Gert Ueding: "Abenteuer im Wirklichen oder Die Gegenwart unserer Klassiker"
Zeitlose
Literatur und ihre Bedeutung für die Leser von heute
Wer bestimmt eigentlich darüber, welche Bücher man
gelesen haben muss? Welche Kriterien müssen sie
erfüllen?
Gert Ueding vertritt die Ansicht, dass die Bedeutung eines "Klassikers"
davon abhängt, ob er uns berühren kann, ob wir uns
darin wieder finden. Unter diesem Gesichtspunkt untersucht er
bedeutende Literatur von der Antike bis in unsere Zeit. In der
Einleitung stellt der Autor seinen Anspruch an lesenswerte
Werke vor und gibt dem Leser Hilfestellungen zum optimalen Gebrauch
seines Buchs. Die Kapitel orientieren sich an zentralen menschlichen
Erfahrungen: "Begegnungen", "Zwangslagen", "Raubmenschen",
"Glückswechsel", "Abenteuer im Wirklichen". Unterkapitel
greifen konkrete Situationen heraus. So findet der Leser unter
"Begegnungen" nicht nur den zwischenmenschlichen Aspekt, sondern vor
allem die Begegnungen zwischen den Literaturen unterschiedlicher
Länder; unter anderem arbeitet er vorzüglich die
Hassliebe und gegenseitige Abhängigkeit von Deutschen und
Franzosen heraus sowie die Faszination des Orients, der in der
Türkei und mit der Literatur über die Türkei
beginnt. Doch auch Wells' "Krieg der Welten" enthält
Begegnungen. Überhaupt hat der Autor keine
Kontaktschwierigkeiten mit Werken, die von Wissenschaftlern als trivial
abgetan werden, vom Publikum jedoch begeistert angenommen wurden.
"Zwangslagen" thematisiert vor allem persönliches
Unglück, zum Beispiel angesichts von Naturkatastrophen - hier
begegnet uns unter anderem
Storms
"Schimmelreiter" - oder mittelbar und
unmittelbar aufgrund von Krankheit und Tod (beispielsweise in
"Herz der
Finsternis" von Joseph Conrad). Doch auch die Politik stellt
Zwangslagen bereit, wie etwa der Diktator in
Sartres "Im
Räderwerk" bestätigen kann.
"Raubmenschen": der Titel spricht für sich.
Übergriffe aller Art sind schon immer Thema in der Literatur
gewesen, wie übrigens auch die "Glückswechsel", man
denke nur an Jeanne
d'Arc, zunächst als Siegerin über
England gerühmt, dann als Hexe verbrannt. "Abenteuer im
Wirklichen" hingegen ist vielleicht das vielschichtigste Kapitel des
Buchs. Naturbetrachtung in der Literatur stellt keine Seltenheit dar
und kein Risiko für den Autor, ganz anders als
Tagebücher, deren Brisanz ein eigener Abschnitt gewidmet ist.
Die Politik kommt im Unterkapitel "Verfassungsgeschichten" noch einmal
zum Zuge; "Brot und Spiele" sowie "Wein-Lese" befassen sich mit
elementaren Bedürfnissen. Neben den Utopien
"künstlicher Paradiese" bietet die Literatur jedoch
beispielsweise auch viele berührende Szenen des "Abschieds von
den Eltern", etwa in "Effi Briest" und Helga Königsdorfs
"Entsorgung der Großmutter".
Die Aufmachung des Buchs lässt auf strengen Sachbuchcharakter
schließen: Jeder Abschnitt wird von einem charakteristischen
Literaturzitat eingeleitet, und in der Randspalte findet der Leser alle
für diesen Abschnitt relevanten Stichworte. Am Ende des
jeweiligen Unterkapitels werden, ebenfalls in der Randspalte, die
zitierten Werke samt Autor und Entstehungsjahr aufgeführt.
Darüber hinaus kann man alle im Buch erwähnten Werke
im Literaturverzeichnis nachschlagen.
