Karl Kraus: "Ich bin der Vogel, den sein Nest beschmutzt"
Aphorismen, Sprüche und Widersprüche
Karl
Kraus und die Hohe Schule der Polemik
Nach der Neu-Edition von
Lichtenbergs
"Sudelbüchern" hat sich der Marix Verlag nun eines
weiteren herausragenden deutschsprachigen Satirikers und Aphoristikers
angenommen: Karl Kraus
(1874-1936), Gründer und auch mehr oder
weniger einziger Beitragschreiber der Zeitschrift "Die Fackel", eines
zeit- und gesellschaftskritischen Mediums, dessen Herausgeber und Autor
schon damals durch die Radikalität seiner Thesen für
Furore sorgte und noch heute polarisierend auf die Rezipienten seiner
Texte wirkt.
Karl Kraus war in der Tat ein unbequemer Zeitgenosse; eine
Lästerzunge, ein Giftzahn, der in alles und jedes hinein
hackt, um es anschließend mit einem
Höchstmaß an Verachtung wieder auszuspeien. Er
lässt seinem oft bitterbösen Zynismus die
Zügel schießen und trampelt in einem Bravurritt der
Polemik alles nieder, was seine Zeit an gesellschaftsrelevanten Themen
zu bieten hat. Ob er sich über Literatur, Kunst, Politik, den
Krieg oder das (kriegerische) Verhältnis der Geschlechter
auslässt, oder ob er zu damals aktuellen Themen Stellung
bezieht wie beispielsweise der Emanzipation der Frau oder dem
Heraufdämmern der psychoanalytischen Bewegung um
Sigmund
Freud, überall streicht Kraus seinen
ätzenden Senf drauf.
Karl
Kraus zum Thema Gleichstellung der Frau: "Die Prostitution
der Frau ist ein Naturtrieb. An allen Geschäften des Lebens
ist das Weib mit seinem Geschlecht beteiligt. Zuweilen selbst an der
Liebe." Oder: "Mit Frauen führe ich gern einen Monolog. Aber
die Zwiesprache mit mir selbst ist anregender." Oder über
"Frauenkunst: Je besser das Gedicht, desto schlechter das Gesicht."
Immer wieder apostrophiert er die Minderwertigkeit (Kraus nennt es
Anderswertigkeit) der Frau. Und die Forderung, den Frauen das
allgemeine Wahlrecht zuzugestehen, hält er für ebenso
sinnlos wie die Forderung, den Männern die Menstruation zu
bewilligen.
Kraus über den Weltkrieg und die Psychoanalyse: "Der Krieg
wird vielleicht eine einzige Veränderung bringen, aber eine,
der zuliebe er sicher nicht unternommen wurde: die Opfer der
Psychoanalyse werden gesund heimkehren." Das ist keine Satire, die sich
auf der Basis eines warmen, nachsichtigen Humors gründet, wie
das gelegentlich bei Lichtenberg der Fall ist. Das hier ist Polemik
pur. Aber Karl Kraus war nicht nur ein
Polemiker ersten Ranges, er war
auch ein Literat und ein Denker ersten Ranges. Und so halten sich
Verwunderung und Bewunderung beim Leser in etwa die Waage. Wahre
Sympathie wird man diesem Autor kaum entgegenbringen können.
Man fragt sich vielleicht, wo das geistige Schwert geschmiedet wurde,
mit dem er so respektlos ins Innerste des menschlichen Charakters, ins
Innerste der menschlichen Gesellschaft hinein bohrt. Im Feuer eines
Menschen verachtenden Hasses etwa, oder war es vielleicht eher die
ruhige, stetig lodernde Glut eines dünkelhaften Stolzes, einer
Überheblichkeit, die er immer wieder in seinen Texten
durchscheinen lässt? Originaltext Kraus: "Manche teilen meine
Ansichten mit mir. Aber ich nicht mit ihnen. Wenn ich selbst keine
einzige meiner Ansichten hätte, so wäre ich immer
noch mehr als ein anderer, der alle meine Ansichten hat." Oder aber:
"Wenn ich manche Leute zurückgrüße, so
geschieht es nur, um ihnen ihren Gruß zurückzugeben."
Zynismus scheint, wenn nicht der einzige, so doch der vorherrschende
Wesenszug seines Charakters gewesen zu sein. Das Gemüt des
Karl Kraus war anscheinend vollgesogen damit wie ein Schwamm mit Essig,
und diesen Essig seiner Lebensweisheiten lässt er mittels
seiner Feder aufs Papier fließen. Zuweilen kommt er dem
Rezensenten fast vor wie ein eitler, aufgeblasener Gockel, der
allenthalben Missstände bekräht, seinen eigenen
Misthaufen aber für den Olymp ansieht. Trotzdem kann man nicht
umhin, ihm Bewunderung zu zollen, die Präzision zu bestaunen,
mit der er seine Gegner mit dem Seziermesser der Kritik zerlegt und auf
die satirischen Spitzen seiner Ironien spießt. Und Gegner,
oder besser gesagt: inferiore Wesen, das scheinen für ihn alle
anderen menschlichen Individuen gewesen zu sein. Er demontiert und
seziert auf eine Weise, die manchmal schon ans Genialische grenzt. Das
muss man ihm schon lassen. In des Autors eigenen Worten: "Man muss
meine Arbeiten zweimal lesen, um ihnen nahe zu kommen. Aber ich habe
auch nichts dagegen, dass man sie dreimal liest. Lieber aber ist mir,
man liest sie überhaupt nicht, als bloß einmal. Man
muss alle Schriftsteller zweimal lesen, die guten und die schlechten.
Die einen wird man erkennen, die andern entlarven." Dem kann man wohl
uneingeschränkt beipflichten.
Es bleibt zu konstatieren, dass diese neue Aphorismensammlung aus dem
Marix Verlag uns eine Fundgrube brillanter Gedanken und Argumentationen
beschert, die den Lesern einmal ein Schmunzeln, einmal ein
Stirnrunzeln, aber stets einen tiefgefühlten Respekt vor der
Geistesschärfe dieses großen Satirikers
abnötigen werden. Es lohnt unbedingt, sich dieses Buch
anzuschaffen. Der günstige Preis ist ein zusätzliches
Kaufargument.
(Werner Fletcher; 03/2007)
Karl
Kraus: "Ich bin der Vogel, den sein Nest beschmutzt"
Marix Verlag, 2007. 480 Seiten.
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