellosigkeit auf der einen, hemmungsloser Anpassung an Trivialität auf der anderen Seite. Daß die Literatur diese kanonische Funktion bis heute untergründig bewahrt hat, macht übrigens gerade ihre Ausbeutung in den Massenmedien sichtbar. Was wären diese ohne das Reservoir an Mustern, Stoffen, Motiven, das nirgendwo anders als in der "Bibliothek von Babel" - mit Borges gesprochen - aufbewahrt ist?

Damit hängt unmittelbar auch der wichtigste Grund zur Kanonbildung zusammen. Er spiegelt nicht nur die kollektive Überzeugung einer Gemeinschaft wider, die sich in ihrem rednerischen kommunikativen Verhalten sprachlichstilistisch ebenso wie inhaltlich-argumentativ darauf beziehen kann und diesen gemeinsamen Grund braucht, wenn sie überleben will; der Kanon schafft diese ideologische Basis der Gesellschaft mit, das ist seine produktive Funktion immer gewesen. So erwartete Gervinus, ein aufrechter, den Jungdeutschen verpflichteter Germanist im 19. Jahrhundert, von der Vollendung der Literatur die "politische Wiedergeburt des humanistischen Deutschland" und sah seine Aufgabe darin, "aus dem allbekannten herauszugreifen und durch Anordnung und Verbindung zu wirken". Genauer kann man Entstehung, Begründung und Funktionsweise eines literarischen Kanons nicht beschreiben. Und ist nicht immer noch die kulturelle Identität der Deutschen im Zeitalter der Zuwanderung und der europäischen Bevölkerungsbewegungen ein aktuelles Problem geblieben bis heute? Könnte, sollte dieser Kanon nicht auch, im Gegenzug, vor jeder Borniertheit und Erstarrung schützen, indem er die subversiven Traditionen ebenso berücksichtigt wie jene Werke, die nach Ernst Jüngers fruchtbarer Unterscheidung über Geschmacksfragen hinaus sind, aber auf ihre Weise unvergleichlich, weil sie einen Einblick geben "in das Gefüge der Welt mit Paradiesen und Höllen, mit Gipfeln und Abgründen"? Aber natürlich doch! Bewahren ja die Märchen, die Kolportage: also das tapfere Schneiderlein und Winnetou, der Graf von Monte Christo oder Rinaldo Rinaldini den Traum von Abenteuerlust und Freizügigkeit ungebrochener und oftmals kräftiger als manches Werk der sogenannten Hochliteratur. Sie erinnern uns, kontrastreich und geschnitzt wie ein Holzbild, an die Urmotive der Glückserwartung und Sehnsucht nach Ferne, des Ausgeliefertseins und der Rettung. Viele dieser Bücher, die, mit Walter Benjamin zu sprechen, die Deutschen lasen als ihre Klassiker schrieben, sind nie in die feinen literarischen Salons eingelassen worden: wir öffnen ihnen hier weit die Türen. Sie sollen eintreten zusammen mit anderen Hallodris und vergessenen Eckenstehern der Weltliteratur wie Wilhelm Busch oder Karl Valentin, Jules Verne oder Käptn Marryat, Cooper oder Max Dauthendey. Denn sie haben im Leben geglüht und können weiterglühen, wenn wir ihnen erneut begegnen. Auch im Hause der Literatur gibt es viele Kammern, und manchmal entdecken wir gerade in der letzten, bisher verachteten, die Geschichte, die tröstet oder aufreizt, die wir brauchen, um über eine schwere Stunde zu kommen oder dem Glück des Tages einen ganz einfachen, ganz leichten Märchennamen zu geben.

Dieses Buch stellt daher keinen Kanon im üblichen Sinne vor. Sein Ausgangspunkt ist die paradoxe Situation, daß wir auf der einen Seite den Fundus stetig wachsender Klassikerbibliotheken haben, auf der anderen Seite aber ein Publikum, das diese Errungenschaften kaum noch zur Kenntnis nehmen kann, weil es zu deren Gebrauch ein Spezialwissen bräuchte. Die Anstrengungen der Wissenschaften, die überlieferten Werke dem modernen Verständnis zugänglich zu machen, verkehren sich in ihr Gegenteil, und einer Mauer gleich türmt sich diese Forschungsliteratur vor den Büchern auf, denen sie eigentlich neue Leser zuführen sollte.