Die eigentlichen Kapitel sind zwar durchaus sachlich, doch ohne Strenge
und mit Herzblut verfasst, sodass für den Leser rasch
ersichtlich wird, was das Anliegen des Autors ist - und worum es auch
in der Literatur grundsätzlich geht: um den Menschen in seiner
Welt, wie er sich mit ihr auseinandersetzt, sie manchmal
bekämpft, mitunter siegt, oft freilich untergeht. Wie bereits
erwähnt, greift der Autor anhand der einzelnen Abschnitte
Lebenssituationen aller Art heraus und führt Beispiele aus der
Literatur an, in denen genau diese Situationen treffend und
anrührend thematisiert werden, epochen- und nicht selten auch
kulturübergreifend und daher hier und heute von ungebrochener
Aktualität. Wo nötig, flicht Gert Ueding behutsam
Interpretationen ein, meistens freilich sprechen die Werke für
sich, von denen die meisten den Freunden der "Belles Lettres" vertraut
sein dürften.
Dank der übersichtlichen Aufmachung findet man sich rasch und
problemlos im Buch zurecht. Wer möchte, kann das Buch ganz
konventionell von Anfang bis Ende lesen, doch lässt es sich
ebenso gut abschnittsweise betrachten - von Stichwort zu Stichwort, je
nach Anliegen und Gemütsverfassung des Lesers.
Ein schönes und bedeutsames Buch, das dem Leser Freude an den
"Klassikern" der Literatur vermittelt und aufzuzeigen vermag, welche
unter ihnen auch heute nichts von ihrer Relevanz
eingebüßt haben.
(Regina Károlyi; 09/2007)
Gert
Ueding: "Abenteuer im Wirklichen
oder Die Gegenwart unserer Klassiker"
Klett-Cotta, 2007. 327 Seiten.
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Gert Ueding wurde 1942 in Schlesien geboren und wuchs im Rheinland auf. Nach Studium und Dissertation arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter Ernst Blochs. 1988 übernahm er den Lehrstuhl für Rhetorik an der Universität Tübingen von Walter Jens. Er ist einem breiteren Publikum auch als Kritiker und Publizist bekannt.
Leseprobe:
Wir sind alle noch hier
"Erhielte sich ein Staat durch Straßenbeleuchtung und
Kanalanlagen, wäre Rom nie untergegangen."
Gottfried Benn
Über Leselust, literarische Bildung und die Gegenwart
unserer Klassiker
Soviel Klassik - um es salopp zu sagen - hatten wir
schon lange nicht mehr. Ob monumentale Klassiker-Bibliothek, ob
Kanon-Anthologien für alle Gattungen oder Auswahl-Editionen
ehrgeiziger
Feuilletonredakteure - sie alle beanspruchen mehr oder weniger
eingestanden
das Kriterium mustergültiger, zeitenthobener, eben:
klassischer Prägung. Die
Konjunktur des Geschäfts (denn ein Geschäft ist es
natürlich auch) stimuliert
inzwischen sogar Literaturprofessoren, ihrer Lesebiographie kanonischen
Rang zu
verleihen; wie bescheiden mutet dagegen das Büchertagebuch des
großen
Romanisten Curtius an. Die Konjunktur erreicht schon solche
Ausmaße, daß man
sich an ein Gleichnis
Hegels erinnert fühlt: die Eule der
Minerva beginne erst
in der Dämmerung ihren Flug; was nichts anderes
heißt, als daß die Reflexion
hinterherhinkt und das Nachdenken über den Tag beginnt, wenn
er eigentlich
schon vorbei ist. Ein Ton von Musealität im
fragwürdigen Sinne schwingt dabei
mit, denn wenn wir ein vitales Verhältnis zu unserer
klassischen Literatur hätten,
brauchte es keine Reservate.
