Adriano Prosperi: "Die Gabe der Seele"
Geschichte eines Kindsmords
Was
macht eigentlich den Menschen aus?
Lucia Cremonini, eine unverheiratete junge Mutter von dreiundzwanzig
Jahren, die am 05. Dezember 1709 das von ihr gerade erst zur Welt
gebrachte Kind tötet, steht im Mittelpunkt dieses Buches.
Anhand dieser Fallstudie, die stellvertretend für viele stehen
könnte, versucht Adriano Prosperi, ein wenig Licht in ein
dunkles Kapitel der Menschheitsgeschichte zu bringen, die Geschichte
der Kindstötung etwa vom Mittelalter bis in die frühe
Neuzeit. Prosperis Buch ist allerdings weit mehr als nur eine
kriminologische Studie, denn er beleuchtet das Thema sowohl vom
juristisch-kriminologischen als auch von einem theologischen, ethischen
und medizinischen Standpunkt aus, legt den Wandel in der Bewertung
einer solchen Tat dar, wie er sich im Laufe der Jahrhunderte vollzogen
hat, und geht den Gründen nach, die zu solch unterschiedlichen
Bewertungen dieses Verbrechens geführt haben. Dabei ist es
erstaunlich zu erfahren, für wie lange Zeit die
Kindstötung gar nicht als Verbrechen galt, sondern lediglich
als eine Sünde angesehen wurde, also nicht einmal der
staatlichen Gerichtsbarkeit unterstellt war. Nachdem allerdings die
Kriminalisierung der Kindstötung (darunter ist hier im engeren
Sinne die Tötung des neugeborenen Kindes durch die eigene
Mutter zu verstehen) erst einmal stattgefunden hatte, galt diese Tat
auch bald schon als besonders verwerflich und wurde dementsprechend
hart bestraft, nicht selten auch durch besonders grausame Methoden der
Hinrichtung. Wenig Interesse brachte man - wie Adriano Prosperi dies in
seinem Buch tut - der meist verzweifelten Lage der Mütter
entgegen, die sich zu einer solchen Tat gezwungen sahen. Erst in der
heraufdämmernden Neuzeit, als das Thema Kindsmord zunehmend
von der Literatur, namentlich den Autoren der Sturm- und Drangperiode
aufgegriffen wurde, vollzog sich eine Neu- und Umbewertung, indem der
betroffenen Frau nun auch die Rolle des Opfers zugebilligt wurde. Dies
ist durchaus vergleichbar mit der heutigen Diskussion über die
Abtreibung, und Prosperi zieht diese Parallele auch in seinem Buch.
Hinter all diesen kontrovers und mit viel Engagement geführten
Diskussionen steht natürlich das jeweilige Bild, das sich die
Vordenker und Lenker der menschlichen Gesellschaft, zumeist Kleriker,
vom Wesen und von der Bestimmung des Menschen gemacht haben; ein Bild,
das immer wieder starken Veränderungen unterworfen war, vor
allem, als die aufstrebende Naturwissenschaft der Kirche das Deutungs-
und Entscheidungsmonopol, wann ein Mensch ein Mensch ist, also
über eine Seele verfügt, streitig machte.
Dies alles behandelt Adriano Prosperi in seiner Fallstudie sehr
ausführlich, manchmal ein bisschen zu langatmig, wie ich
finde. Dabei werden selbstverständlich auch all die
Problemfelder beackert, die mehr oder weniger direkt am Wege liegen.
Wie etwa das Dogma von der Vorrangstellung des Mannes über die
Frau, eine Anschauung, die sich sogar als widerstandsfähiger
erwiesen hatte als das alte ptolemäische Weltbild. Und die
traditionell antifeministische Haltung der katholischen Kirche scheint
ja bis heute noch nicht überwunden. Die Winkelzüge
klerikaler Kasuistik und Rabulistik, die längst unhaltbar
gewordene Positionen noch verteidigen sollten und mit denen der Autor
seine Leser hier vertraut macht, häufig Gedankenspielereien
der kuriosesten Art, fordern in ihrer Abstrusität nicht selten
zu unverhohlenem Gelächter heraus. Ein weiteres zentrales
Thema Prosperis ist der Komplex von Schuld und Sühne, zum
Beispiel das Bemühen der Menschen, das fünfte Gebot
der Bibel: 'Du sollst nicht töten!' mit der damals
gängigen Praxis von
Folter
und Hinrichtungen in Einklang zu
bringen. Das ganze Feld der Bioethik kommt hier zur Sprache, auch die
Fragen und Probleme, die uns heute bedrängen, die sich zum
Beispiel mit der Möglichkeit der technischen
Reproduzierbarkeit von Leben stellen, wie sie den Forschern heute zu
Gebote steht. Die Frage nach den Grenzen wird hier also aufgeworfen;
die Frage, wie weit der Einfluss der Menschen auf das geborene wie auch
auf das ungeborene Leben gehen darf. Eine Fragestellung, die damals wie
heute eine brisante Aktualität hatte, nur dass sich die
Grenzen des Machbaren bis heute immer weiter verschoben haben. Nebenbei
erfährt der Leser so manches interessante und teilweise auch
überraschende kulturgeschichtliche Detail, wie beispielsweise
die Tatsache, dass der Kaiserschnitt zuerst ein Hilfsmittel der
Theologen war, um die ungeborene Kreatur taufen zu können, ehe
er sich zu einer chirurgischen Technik weiterentwickelte.