Wie aber die Werke selber wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken? Die bloße Präsentation des Textes reicht ebensowenig aus wie seine Ergänzungen durch Nachworte und Anmerkungen, denn beide setzen voraus, was erst geschaffen werden müßte: die Einübung in das so informierte wie neugierige Lesen, denn die Entdeckung des "tua fabula narratur" gelingt erst, wenn wir in die erzählte Geschichte auch einsteigen können und begreifen, daß darin unsere Angelegenheiten sich zu entwickeln beginnen. Die Literaturwissenschaften haben Goethe, Schiller, Shakespeare oder Kafka zwar in alle möglichen Richtungen ausgewalzt, doch die wichtigste Frage, ob deren Bücher etwas zu unserer Lebensmeisterung beitragen können, diese Frage haben sie vergessen und uns gelehrt, sie ebenfalls zu vergessen. Die klassische Literatur als ein Instrument unserer Daseinsbewältigung - wer diese Ansicht vertritt, wird immer noch belächelt; dabei ist es das einzige Kriterium, das unsere Beschäftigung mit Literatur, mit Kunst überhaupt rechtfertigt. Kinder und Jugendliche gehen an Bücher und alle Medienprodukte ganz instinktiv mit dem Interesse heran, ob sie in ihrer Vorstellungswelt eine neue Tür öffnen, ob sie sie brauchen können in dem schwierigen Spiel des Erwachsenwerdens. Von ihnen können wir alle lernen, daß Bücher dazu taugen müssen, den Forderungen unseres Tages gewachsen zu sein.

Seit von Literatur die Rede ist, traut man ihr viel mehr zu, als es sich unsere Schulweisheit träumen läßt. Griechen und Römer schrieben der Dichtkunst therapeutische Wirkungen zu. Für Aristoteles, um nur ihn zu nennen, funktioniert die Tragödie nach strenger medizinischer Analogie, so daß die so viel interpretierte Katharsis als eine alles Verstörende und Entsetzende abführende Purgierung erscheint - eine medizinische Reinigung, wie eine Kur. In der Renaissance, an der Schwelle zur Neuzeit, hat man das nicht anders gesehen. Poesie galt als medicina mentis oder medicina animi, als geistige oder seelische Medizin. Boccaccio etwa betrachtet das Erzählen von Geschichten als ein die Lebenswirren lösendes, Schwermut und Trägheit, aber auch Unruhe und inneren Aufruhr heilendes Kurmittel. Jeder Leser des Decamerone weiß, daß die darin enthaltenen, mal luftigleichten, mal hochbedeutsamen Geschichten von einer Gesellschaft junger Adliger erzählt werden, die sich vor der Pest aus Florenz auf ein Landgut gerettet haben und Erzählen als Heilmittel gegen die tödliche Epidemie nutzen. Nein, wir brauchen uns nicht zu genieren, wenn wir die klassischen Bücher als Lebenshilfe lesen: wir verwirklichen damit nur die innerste Wirkungsabsicht der Literatur selber, die sich dadurch von allen anderen Künsten abhebt. Im Zeitalter der ungehemmten Bildmedien kann diese ihre Sonderstellung nicht energisch genug betont werden - philosophisch gerecht ist ihr übrigens allein Hegel geworden: "Die Dichtkunst ist die allgemeine Kunst des in sich frei gewordenen, (nämlich) nicht an das äußerlich sinnliche Material zur Realisation gebundenen Geistes." Das klingt etwas gestelzt, so daß man fast vergessen könnte, wie lustvoll und erleichternd, ein welcher Gesundbrunnen diese Erfahrung des sich Aufschwingens über lastende Erdenschwere ist. Denn alle in Form, Farbe und Ton oder Materie sich mitteilende Kunst legt unsere Vorstellung an die Kette fremder, sinnlicher Erscheinungen, nur im Lese-Erlebnis gehört die Einbildung uns. Hermann Broch hat die Hegel-Sentenz in eine einfache Lese-Erfahrung gleichsam übersetzt: "Im Bett zu liegen, krank zu sein, nicht in die Schule zu gehen und Karl May lesen zu dürfen, hat ja stets seine trostreichen Reize in diesem Leben gehabt."