Die Leselisten und Kanon-Anthologien sind also ein Symptom
und zugleich der Versuch, der schwindenden Leselust durch
kräftige Impulse
neuen Auftrieb zu geben. Wer solche Ambition belächelt,
vergißt die machtvolle
Tradition europäischer Kanonbildung, die in modernen Versionen
fortlebt. Als
Kanon bezeichneten die Griechen zunächst nur Maßrute
oder Waagbalken, ein
Norm-Maß also, das im Tempel niedergelegt als Richtschnur
für das
handwerkliche Instrument diente. Bald schon wurde der Begriff
übertragen auf
Norm und Regel im allgemeinen, bedeutete einen Traditionsbestand, der
das Gültige
aus dem Vergänglichen heraushob und der Zukunft
übermittelte. "Der 'Kanon'", so faßte zuletzt noch
der wohl größte Kenner der europäischen
Bildungsgeschichte Manfred Fuhrmann seine wichtigsten Funktionen
zusammen,
"sucht
zwischen der unüberschaubaren Vielfalt der Kultur und den
einzelnen, die an ihr
teilhaben, zu vermitteln: Er reduziert die Potenzialität auf
Aktualität, auf
eine für das einzelne Subjekt überschaubare Auswahl."
Einen Aspekt gilt es dabei noch zu betonen. Der literarische
Kanon ist eine Erfindung der Rhetoren, seine früheste
Fixierung findet er bei
Cicero und
Quintilian, aber das heißt nichts anderes, als
daß er zuerst für
die rednerische Praxis gedacht war, im Kontext der Volksversammlung,
auf dem
Forum, in der Beratungsrede den Ort seiner Bewährung fand -
kurz: daß seine
politische Wirksamkeit ihn legitimierte, keine allgemein menschliche
Bildungsidee, wie man sie ihm erst seit dem 19. Jahrhundert zuschrieb.
Der
literarische Kanon, die in ihm gesicherten Autoren, formulierten den
gemeinsamen
Grund, aus dem die Überzeugungsmittel ihre
Glaubwürdigkeit, das rednerische
Ethos seine gewinnende Kraft und die Sprache ihre Klarheit und
Ausdrucksvielfalt
gewinnen. So blieb er auch immer offen, denn wenn sich das
Selbstverständnis
der Gemeinschaft änderte, wandelte sich auch der Kanon,
mußte ergänzt und
modifiziert werden. Der Kanonschwund der siebziger Jahre des 20.
Jahrhunderts
zeigt nur einen besonders radikalen Aspekt solchen Wandels, richtete
sich mehr
gegen die im Kanon tradierte Bildungsidee als gegen seine
handlungsorientierende
Funktion - die man schlicht übersehen hatte.
Die gegenwärtige Kanondiskussion hat viele Facetten:
fragwürdig
rückwärtsgewandte und produktiv
weiterführende zugleich. Ein ungebrochenes
Zurück zum Bildungskanon, wie ihn das 19. Jahrhundert mit
seiner
klassizistischen Nostalgie entwarf, wird es nicht geben. Die
Voraussetzung, nämlich
die Verschränkung von bürgerlicher Bildung und
Besitz, ist verschwunden. Doch
gibt es zwingende Gründe, die für eine erneute und
erneuerte Kanonbildung
sprechen - und zwar jenseits privater Vorlieben. Wenn die deutsche
Sprache als
differenziertes, präzises, ästhetisch
ausdrucksstarkes und rhetorisch
wirkungsvolles Medium der Verständigung erhalten bleiben soll,
sind wir auf die
Literatur angewiesen. Alle anderen Einrichtungen und Organe des
Sprachgebrauchs,
die Massenmedien, Parlamente, Bildungsinstitutionen vernutzen
Sprache und
sind, wenn sie nicht selber verkommen wollen, auf den Kanon angewiesen.
Das gilt
natürlich auch für die Schriftsteller selber, die
nicht schon kraft Amtes dem
allgegenwärtigen, allesdurchdringenden Universum des
öffentlichen Geredes
entgehen können, sondern ebenso die kritische Funktion des
Kanons benötigen.
