Daniel Jonah Goldhagen: "Die katholische Kirche und der Holocaust"

Eine Untersuchung über Schuld und Sühne


"Das Christentum ist eine Religion der Liebe und lehrte seine Anhänger, sich nach den höchsten moralischen Handlungsprinzipien zu verhalten. Liebe deinen Nächsten. Und das Christentum ist eine Religion, die in ihrem Innersten einem Hass ungeheuren Ausmaßes auf eine bestimmte Menschengruppe gehuldigt und diesen historisch in ihrem gesamten Einflussbereich verbreitet hat: Hass auf die Juden." (Daniel Jonah Goldhagen)

Zwei widerstreitende Thesen zur historischen Schuldfrage. - Die Konsequenz aus der Antwort auf die Schuldfrage stellt sich vorweg als Frage nach dem Sühnedienst.
Goldhagen stellt in seinem jüngsten Buch die Frage nach den Ursachen der Shoah und formuliert dazu gleich zu Beginn zwei widerstreitende Thesen, demnach die Shoah einerseits als das Werk eines typischen modernen neuheidnischen Regimes oder andererseits als bloßer Höhepunkt eines tradierten christlichen Antijudaismus zu erachten ist, der dem Rassenwahn Jahrhunderte lang den Boden aufbereitet hat und das Grauen eines beispiellosen Völkermordversuchs somit erst ermöglichte. Dieser Hass war letztlich ein Verrat an den eigenen guten moralischen Prinzipien, und Goldhagen zweifelt nicht daran, dass dem Christentum wie überhaupt den christlichen Kirchen direkt oder indirekt eine gehörige Portion Mitschuld an den Verbrechen des NS-Regimes zum Vorwurf gemacht werden muss.  
Die Frage, welche der Autor nun stellt, ist: "Was muss eine Religion der Liebe und Güte tun, um sich ihrer von Hass und Unrecht geprägten Geschichte zu stellen, um ihre Opfer zu entschädigen und sich so zu rehabilitieren, dass von ihr nicht länger jener Hass und jenes Unrecht ausgehen, die sie ungeachtet ihrer Vergangenheit nicht mehr gutheißt?" - Das ist auch die Frage dieses Buches.

Pius XII., ein Papst im Geiste der Tradition christlichen Antijudaismus?
Im Zentrum der Betrachtung steht Pius XII., Papst von 1939 bis 1958, dessen Seligsprechung seit Jahren mit Nachdruck betrieben wird. Goldhagen hält dieses Ansinnen, dem für gewöhnlich eine alsbaldige Heiligsprechung folgen könnte, angesichts der zur Person des Kirchenfürsten sich bietenden belastenden Faktenlage für moralisch verwerflich, denn manches spricht für dessen antisemitische Gesinnung, woraus zu schließen ist, dass der Papst zu den Verbrechen des NS-Regimes nicht nur aus Ängstlichkeit und seiner scheuen Wesensart wegen geschwiegen hätte, sondern insgeheim aus innerer Gesinnung diese Verbrechen als nicht kritikwürdig, ja gar als akzeptabel befand. Eine innere Gesinnung des Antijudaismus, wie er, nach Meinung des Autors, im Katholizismus seit jeher kultiviert wurde und in der Lehre, dem Schrifttum, der Theologie und der Liturgie der katholischen Kirche wie überhaupt schon in der Heiligen Schrift verankert ist. Das Christentum stehe in einer Tradition permanenter antisemitischer Hetze, die den Juden als Christusmörder und Teufelssohn verleumdet, und Pius XII. hatte offenbar keinen kritischen Zugang zu diesem historisch gewachsenen Ressentiment, das schon in früheren Jahrhunderten zuweilen in blanken Rassismus umgekippt war. (Die Gesellschaft Jesu, bekannt als Jesuiten, stellte 1593 mit ihrem so genannten Dekret zur Reinheit des Blutes rassistische Kriterien für die Mitgliedschaft auf; alle Jesuiten, die jüdische Vorfahren hatten, wurden ausgestoßen, und allen Christen, die von jüdischem Blut in noch so geringer Menge verunreinigt waren, wurde die Aufnahme verwehrt. - Seite 204.) Das Schweigen des Papstes zum versuchten Völkermord an den Juden sei demnach, in Übereinstimmung mit dem sich bietenden Gesamtbild aus christlicher Tradition und persönlicher Befindlichkeit, nicht als ein durch die realpolitischen Zeitumstände erzwungenes, sondern als ein zustimmendes Schweigen zu deuten, das den Schweigenden als Unterlassungstäter auszeichnet. 