Aus solchen Überlegungen heraus ist dieses Buch entstanden. Es will die Bücher wieder näherrücken, will Berührungsängste abbauen, will am plastischen Beispiel zeigen, daß nicht das Alter eines Buches über seine Aktualität entscheidet, sondern nur die Tatsache, ob und wie darin unsere Geschichte und die Geschichte unserer Lebensfragen erzählt wird. Damit wird die längst üblich gewordene Fragerichtung umgekehrt: Nicht die geschichtliche Entwicklung der Literatur von der klassischen Antike bis heute interessiert uns, sondern die Antworten stehen im Zentrum, die die klassischen Werke auf unsere Probleme zu geben haben. Sie werden in diesem Buch behandelt, als wären sie gerade geschrieben, und siehe, sie antworten auf unsere Europa-Debatte, reagieren auf den Kampf um Bagdad und kennen die angeblich neue Armut ebenso, wie sie schon das aktuelle Verhältnis von Staat und Religion beleuchten können. Sie erklären, sie machen uns Vorschläge zu unserer Orientierung und sie tun dies oftmals um so effektvoller, als sie unser Problem in einer verfremdenden, überraschenden Konstellation erhellen. So treten wir mit ihnen in ein Gespräch, denn was in dem Licht unserer Erfahrungen so verwirrend, so dunkel, so rätselhaft aussieht, bekommt durch das Echo aus der Weltliteratur Profil, Konturen. Nun liegt nach solch hochgemuten Gedanken auch die kritische Frage nahe: was hat denn die als klassisch geltende Literatur mit den Forderungen des Tages zu tun? Ist es nicht im Gegenteil ihre Aufgabe, den Horizont über den Tag hinaus zu erweitern, ganz im Sinne des Schiller-Satzes: "Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein veraltet nie"? Und hatte nicht Julius Campe, der mutige Verleger Heines und Börnes, einem jungen Autor ausschließlich politischer Gedichte warnend geschrieben, daß es gerade die Werke seien, "die der Zeit angehören, die in zehn Jahren leicht vergessen sind, gerade der Dinge wegen, die sie jetzt ziehen machen"? Klassizität also, so scheint es, ist nur durch eine Art Zeitenthobenheit zu haben. Doch halt - so einfach liegen auch hier die Dinge nicht. Literatur, die sich in allzu luftige Höhen emporgeschwungen hat, der jede Bodenhaftung verlorenging, die - um noch einmal Schiller zu zitieren - jene Maxime: "Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben in des Ideales Reich" allzu wörtlich nahm, hat sich in der Regel tatsächlich verflüchtigt und keine Dauer, keine Haltbarkeit im Gedächtnis des Lesepublikums erlangen können. Distanz zu den Forderungen des Tages also scheint nötig, soll das Werk nicht als Raub kurzfristiger Eindrücke mit der Aktualität vergehen, an die es sich kettet. Doch es muß immer eine Distanz aus der Erfahrung der Nähe sein, aus der Kenntnis der Fragen, die uns auf den Nägeln brennen. Wenn der Schriftsteller sich von der Wirklichkeit entfernt, darf er das, so paradox es klingt, nur mit dem Willen zu einer neuen Nähe, einer anderen Wirklichkeit tun - bei Strafe des Vergessens.