Dessen begrifflicher Ursprung als Eichmaß enthält
eben jenen Aspekt normativer
Genauigkeit, die es erlaubt, aus der unendlichen Fülle der
Gegenstände die maßgebenden
auszuwählen und weiterzureichen. An der Notwendigkeit eines
derartigen
Korrektivs haben auch Genieästhetik,
Originalitätsforderung und Werkautonomie
nichts geändert - im Gegenteil. Die Proklamation des autonomen
Kunstwerks führte
geradewegs in die alles nivellierende Maschinerie der modernen
Kulturindustrie,
als deren Widerpart sie sich ursprünglich verstehen wollte.
Wenn jedes Werk
selbst regelsetzend ist, gibt es keinen Schutz mehr vor Regellosigkeit
auf der
einen, hemmungsloser Anpassung an Trivialität auf der anderen
Seite. Daß die
Literatur diese kanonische Funktion bis heute untergründig
bewahrt hat, macht
übrigens gerade ihre Ausbeutung in den Massenmedien sichtbar.
Was wären diese
ohne das Reservoir an Mustern, Stoffen, Motiven, das nirgendwo anders
als in der
"Bibliothek von Babel" - mit Borges gesprochen - aufbewahrt ist?
Damit hängt unmittelbar auch der wichtigste Grund zur
Kanonbildung zusammen. Er spiegelt nicht nur die kollektive
Überzeugung einer
Gemeinschaft wider, die sich in ihrem rednerischen kommunikativen
Verhalten
sprachlichstilistisch ebenso wie inhaltlich-argumentativ darauf
beziehen kann
und diesen gemeinsamen Grund braucht, wenn sie überleben will;
der Kanon
schafft diese ideologische Basis der Gesellschaft mit, das
ist seine
produktive Funktion immer gewesen. So erwartete Gervinus, ein
aufrechter, den
Jungdeutschen verpflichteter Germanist im 19. Jahrhundert, von der
Vollendung
der Literatur die "politische Wiedergeburt des humanistischen
Deutschland" und
sah seine Aufgabe darin, "aus dem allbekannten herauszugreifen und
durch
Anordnung und Verbindung zu wirken". Genauer kann man Entstehung,
Begründung
und Funktionsweise eines literarischen Kanons nicht beschreiben. Und
ist nicht
immer noch die kulturelle Identität der Deutschen im Zeitalter
der Zuwanderung
und der europäischen Bevölkerungsbewegungen ein
aktuelles Problem geblieben
bis heute? Könnte, sollte dieser Kanon nicht auch, im
Gegenzug, vor jeder
Borniertheit und Erstarrung schützen, indem er die subversiven
Traditionen
ebenso berücksichtigt wie jene Werke, die nach
Ernst
Jüngers fruchtbarer
Unterscheidung über Geschmacksfragen hinaus sind, aber auf
ihre Weise
unvergleichlich, weil sie einen Einblick geben "in das Gefüge
der Welt mit
Paradiesen und Höllen, mit Gipfeln und Abgründen"?
Aber natürlich doch!
Bewahren ja die Märchen, die Kolportage: also das tapfere
Schneiderlein und
Winnetou, der Graf von Monte Christo oder Rinaldo Rinaldini den Traum
von
Abenteuerlust und Freizügigkeit ungebrochener und oftmals
kräftiger als
manches Werk der sogenannten Hochliteratur. Sie erinnern uns,
kontrastreich und
geschnitzt wie ein Holzbild, an die Urmotive der
Glückserwartung und Sehnsucht
nach Ferne, des Ausgeliefertseins und der Rettung. Viele dieser
Bücher, die,
mit Walter Benjamin
zu sprechen, die Deutschen lasen als ihre Klassiker
schrieben, sind nie in die feinen literarischen Salons eingelassen
worden: wir
öffnen ihnen hier weit die Türen. Sie sollen
eintreten zusammen mit anderen
Hallodris und vergessenen Eckenstehern der Weltliteratur wie
Wilhelm Busch oder
Karl Valentin,
Jules Verne oder Käptn Marryat, Cooper oder Max
Dauthendey. Denn
sie haben im Leben geglüht und können
weiterglühen, wenn wir ihnen erneut
begegnen. Auch im Hause der Literatur gibt es viele Kammern, und
manchmal
entdecken wir gerade in der letzten, bisher verachteten, die
Geschichte, die tröstet
oder aufreizt, die wir brauchen, um über eine schwere Stunde
zu kommen oder dem
Glück des Tages einen ganz einfachen, ganz leichten
Märchennamen zu geben.