Die These von der Mittäterschaft der Kirche – historische Fallbeispiele:
Zweifelsohne erweckte Hitlers entschiedener Kreuzzug gegen den "jüdischen" Bolschewismus (Judentum und Bolschewismus wurden vielfach gleichgesetzt) nicht nur in Kirchenkreisen viel Sympathie (man erblickte im deutschen Führer den Retter in der Not), doch kann eine aus historischen Umständen erwachsene Zwecksympathie noch keine moralisch hinreichend begründete Rechtfertigung für die aktive Teilhabe nationaler katholischer Kirchen an imperialistischen Kriegshandlungen und verbrecherischen Menschenrechtsverletzungen abgeben. Als der deutsche Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg auslöste verkündeten die deutschen Bischöfe in einem gemeinsamen Hirtenbrief: "In dieser entscheidenden Stunde ermuntern und ermahnen wir unsere katholischen Soldaten, in Gehorsam gegen den Führer, opferwillig unter Hingabe ihrer ganzen Persönlichkeit ihre Pflicht zu tun. Das gläubige Volk rufen wir auf zu heißem Gebet, dass Gottes Vorsehung den ausgebrochenen Krieg zu einem für Vaterland und Volk segensreichen Erfolg und Frieden führen möge." (Seite 176) - Tadelnswerte Worte, die beinahe verblassen angesichts des mörderischen Charakters, den die Zusammenarbeit der katholischen Kirche Kroatiens mit dem - mit NS-Deutschland verbündeten - Ustascha-Regime annahm. Die Gräueltaten, welche kroatische Ustascha-Legionäre mit "Gottes Segen" und deutscher Billigung an Juden und Serben verübten, ließen selbst noch hart gesottene SS-Mannen erbleichen. Ein Ordnungsruf aus dem Vatikan blieb jedoch aus, was nicht allein in der unverhohlenen Sympathie und - bis an das Ende seiner Tage - ungebrochenen Hochachtung des Papstes Pius XII. für das deutsche Volk und seine Kultur begründet sein kann. Dass der Papst über die ungeheuerlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vielleicht nicht hinreichend informiert gewesen sein könnte, hält Goldhagen angesichts des annähernd lückenlosen Informationssystems der katholischen Kirche für ausgeschlossen. Der Papst und seine Kirche hätten vielmehr wissentlich geschwiegen: aus opportunistischer Loyalität mit der verbrecherischen Gesinnung einer entmenschten Politik, welche die Eskalation eines christlich überlieferten Antijudaismus in eliminatorischer Weise betrieb; ein alter Hass, der auch den Kirchenmännern nicht fremd gewesen sein dürfte.

Goldhagens Forderung nach Wiedergutmachung.
Goldhagen fordert angesichts der Fülle historischer Verfehlungen die römisch-katholische Kirche - wegen ihrer Mittäterschaft am Holocaust - zu einer materiellen, politischen und moralischen Wiedergutmachung auf, ähnlich wie sie der österreichische und der deutsche Staat schon geleistet haben. Denn Unrecht müsse verpflichtend wieder gut gemacht werden. Ein Prinzip der Verpflichtung, das mit dem katholischen Gebot "Buße zu tun" übereinstimme und besonders deutlich im Katechismus der US-amerikanischen katholischen Kirche ausformuliert ist, wo geschrieben steht: "[jemandem] zur Bestrafung der Laster und zur Bewahrung der Gerechtigkeit Wiedergutmachung aufzuerlegen ist lobenswert".
Wiedergutmachung bedeutet konkret die notwendige Säuberung maßgeblicher biblischer und liturgischer Texte von antisemitischer Verseuchung (vierhundertfünfzig Bibelstellen seien vom Ungeist des Antisemitismus infiziert), sowie eine entschiedene Abkehr von der imperialistischen Ambition christlicher "Heilsuniversalität" - Dominus Iesus -, die jedoch ebenso durch eine zentrale biblische Textstelle begründet ist: "Geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe." (Matthäus 28, 19-20.)
Was die materielle Wiedergutmachung betrifft, hat bereits mit Beginn der Debatte um Goldhagens Buch der US-Opferanwalt Ed Fagan die Möglichkeit der Einbringung von Sammelklagen gegen christliche Kirchen angedeutet. 

