Ida Cermak: "Ich klage nicht"
Dennoch
"Wenn ich nicht
schreibe, werde ich krank" - diese Aussage von Paul Nizon müsste geradezu
zynisch klingen, wenn man sich mit einem Buch konfrontiert sieht, in dem die
Wehwehchen und Krankheiten etlicher Schriftsteller und Intellektueller
dargestellt werden: "Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen
schöpferischer Menschen" (Untertitel). Cermak möchte v.a. herausfinden, welche
Zusammenhänge zwischen der Krankheit und dem jeweiligen Weltbild der Betroffenen
bestanden. Verglichen wird auch die jeweilige subjektive Einschätzung der
Krankheit mit dem objektiven ärztlichen Befund. Da nach Kierkegaard das Leben
ohnehin eine "Krankheit zum Tode" ist, bleiben die Varianten der Akzeptanz oder
der Verleugnung bzw. Gegenwehr interessant bis brisant.
Von den
zahlreichen Betroffenen hat wohl
Heinrich Heine sein Rückenmarkleiden in seiner
"Matratzengruft" mit am intensivsten empfunden. Er nennt sich eine "arme,
unbegrabene Leiche" - er hasst sein Leiden.
Christian Morgenstern entwickelte zu
seiner ererbten Lungentuberkulose ein quasi sachliches Verhältnis, er empfand
sie als "nebensächlich". So wie etwa auch Jaspers oder Goethe sieht er seinen
Geist vom körperlichen Leiden unbeeinflusst und schreibt und lebt hartnäckig
weiter. Morgenstern schwingt sich sogar zu der These auf: "Kein wahrhaft freier
Mensch kann krank sein" - er wehrt sich dagegen, der "Sklave seiner Krankheit"
zu werden - er lebt ein konsequentes Dennoch. Freud hat einmal über seinen
Verzicht auf Schmerzmittel zu
Stefan Zweig gesagt: "Ich ziehe es vor, bei Qualen
klar zu denken und lieber zu leiden" - so duldete er in klagloser
Resignation.
Ein besonderes Kapitel ist den Autoren
Proust,
Rilke, Wolfe,
Keats, Gide und Dauthenday gewidmet, die von Kindheit bzw. von Jugend an durch
ihre Krankheit auf den Tod hinorientiert waren. Dem äußeren geht sozusagen ein
inneres Absterben voraus - der Betroffenen hat ein verändertes Zeiterleben: im
Zeitraffer oder in Zeitlupe. Prousts assoziatives Schreiben resultiert wohl aus
seinem Sammeln von Erinnerungen, da er meint, sein schweres Bronchialasthma
werde ihn nicht lange leben lassen. Rilke versuchte aufgrund seiner Leukämie
seinen Körper zu schonen, für ihn gehören Schmerz und Freude untrennbar
zusammen, wobei er durchaus nach dem tieferen Sinn seiner Krankheit fragte.
Konsequenter im Diagnosebereich der Anorexie wünschen sich Gide, Lawrence oder
Turgenieff ihren Tod herbei.
Kafka, bei dem Mitte 30 eine
Lungentuberkulose diagnostiziert wurde, hatte nie Hoffnung auf Heilung. Obwohl
er eigentlich die Gesundheit und Tüchtigkeit des guten Bürgers bewunderte,
brachte ihn seine Krankheit dazu, die Welt als eine gefürchtete, feindliche
darzustellen. Er hat sich viel mit Kierkegaard auseinandergesetzt, aber es
fehlte ihm dessen Vertrauen in Gott - er sagte einmal zu Brod: "Wir sind
nihilistische Gedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen." Autoren wie Novalis oder
Nietzsche haben quasi eine Philosophie der Krankheit entwickelt. Der
lungenleidende Novalis sieht Krankheit als "schmerzliches Vergnügen" (...) Das
Ideal einer vollkommenen Gesundheit ist bloß wissenschaftlich interessant.
Krankheit gehört zur Individualisierung." Das klingt in der Theorie großartig
abgeklärt - aber wehe die Schmerzen werden übermächtig!
Cermak beendet
ihr Buch sinnigerweise mit der erstaunlichen Krankengeschichte Goethes, die ihn
bekanntermaßen nicht daran hinderte, 86 Jahre alt zu werden. Bei allen
gesundheitlichen Schwankungen versuchte er sich nach einer Maxime zu verhalten,
die er im Jahr 1830 Eckermann mitteilte: "Es ist unglaublich, wieviel der Geist
zu Erhaltung des Körpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibs,
allein der geistige Wille und die Kräfte des oberen Teiles halten mich im Gange.
Der Geist muss nur dem Körper nicht nachgeben." In diesem Sinne kann uns dieses
Buch zum überzeugten Dennoch erziehen - ein wahres Vademecum für
Krankheitsbetroffene - solange der Geist noch in der Lage ist, die
Gemütsverfassung wirklich zu beeinflussen.
(KS; 03/2006)
Ida Cermak: "Ich klage nicht"
Diogenes,
2006. 336 Seiten.
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