Dieses Buch stellt daher keinen Kanon im üblichen Sinne
vor. Sein Ausgangspunkt ist die paradoxe Situation, daß wir
auf der einen Seite
den Fundus stetig wachsender Klassikerbibliotheken haben, auf der
anderen Seite
aber ein Publikum, das diese Errungenschaften kaum noch zur Kenntnis
nehmen
kann, weil es zu deren Gebrauch ein Spezialwissen bräuchte.
Die Anstrengungen
der Wissenschaften, die überlieferten Werke dem modernen
Verständnis zugänglich
zu machen, verkehren sich in ihr Gegenteil, und einer Mauer gleich
türmt sich
diese Forschungsliteratur vor den Büchern auf, denen sie
eigentlich neue Leser
zuführen sollte.
Wie aber die Werke selber wieder ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rücken? Die bloße
Präsentation des Textes reicht ebensowenig
aus wie seine Ergänzungen durch Nachworte und Anmerkungen,
denn beide setzen
voraus, was erst geschaffen werden müßte: die
Einübung in das so informierte
wie neugierige Lesen, denn die Entdeckung des "tua fabula narratur"
gelingt
erst, wenn wir in die erzählte Geschichte auch einsteigen
können und
begreifen, daß darin unsere Angelegenheiten sich zu
entwickeln beginnen. Die
Literaturwissenschaften haben
Goethe,
Schiller,
Shakespeare oder
Kafka
zwar in
alle möglichen Richtungen ausgewalzt, doch die wichtigste
Frage, ob deren Bücher
etwas zu unserer Lebensmeisterung beitragen können, diese
Frage haben sie
vergessen und uns gelehrt, sie ebenfalls zu vergessen. Die klassische
Literatur
als ein Instrument unserer Daseinsbewältigung - wer diese
Ansicht vertritt,
wird immer noch belächelt; dabei ist es das einzige Kriterium,
das unsere Beschäftigung
mit Literatur, mit Kunst überhaupt rechtfertigt. Kinder und
Jugendliche gehen
an Bücher und alle Medienprodukte ganz instinktiv mit dem
Interesse heran, ob
sie in ihrer Vorstellungswelt eine neue Tür öffnen,
ob sie sie brauchen können
in dem schwierigen Spiel des Erwachsenwerdens. Von ihnen
können wir alle
lernen, daß Bücher dazu taugen müssen, den
Forderungen unseres Tages
gewachsen zu sein.
Seit von Literatur die Rede ist, traut man ihr viel mehr zu,
als es sich unsere Schulweisheit träumen
läßt. Griechen und Römer schrieben
der Dichtkunst therapeutische Wirkungen zu. Für Aristoteles,
um nur ihn zu
nennen, funktioniert die Tragödie nach strenger medizinischer
Analogie, so daß
die so viel interpretierte Katharsis als eine alles
Verstörende und Entsetzende
abführende Purgierung erscheint - eine medizinische Reinigung,
wie eine Kur.