Eine aufreizende Streitschrift zum unveränderten Erkenntnisstand.
Goldhagens Buch sorgte gleich mit seinem Erscheinen im Frühherbst 2002 für einen gehörigen Wirbel und führte zu teils scharfen Gegenäußerungen. Dabei enthält das Buch nicht viel Neues, hat doch schon vor vierzig Jahren Rolf Hochhuth in seinem christlichen Trauerspiel "Der Stellvertreter" die zwiespältige Haltung des schweigenden Papstes näher unter die Lupe genommen. Oder erinnern wir uns an Karlheinz Deschners 1983 erschienenes Buch "Ein Jahrhundert Heilsgeschichte - Die Politik der Päpste im Zeitalter der Weltkriege", wie überhaupt an seine Schriftenreihe zur "Kriminalgeschichte des Christentums". Und nicht zuletzt beanstandete der Wiener Journalist und Buchautor Alfred Worm in einem 1992 erschienen Buch über den "wahren" Menschen "Jesus Christus" die Bibel als Machwerk im Geiste des Antisemitismus, dessen Autoren den ebenso liebenswürdigen wie zuweilen auch rabiaten Charakter des Gottessohnes - "ein Hippie, der sich von anderen erhalten lässt" (Worm) - aus diversen nachvollziehbaren Erwägungen zu einem gewissermaßen antisemitischen Charakter verfälschten. Neu und wohl auch zeitgemäß ist jedoch die von Goldhagen aggressiv vorgetragene Forderung nach Wiedergutmachung, die in ihrem moralischen Aspekt an den Fundamenten christlichen Selbstverständnisses rüttelt. Solcherart ist das Buch als politische Streitschrift zu erachten, deren Intention das scheinbar Unmögliche ist: Die radikale Wandlung und Erneuerung einer wesenhaft auf Wandlungsverweigerung und Neuerungsresistenz - weil auf den Fundamenten eines überweltlichen Ewigkeitsbegriffs - aufgebauten Glaubensgemeinschaft.

Schuld und Sühne als Frage historischer und theologischer Standpunktbesetzung.
Im alsbald einsetzenden Historikerstreit war natürlich auch die Gegenseite nicht faul und präsentierte kenntnisreiche Widerlegungen der Thesen Goldhagens; etwa die des amerikanischen Rechtsgelehrten Ronald J. Rychlak. Und der aus Wien stammende jüdische Religionswissenschafter Pinchas Lapide stilisierte Pius XII. in seinem Befund gar zu einer Art von zweitem Oskar Schindler, dem direkt oder indirekt Hunderttausende jüdische Mitmenschen ihre Lebensrettung zu verdanken hätten. Vermutlich ist die geschichtliche Wirklichkeit wie so oft bedeutend komplexer, als es für einen einfachen Richtspruch im Sinne einer Verurteilung oder eines Freispruchs wünschenswert wäre. In dieser unabwägbaren Lage ringt sich Goldhagen zu einem klaren Schuldspruch durch, da die römisch-katholische Kirche jedenfalls ihren eigenen ethischen Handlungsmaximen bis in unsere Tage hinein nicht entsprochen habe und während des Zweiten Weltkrieges in häufigen Einzelfällen diesen sogar mehr oder weniger offen zuwider gehandelt hätte. Für einen Freispruch des Papstes Pius XII. und seiner seinerzeitigen wie heutigen Kirche plädiert hingegen nicht ganz unerwartet der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, der dies in einem Interview mit der Wochenzeitschrift "FORMAT" (40/02) folgendermaßen zum Ausdruck brachte: "Wir können uns heute kaum noch eine Vorstellung von den beschränkten Aktionsmöglichkeiten der katholischen Kirche im totalitären Regime - noch dazu unter den Bedingungen des 'totalen Krieges' - machen. Die niederländischen Bischöfe veröffentlichten einen Hirtenbrief gegen die Deportationen: Die Antwort der nazideutschen Okkupationsbehörden war, dass auch die bis dahin verschonten jüdischen Menschen katholischer Konfession - unter ihnen die inzwischen heilig gesprochene Philosophin, Mystikerin und Märtyrerin Edith Stein - verhaftet und die meisten von ihnen getötet wurden."
Und was das Erbe des christlichen Antijudaismus betrifft, so hat die katholische Kirche mit ihrer Konzilserklärung "Nostra Aetate" (Zweites Vatikanische Konzil) den christlichen Antijudaismus zurückgewiesen und "alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus" verworfen, somit einen Selbstreinigungsakt gesetzt, den Papst Johannes Paul II. in seiner großen Vergebungsbitte am ersten Fastensonntag des Jahres 2000 sowie mit einer dementsprechenden - nach jüdischem Ritus ausgeführten - symbolischen Handlung an der Klagemauer in Jerusalem noch verstärkte und konkretisierte. "Geistlicherweise sind wir alle Semiten", so Kardinal Christoph Schönborn im schon erwähnten Interview und: "Ein Christ kann nicht Antisemit sein, weil dies bedeuten würde, dass er seine jüdischen Wurzeln leugnet, ohne die sein Glaube in der Luft hängt."
Nun, für Goldhagen sind alle diese Erklärungen, Vergebungsbitten, Symbolhandlungen und Verbrüderungsakte reine Beschwichtigungsversuche, die an der Faktenlage - etwa an dem biblischen Antisemitismus und an dem fortgeführten kulturimperialistischen katholischen Heilsuniversalismus - keinen Deut ändern. Allgemein gehaltene Erklärungen und symbolische Akte ersetzen noch keine ernsthafte moralische, politische und materielle Wiedergutmachung, die sich zu ihrer historischen Verantwortung bekennt und ernsthafte Konsequenzen aus ihren Verfehlungen zieht. Und wer sich selbst zum "geistlichen Semiten" erklärt, doch zugleich die Grundlagen des Antisemitismus unangetastet lässt, der handelt nicht im Sinne des von Goldhagen gesetzten Bußegebots.