Werfen wir doch nur einen Blick auf die größten Werke, erinnern wir uns, wie der unsterbliche Don Quijote aus der satirischen Vermengung zeitgenössischer Lese-Süchte hervorging, wie Faust im Humus des Geniezeitalters wurzelt, oder wie Effie Briest, hundertfach gespiegelt in den Journalen der Zeit, am engen Moralkodex ihrer Gesellschaft zugrunde ging - lassen wir diese und alle uns sonst geläufigen Großwerke der Literatur vor unserem inneren Auge Revue passieren, so erleben wir das Paradox, von dem eben die Rede war, am anschaulichen Beispiel. Daß sie uns heute interessieren können, daß wir mit den Griechen nach Troja ausfahren, mit Emma Bovary an den prosaischen Zumutungen des grauen Alltags leiden oder uns mit Josef K. in die undurchsichtigen Machenschaften der Regierungsapparatur verflochten sehen, daß wir in allen diesen Büchern immer auch ein Stück unserer eigenen konkreten Geschichte wiederfinden können, liegt eben daran, daß ihre Autoren sich selber mit ihrer Welt eingelassen haben, dann aber die Kraft fanden, deren Grenze zu überschreiten: auf uns, auf unsere Fragen, unsere Verwirrungen, unsere Ungelöstheit hin. Im gleichen Zug, in dem wir auf sie zurückgreifen, greifen sie auf uns voraus, und das nicht in einem bloß allgemeinen oder allgemein menschlichen Sinne, sondern ganz konkret und mit Widerhaken, die sich fest in unsere Lebenswirklichkeit einlassen, wenn wir es denn wollen. Das werden diese Streifzüge in die weiten Landschaften der klassischen Literatur zeigen: beispielhaft natürlich, aber mit Perspektiven, die jeder Leser aus eigener Erfahrung weiterverfolgen mag. Wobei mit "klassisch" kein eng begrenztes Register literarischer Hochwerke gemeint ist, sondern zur Bezeichnung jener Bücher dient, die aus ihrer Zeit kommend auch immer die unsrige mitbedeuten - der Zukunft verschwistert und deshalb unveraltet. Ausgangspunkt waren immer konkrete Ereignisse unserer Gegenwart. Die Streifzüge, die an diesen Brennpunkten beginnen, folgen keinem abstrakten Programm, sind ganz unsystematisch, verhalten an berühmten und vielfrequentierten Aussichtspunkten ebenso wie an versteckten, kaum noch besuchten Schauplätzen. Man kann dieses Buch lesen wie einen literarischen Kalender, der - dem 100jährigen gleich - unsere Tage in ihrer Konstellation mit allen anderen Tagen der Literatur zeigt, uns vor- und zurückverweist, doch immer dem Jetzt, unserem Lebenstage, verschworen, und nicht der strengen Chronologie, sondern dem Zeitmaß der Sachen folgend, die in ihnen verhandelt werden. Das macht den wichtigsten Unterschied zu allen anderen vergleichbaren Unternehmungen aus: die Ansprache der hier zu Worte kommenden Autoren ist vor allem objektiv, in der Richtung der Themen, Sachen, Motive selber begründet, nicht allein liebhaberhaft der individuellen Lese-Erfahrung folgend (obwohl natürlich auch dieser Beweggrund immer mitgewirkt hat).

Und schließlich kann man dieses Buch auch einfach aus Vergnügen lesen; die Dichter kommen überall ausführlich selber zu Wort. So mag sich der enthusiastische Leser an Wiederbegegnungen erfreuen, auch einmal bei einem unvermuteten Zusammenstoß befremdet stutzen und in abgelegenen Gegenden neue Entdeckungen machen. Der neue, der junge Leser aber kann sich die Welt der Literatur von dem aussichtsreichsten Gesichtspunkt aus erschließen, den es für ihn gibt: den seiner eigenen Lebens- und Zeiterfahrung. Die Überraschung, daß die eigene Geschichte so viele unbekannte Facetten hat, bleibt in keinem Falle aus, doch brauchen wir die Schlüssel dazu: wir müssen finden können, was uns angeht.

So soll dieses Buch auch eine Art Fahrplan sein, der zu den passenden literarischen Adressen führen kann. Die Fundörter sind übersichtlich geordnet in fünf großen Kapiteln, die sich dann jeweils in einzelnen Pfaden verzweigen: die Vielfalt und Ambivalenz menschlicher Begegnungen steht am Anfang; ihm folgt das Labyrinth von Zwangslagen, in die wir geraten, wenn wir miteinander oder mit Natur und Staat in Konflikt geraten; die Überschrift Raubmenschen lenkt den Blick auf die andere, die dunkle Seite des menschlichen Daseins, auf das Böse in seiner spektakulären wie in seiner alltäglichen Ausprägung; von Glückswechseln berichtet der vierte Teil, von Aufstieg und Fall und dem possenhaften Spiel, das sich darum herum entfaltet; das Abenteuer im Wirklichen schließlich entfaltet ein Panorama an gefährlichen, aber auch an unterhaltlichen Seiten unseres Lebens und unserer Geschichte. Immer aber geht es um die Sinngebung des Alltags, unserer täglichen Erfahrung in Beruf und Familie, Politik und Wirtschaft. Aus den Werken, die in diesem Buch zu Worte kommen, tönt, um es mit dem großen Schlußsatz aus Hermann Brochs Die Schlafwandler zu sagen, "die Stimme, die das Gewesene mit allem Künftigen verbindet und die Einsamkeit mit allen Einsamkeiten, und es ist nicht die Stimme der Fruchtbarkeit und des Gerichts, zaghaft tönt sie im Schweigen des Logos, dennoch von ihm getragen, emporgehoben über den Lärm des Nicht-Existenten, es ist die Stimme des Menschen und der Völker, die Stimme des Trostes und der Hoffnung und der unmittelbaren Güte: 'Tu dir kein Leid! Denn wir sind alle noch hier!'" (...)

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