In der Renaissance, an der Schwelle zur Neuzeit, hat man das nicht
anders
gesehen. Poesie galt als medicina mentis oder medicina
animi, als
geistige oder seelische Medizin. Boccaccio etwa betrachtet das
Erzählen von
Geschichten als ein die Lebenswirren lösendes, Schwermut und
Trägheit, aber
auch Unruhe und inneren Aufruhr heilendes Kurmittel. Jeder Leser des
Decamerone
weiß, daß die darin enthaltenen, mal
luftigleichten, mal hochbedeutsamen
Geschichten von einer Gesellschaft junger Adliger erzählt
werden, die sich vor
der Pest aus Florenz auf ein Landgut gerettet haben und
Erzählen als Heilmittel
gegen die tödliche Epidemie nutzen. Nein, wir brauchen uns
nicht zu genieren,
wenn wir die klassischen Bücher als Lebenshilfe lesen: wir
verwirklichen damit
nur die innerste Wirkungsabsicht der Literatur selber, die sich dadurch
von
allen anderen Künsten abhebt. Im Zeitalter der ungehemmten
Bildmedien kann
diese ihre Sonderstellung nicht energisch genug betont werden -
philosophisch
gerecht ist ihr übrigens allein Hegel geworden: "Die
Dichtkunst ist die
allgemeine Kunst des in sich frei gewordenen, (nämlich) nicht
an das äußerlich
sinnliche Material zur Realisation gebundenen Geistes." Das klingt
etwas
gestelzt, so daß man fast vergessen könnte, wie
lustvoll und erleichternd, ein
welcher Gesundbrunnen diese Erfahrung des sich Aufschwingens
über lastende
Erdenschwere ist. Denn alle in Form, Farbe und Ton oder Materie sich
mitteilende
Kunst legt unsere Vorstellung an die Kette fremder, sinnlicher
Erscheinungen,
nur im Lese-Erlebnis gehört die Einbildung uns. Hermann Broch
hat die
Hegel-Sentenz in eine einfache Lese-Erfahrung gleichsam
übersetzt: "Im Bett zu
liegen, krank zu sein, nicht in die Schule zu gehen und
Karl May lesen zu dürfen,
hat ja stets seine trostreichen Reize in diesem Leben gehabt."
Aus solchen Überlegungen heraus ist dieses Buch entstanden.
Es will die Bücher wieder näherrücken, will
Berührungsängste abbauen, will
am plastischen Beispiel zeigen, daß nicht das Alter eines
Buches über seine
Aktualität entscheidet, sondern nur die Tatsache, ob und wie
darin unsere
Geschichte und die Geschichte unserer Lebensfragen erzählt
wird. Damit wird die
längst üblich gewordene Fragerichtung umgekehrt:
Nicht die geschichtliche
Entwicklung der Literatur von der klassischen Antike bis heute
interessiert uns,
sondern die Antworten stehen im Zentrum, die die klassischen Werke auf
unsere
Probleme zu geben haben. Sie werden in diesem Buch behandelt, als
wären sie
gerade geschrieben, und siehe, sie antworten auf unsere Europa-Debatte,
reagieren auf den Kampf um
Bagdad
und kennen die angeblich neue Armut
ebenso,
wie sie schon das aktuelle Verhältnis von Staat und Religion
beleuchten können.
Sie erklären, sie machen uns Vorschläge zu unserer
Orientierung und sie tun
dies oftmals um so effektvoller, als sie unser Problem in einer
verfremdenden,
überraschenden Konstellation erhellen. So treten wir mit ihnen
in ein Gespräch,
denn was in dem Licht unserer Erfahrungen so verwirrend, so dunkel, so
rätselhaft
aussieht, bekommt durch das Echo aus der Weltliteratur Profil,
Konturen. Nun
liegt nach solch hochgemuten Gedanken auch die kritische Frage nahe:
was hat
denn die als klassisch geltende Literatur mit den Forderungen des Tages
zu tun?