Was den speziellen Fall der Lucia Cremonini angeht, so waren die
Quellen Prosperis - eines Professors für Religionsgeschichte -
die Gerichtsprotokolle und Prozessakten, die von diesem Fall
überliefert sind. Und dieser Fall zieht sich wie ein roter
Faden durch das Buch, da die Informationen über die Tat und
den daran Beteiligten aber logischerweise recht spärlich sind,
fallen die Studien allgemeinerer Art, die Beleuchtung der
gesellschaftlichen Hintergründe, oder die Behandlung der sich
aus Ethik und Moral der damaligen Zeit hergeleiteten Bewertungen einer
solchen Tat, natürlich wesentlich umfangreicher aus.
Obwohl es sich also bei dieser Fallstudie um ein circa 300 Jahre
zurückliegendes Verbrechen handelt, mangelt es dem Buch nicht
an Aktualität, da die zentralen Fragen, die der Mensch an das
Leben stellt, heute wie damals im Grunde dieselben sind. Ein
interessantes Werk, wenn auch manchmal ein bisschen zu zäh und
langatmig geraten.
(Werner Fletcher; 06/2007)
Adriano
Prosperi: "Die Gabe der Seele. Geschichte eines Kindsmords"
Aus dem Italienischen von Joachim Schulte.
Suhrkamp, 2007. 518 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Luc Boltanski: "Soziologie
der Abtreibung. Zur Lage des
fötalen Lebens"
Die Abtreibung gehört auch heute noch zu den umstrittensten
Fragen unserer Gesellschaft. Weder findet sie eine breite
gesellschaftliche Akzeptanz, noch wird offen über sie
gesprochen. Abtreibung ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu.
Eine merkwürdige Grauzone umgibt sie. Das mag durchaus
überraschen, da die Abtreibung in den westlichen
Ländern unter bestimmten Voraussetzungen legal ist. Das Recht
auf Abtreibung gehört zudem zu den Errungenschaften der
Frauenenbewegung
und des Kampfes um die
Selbstbestimmung
der Frau.
Der französische Soziologe Luc Boltanski versucht, diese
paradoxe Situation zu erklären. Dabei greift er zum einen auf
ausführliche Interviews mit einhundert Frauen zurück,
die von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Abtreibung
berichten, und rekonstruiert zum anderen eine umfassende Geschichte der
gesellschaftlichen Abtreibungspraxis von der Antike bis zur Gegenwart.
Die Entscheidung für oder gegen Abtreibung, so skizziert
Boltanski seine Hauptthese, erweist sich dabei als
unauflösbarer Widerspruch, der der gesellschaftlichen Ordnung
insgesamt innewohnt: Einerseits ist jedes einzelne menschliche Wesen
einzigartig und unersetzbar, andererseits ist seine Austauschbarkeit
Grundvoraussetzung dafür, dass sich die Gesellschaft
fortwährend demografisch erneuert. Diese Paradoxie wiederholt
sich in der symbolischen Ordnung, die der
Schwangerschaft, der Geburt
und der Abtreibung ihre gesellschaftlichen Regeln gibt. Boltanskis Buch
führte in Frankreich zu einer heftigen und überaus
kontroversen Debatte, in der es um nichts weniger ging als um die
Grundregeln der gegenwärtigen Gesellschaft. (Suhrkamp)
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Luc Boltanski: "Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur,
Paranoia, moderne Gesellschaft"
Was hat die Kriminalliteratur mit der Paranoia und den
Sozialwissenschaften zu tun? Dieser Frage geht Luc Boltanski in seinem
höchst originellen Buch nach. Seine Antwort: Wie die
Sozialwissenschaften entsteht auch die Kriminalliteratur um die Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert, und in diese Zeit fällt auch die
Entdeckung der Paranoia in der
Psychiatrie.
Zusammen zeugen sie von einem sich zunehmend verbreitenden Zweifel an
der "Realität der Realität", der als Symptom der
Moderne gelten kann. Boltanski deckt diesen faszinierenden Zusammenhang
zwischen Kriminalliteratur, Paranoia und Wissenschaft insbesondere
durch fulminante Analysen der Romane von Arthur Conan Doyle und
Georges
Simenon auf. (Suhrkamp)
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