Miguel Benasayag, Gérard Schmit: "Die verweigerte Zukunft"

Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt


Was läuft falsch in einer Gesellschaft, in der immer mehr Kinder und Jugendliche "auffällig" werden und beim Psychologen "landen"?

Denn, so die Autoren dieses Buchs, es liegt keineswegs an den Kindern selbst und oftmals auch nicht an ihren Familien, dass Kinder aggressiv auftreten oder auf andere Weise nicht der gesellschaftlich vorgegebenen Norm genügen. Wie der Untertitel provozierend behauptet: der eigentliche Grund ist die Gesellschaft, die sich grundlegend gewandelt hat, und zu der die geläufige Art der Erziehung ganz einfach nicht mehr passt.

Die Erziehung, ob familiär oder schulisch, zielt auf Leistung und Erfolg ab, wobei beides meist synonym gebraucht wird. Solche Ideale gehören jedoch eigentlich zu einer Gesellschaft, die an die Zukunft glaubt, und genau dies ist seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht mehr der Fall: Wir haben Angst vor der Zukunft, die von den Massenmedien mit großem Engagement geschürt wird. Erwachsene können manches ausblenden, Kinder und oft auch noch Jugendliche empfangen die Flut der Angst einflößenden Informationen ohne Filter - und verhalten sich, wenn sie mit scheinbaren Störungen reagieren, im Grunde ganz natürlich.

Was auf der Strecke bleibt, sind vor allem die Sicherheit verleihenden persönlichen Bindungen, die unter Psychologen so genannten Wahlverwandtschaften. Daher, so der Tenor des Buchs, muss eine gute Erziehung in einer von Angst geprägten Zeit vor allem die Fähigkeit zur Entwicklung von zwischenmenschlichen Bindungen bereitstellen. Denn diese ermöglichen es Kindern, Jugendlichen und natürlich auch Erwachsenen, sich den Herausforderungen ihrer Umwelt zu stellen.

Sehr gut verständlich, auch für Nicht-Psychologen, stellenweise freilich ein wenig zu ausführlich, erläutern die Autoren ihre Sicht der modernen Gesellschaft, der man sich größtenteils sicher anschließen mag. In der Tat wäre zu überdenken, welche Perspektiven die Gesellschaft der so oft zitierten "nachwachsenden Generation" bietet: Arbeitslosigkeit, Waldsterben, Klimakatastrophe, "schadstoffverseuchte" Lebensmittel einschließlich des Rinderwahnsinns, von Zeit zu eine "Epidemie" (Vogelgrippe, AIDS), Krebs, Feinstaub und Unmengen von Rentnern, die einmal versorgt werden wollen - je nachdem, was den Massenmedien gerade einmal wieder hohe Auflagen und Quoten verspricht, wenn es ordentlich aufgebauscht wird, oder wovon sich Politiker persönlichen Erfolg versprechen. Auf den von ihnen kurz angeschnittenen destruktiven Medieneinfluss hätten die Autoren im Übrigen durchaus etwas mehr eingehen können.

Eltern, deren "anders" wirkende Kinder den Marathon von Spezialist zu Spezialist mitmachen, werden sich freuen, in diesem Buch Rückendeckung für Kinder zu finden, die von der gängigen Norm abweichen. Die Autoren führen interessante Fallbeispiele aus der eigenen Praxis auf, zum Beispiel einen Jungen, der seiner Auffassung nach Kaiser eines fremden Planeten ist und damit natürlich in seinem Umfeld aneckt, der dies aber analog zu dem ihm, dem Zehnjährigen, bekannten Gottesbeweis von Blaise Pascal begründet. Der Junge, so stellt sich heraus, ist keineswegs verrückt, sondern mathematisch hoch begabt, und hat in seiner Vorstellung eine gründlich durchdachte Welt entwickelt.

Die Frage nach dem "Sinn" in einer auf Zukunftsangst basierenden Welt wird natürlich ebenso thematisiert wie Erziehungsmodelle, und dies bringt auch eine Diskussion des Autoritätsbegriffs mit sich. Zudem erläutern die Autoren, was den Problemen in der Schule zugrunde liegt: zum einen die offensichtliche Sinnlosigkeit des Lernens ohne ersichtliche Zukunftsperspektive, wo das Lernen doch angeblich auf die Zukunft abzielt, zum anderen das Selbstverständnis der Schüler als Konsumenten, deren Ansprüche sich über effektive Wissensvermittlung nicht befriedigen lassen.

Man mag nicht mit jedem Detail der Ausführungen übereinstimmen, nachdenklich stimmt das Buch auf jeden Fall, und viele Impulse wird man gern aufnehmen. Vielleicht kann dieses kleine Werk ja sogar etwas bewirken.

(Regina Károlyi; 10/2007)


Miguel Benasayag, Gérard Schmit: "Die verweigerte Zukunft.
Nicht die Kinder sind krank, sondern die Gesellschaft, die sie in Therapie schickt"

Aus dem Französischen von Karola Bartsch.
Antje Kunstmann Verlag, 2007. 160 Seiten.
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Der Psychoanalytiker und Philosoph Miguel Benasayag wurde 1953 in Argentinien geboren. Er arbeitete in Frankreich als Psychoanalytiker, gründete das Kollektiv "Malgré tout" und machte sich durch zahlreiche Veröffentlichungen einen Namen.