Ist es nicht im Gegenteil ihre Aufgabe, den Horizont über den
Tag hinaus zu
erweitern, ganz im Sinne des Schiller-Satzes: "Was sich nie und
nirgends hat
begeben, das allein veraltet nie"? Und hatte nicht Julius Campe, der
mutige
Verleger Heines
und Börnes, einem jungen Autor
ausschließlich politischer
Gedichte warnend geschrieben, daß es gerade die Werke seien,
"die der Zeit
angehören, die in zehn Jahren leicht vergessen sind, gerade
der Dinge wegen,
die sie jetzt ziehen machen"? Klassizität also, so scheint es,
ist nur durch
eine Art Zeitenthobenheit zu haben. Doch halt - so einfach liegen auch
hier
die Dinge nicht. Literatur, die sich in allzu luftige Höhen
emporgeschwungen
hat, der jede Bodenhaftung verlorenging, die - um noch einmal Schiller
zu
zitieren - jene Maxime: "Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben in des
Ideales
Reich" allzu wörtlich nahm, hat sich in der Regel
tatsächlich verflüchtigt
und keine Dauer, keine Haltbarkeit im Gedächtnis des
Lesepublikums erlangen können.
Distanz zu den Forderungen des Tages also scheint nötig, soll
das Werk nicht
als Raub kurzfristiger Eindrücke mit der Aktualität
vergehen, an die es sich
kettet. Doch es muß immer eine Distanz aus der Erfahrung der
Nähe sein, aus
der Kenntnis der Fragen, die uns auf den Nägeln brennen. Wenn
der
Schriftsteller sich von der Wirklichkeit entfernt, darf er das, so
paradox es
klingt, nur mit dem Willen zu einer neuen Nähe, einer anderen
Wirklichkeit tun
- bei Strafe des Vergessens.
Werfen wir doch nur einen Blick auf die größten
Werke,
erinnern wir uns, wie der unsterbliche
Don Quijote
aus der satirischen
Vermengung zeitgenössischer Lese-Süchte hervorging,
wie Faust im Humus des
Geniezeitalters wurzelt, oder wie Effie Briest, hundertfach gespiegelt
in den
Journalen der Zeit, am engen Moralkodex ihrer Gesellschaft zugrunde
ging - lassen wir diese und alle uns sonst geläufigen
Großwerke der Literatur vor
unserem inneren Auge Revue passieren, so erleben wir das Paradox, von
dem eben
die Rede war, am anschaulichen Beispiel. Daß sie uns heute
interessieren können,
daß wir mit den Griechen nach Troja ausfahren, mit
Emma
Bovary an den
prosaischen Zumutungen des grauen Alltags leiden oder uns mit
Josef K.
in die
undurchsichtigen Machenschaften der Regierungsapparatur verflochten
sehen, daß
wir in allen diesen Büchern immer auch ein Stück
unserer eigenen konkreten
Geschichte wiederfinden können, liegt eben daran,
daß ihre Autoren sich selber
mit ihrer Welt eingelassen haben, dann aber die Kraft fanden, deren
Grenze zu überschreiten:
auf uns, auf unsere Fragen, unsere Verwirrungen, unsere
Ungelöstheit hin. Im
gleichen Zug, in dem wir auf sie zurückgreifen, greifen sie
auf uns voraus, und
das nicht in einem bloß allgemeinen oder allgemein
menschlichen Sinne, sondern
ganz konkret und mit Widerhaken, die sich fest in unsere
Lebenswirklichkeit
einlassen, wenn wir es denn wollen. Das werden diese
Streifzüge in die weiten
Landschaften der klassischen Literatur zeigen: beispielhaft
natürlich, aber mit
Perspektiven, die jeder Leser aus eigener Erfahrung weiterverfolgen
mag. Wobei
mit "klassisch" kein eng begrenztes Register literarischer Hochwerke
gemeint
ist, sondern zur Bezeichnung jener Bücher dient, die aus ihrer
Zeit kommend
auch immer die unsrige mitbedeuten - der Zukunft verschwistert und
deshalb
unveraltet. Ausgangspunkt waren immer konkrete Ereignisse unserer
Gegenwart. Die
Streifzüge, die an diesen Brennpunkten beginnen, folgen keinem
abstrakten
Programm, sind ganz unsystematisch, verhalten an berühmten und
vielfrequentierten Aussichtspunkten ebenso wie an versteckten, kaum
noch
besuchten Schauplätzen. Man kann dieses Buch lesen wie einen
literarischen
Kalender, der - dem 100jährigen gleich - unsere Tage in ihrer
Konstellation
mit allen anderen Tagen der Literatur zeigt, uns vor- und
zurückverweist, doch
immer dem Jetzt, unserem Lebenstage, verschworen, und nicht der
strengen
Chronologie, sondern dem Zeitmaß der Sachen folgend, die in
ihnen verhandelt
werden. Das macht den wichtigsten Unterschied zu allen anderen
vergleichbaren
Unternehmungen aus: die Ansprache der hier zu Worte kommenden Autoren
ist vor
allem objektiv, in der Richtung der Themen, Sachen, Motive selber
begründet,
nicht allein liebhaberhaft der individuellen Lese-Erfahrung folgend
(obwohl natürlich
auch dieser Beweggrund immer mitgewirkt hat).