Radikale Forderungen; überforderte Kirche.
Es fragt sich jetzt nur, ob Goldhagen mit der Forderung nach Elimination einer beträchtlichen Vielzahl von Bibelstellen und der Aufgabe des biblisch verfestigten "imperialistischen Heilsuniversalismus" nicht doch zuviel verlangt? Hat der Papst denn das Recht, "das Wort Gottes" von vorgeblich antisemitischen Irrungen seines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Himmelvaters zu säubern? Ist es denn in Hinblick auf die christliche Dogmatik überhaupt denkbar, dass einem allwissenden christlichen Gott bei der Ausformulierung seines Wortes peinliche Fehler unterlaufen und dieser seiner Wesensbestimmung nach allgütige Gott gar wissentlich - ist er doch allwissend - gegen eine umrissene Gruppe von Menschen hetzt? Theologische Widerstände tun sich auf, die beim besten Willen unüberwindlich scheinen und das kämpferische Ansinnen Goldhagens als zwar moralisch zulässig, doch praktisch nicht umsetzbar ausweisen. Und sollte das Buch deswegen auch seinen unmittelbaren Zweck kaum erwirken, nämlich dass das Christentum seine Bibel in Frage stellt, so wird es doch gewiss der aufklärerischen Aufgabe gerecht, wie der Autor sie im Interview mit der Wochenzeitschrift FORMAT (Ausgabe 40/02) für sich und sein lesendes Publikum selbst skizzierte: "Es ist meine Verantwortung, diese Wahrheiten über die Beleidigungen der christlichen Bibel gegen Juden jedermann zugänglich zu machen und die Aufmerksamkeit auf die moralische Verpflichtung der katholischen und anderer christlichen Kirchen zu lenken, diesen tragischen Aspekt ihrer Bibel zu beheben." Kein Zweifel, dies mag ihm schon jetzt gelungen sein.

Wie auch immer betrachtet, Daniel Jonah Goldhagen hat jedenfalls ein gleichermaßen spannendes wie kontroversielles Buch geschrieben, dessen Inhalt - insbesondere die aufreizende Forderung nach einer moralischen Überarbeitung des "Neuen Testaments" - niemand gleichgültig lässt und zumindest noch zu hitzigen Debatten führen sollte. 

(Harald Schulz; 12/2002)


Daniel Jonah Goldhagen: "Die katholische Kirche und der Holocaust"
Siedler Verlag, 2002. 473 Seiten.
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