Und schließlich kann man dieses Buch auch einfach aus
Vergnügen
lesen; die Dichter kommen überall ausführlich selber
zu Wort. So mag sich der
enthusiastische Leser an Wiederbegegnungen erfreuen, auch einmal bei
einem
unvermuteten Zusammenstoß befremdet stutzen und in
abgelegenen Gegenden neue
Entdeckungen machen. Der neue, der junge Leser aber kann sich die Welt
der
Literatur von dem aussichtsreichsten Gesichtspunkt aus
erschließen, den es für
ihn gibt: den seiner eigenen Lebens- und Zeiterfahrung. Die
Überraschung, daß
die eigene Geschichte so viele unbekannte Facetten hat, bleibt in
keinem Falle
aus, doch brauchen wir die Schlüssel dazu: wir müssen
finden können, was uns
angeht.
So soll dieses Buch auch eine Art Fahrplan sein, der zu den
passenden literarischen Adressen führen kann. Die
Fundörter sind übersichtlich
geordnet in fünf großen Kapiteln, die sich dann
jeweils in einzelnen Pfaden
verzweigen: die Vielfalt und Ambivalenz menschlicher Begegnungen steht
am
Anfang; ihm folgt das Labyrinth von Zwangslagen, in die wir geraten,
wenn wir
miteinander oder mit Natur und Staat in Konflikt geraten; die
Überschrift
Raubmenschen lenkt den Blick auf die andere, die dunkle Seite des
menschlichen
Daseins, auf das Böse in seiner spektakulären wie in
seiner alltäglichen
Ausprägung; von Glückswechseln berichtet der vierte
Teil, von Aufstieg und
Fall und dem possenhaften Spiel, das sich darum herum entfaltet; das
Abenteuer
im Wirklichen schließlich entfaltet ein Panorama an
gefährlichen, aber auch an
unterhaltlichen Seiten unseres Lebens und unserer Geschichte. Immer
aber geht es
um die Sinngebung des Alltags, unserer täglichen Erfahrung in
Beruf und
Familie, Politik und Wirtschaft. Aus den Werken, die in diesem Buch zu
Worte
kommen, tönt, um es mit dem großen
Schlußsatz aus Hermann Brochs Die
Schlafwandler zu sagen, "die Stimme, die das Gewesene mit allem
Künftigen
verbindet und die Einsamkeit mit allen Einsamkeiten, und es ist nicht
die Stimme
der Fruchtbarkeit und des Gerichts, zaghaft tönt sie im
Schweigen des Logos,
dennoch von ihm getragen, emporgehoben über den Lärm
des Nicht-Existenten, es
ist die Stimme des Menschen und der Völker, die Stimme des
Trostes und der
Hoffnung und der unmittelbaren Güte: 'Tu dir kein Leid! Denn
wir sind alle
noch hier!'" (...)