Martine und Caroline Laffon: "Kinder in den Kulturen der Welt"
Wie Kinder sich in Afrika, Amerika, Asien und Australien Schritt für Schritt dem Erwachsenenleben annähern, wie sie essen, sich kleiden, ihren Körper pflegen lernen, und wie ihr Übergang in einen neuen Lebensabschnitt jeweils von der ganzen Gemeinschaft mit farbenprächtigen Festen gefeiert wird
Martine und Caroline Laffon, Mutter und Tochter, laden in ihrem Buch "Kinder in den Kulturen der Welt" die Leserinnen und Leser auf eine Reise durch die Traditionen nicht-westlicher Kulturen ein, in denen Kinder heranwachsen und schließlich zu erwachsenen Menschen initiiert werden. Jedoch geht es ihnen weniger darum, ein Bild der Lebensbedingungen zu zeigen als vielmehr auf Traditionen hinzuweisen, die im Aussterben begriffen sind oder schon der Vergangenheit angehören. Auf diese Weise möchten sie einer zunehmenden Gleichförmigkeit der Gesellschaft und einer Verkümmerung der kulturellen Werte etwas entgegensetzen. Sie versuchen in ihren Bildern zu zeigen, wie nicht nur theoretisches und praktisches Wissen, sondern auch das Wissen um das Sein vermittelt wird und die Kinder zu Mitgliedern der Gesellschaft werden. In fünf Kapiteln führen sie die Leser vom Beginn der Nahrungsaufnahme, über das Schmücken des Körpers hin zu Heim und Familie. Über das Spielen und die Schule kommen sie zu Initiationsriten, Zeremonien und Traditionen.
Auf einem Bild sieht man ein junges chinesisches Mädchen im Kleid mit Rüschenträgern, das eine Schüssel mit Nudeln in der linken Hand hält und sich mit der rechten unter Zuhilfenahme von Stäbchen diese Nudeln in den Mund stopft. Während sich im Westen viele Menschen mehr oder weniger erfolgreich einen Spaß daraus machen, mit Stäbchen zu essen, beginnen Kinder in den fernöstlichen Ländern damit bereits im Alter von drei Jahren. Ein anderes Bild zeigt einen Jungen, vermutlich einen Indio, der an einem Sack voll Chilischoten lehnt. Er trägt den Hut eines Erwachsenen und einen bunten Poncho. Mit dem nackten rechten Fuß tippt er an eine Schale Reis, und mit einem Löffel versucht er, etwas Suppe aus einer anderen kleinen Schüssel zu fassen. Sein Mund ist verschmiert, und an seinem rechten Mundwinkel klebt noch ein Reiskorn. Die volle Aufmerksamkeit widmet er seinem Essen, und er scheint die Welt um sich vollkommen vergessen zu haben. Die roten Chilis im Sack daneben stehen für die Selbstständigkeit der Kinder in Bezug auf die Nahrungsaufnahme, denn manche Mütter der Andenregion oder Indiens reiben ihre Brust mit einer Chilischote ein, um die Kinder abzustillen. So grausam das klingt, eröffnet jedoch das Abstillen eine neue wundervolle Welt mit unterschiedlichsten Geschmacksrichtungen, Gerüchen, Farben und Konsistenzen. Und über die Speisen, die dem Körper zugeführt werden, wird das Innerste geprägt und auch zum Teil die kulturelle Identität verankert.
Zwei kleine schwarze Mädchen halten sich umschlungen, ihre kräftig gelben Wickeltücher heben sich von ihren dunklen Körpern prächtig ab. Die jungen Ghanesinnen tragen bei ihrer Initiation die gleichen Wickeltücher wie ihre großen Schwestern. In dem kälteren Bhutan trägt ein Junge einen bunten Mantel, den ein schützender Gürtel umgibt. Er symbolisiert die verbindende Nabelschnur. Muscheln hängen als Glücksbringer daran, und kleine Glöckchen vertreiben böse Geister und verhindern, dass sich das Kind zu weit von der Mutter entfernt. Haare gelten als Symbol für Wildheit und Lebenslust und sind ebenso ein Schmuckstück. Dies dürfte wohl die Ursache für die zeremonielle Rasur eines Jungen des buddhistischen oder hinduistischen Glaubens sein. Denn wenn er sich dem Klosterleben zuwendet, versinnbildlicht die Rasur seine Unterwerfung unter die göttliche Ordnung und seinen Verzicht auf materielle Freuden. Und so sieht der kleine Junge im roten Kleid sehr zwiespältig drein, während ein Klosterbruder ihm die Haare abrasiert. Ein Aboriginejunge freut sich hingegen noch seiner Haarpracht. Für ihn kommt der Kontakt mit der spirituellen Welt über eine Bemalung seines Körpers zustande. Und so ist sein Erwachsenwerden gleichbedeutend mit der Fähigkeit, die Kraft der Ahnen geistig und über die Körperbemalung wahrzunehmen. Der Körper steht somit in den verschiedensten Kulturen im Mittelpunkt der Erziehung und ist Gegenstand vielfältiger Regeln bezüglich Hygiene, Kleidung, Schmuck und Bewegung.
Keinem Kind bleibt die Zeit erspart, in der es selbstständig werden muss. In traditionellen Kulturen Afrikas und Asiens fallen Aufgaben wie Holz und Wasser holen, sich um die kleinen Geschwister und das Vieh kümmern, sauber machen oft in den Verantwortungsbereich von erst Vierjährigen. Auf diese Weise wächst das Kind früh in die Gemeinschaft hinein und findet leichter den Platz, den es später einzunehmen hat. So bauen Kinder der Pygmäen in Zaire bereits in jüngsten Jahren kleine Hütten aus Zweigen und Blättern, wobei diese mit Macheten, die fast so groß wie sie selbst sind, Äste zurecht schneiden. In Indien lernen Mädchen früh, Wasserkrüge auf dem Kopf zu tragen. Jedoch wird es ihnen nicht unbedingt beigebracht, sondern sie eignen es sich mit der Zeit an, ebenso wie diverse Benimmregeln. Auch ein Nenet-Junge in Sibirien lernt auf diese Weise das Lassowerfen, um damit die Rentiere, das kostbarste Gut der Gegend, einzufangen. Und voll Stolz blickt er in die Kamera, weiß er doch, dass er auf dem besten Weg ist, ein vollwertiges Mitglied seines Stammes zu werden.
Das Spiel stand am Anfang des Lernens eines Kindes. Vieles wurde von den Erwachsenen abgeschaut und im Spiel dann ausprobiert und perfektioniert. Spiel bedeutet aber auch das Lernen von Abstraktem. Im Wüstensand Mauretaniens sitzen sich zwei Tuareg-Kinder auf kleinen Teppichen gegenüber. Während dem einen Knaben vor kurzer Zeit der Kopf geschoren worden ist, bedeckt eine strubbelige Mähne das Haupt des anderen. Beide tragen die traditionell blauen Gewänder und sind in das Spiel mit Stöckchen und Steinen zwischen ihnen vertieft. Bald nach dem Spiel kommt jedoch die Schule. Während beim Spiel die Kinder ruhig saßen, weil sie sich auf das Spiel konzentrierten, müssen sie nun ruhig sitzen, weil es ein Lehrender von ihnen verlangt. Und die Tendenz, beim Schreiben mit den Augen bis wenige Zentimeter an das Heft heranzugehen, scheint in der ganzen Welt Gültigkeit zu besitzen. Auch für den Jungen, der in Mali die Volksschule besucht. Der Schultisch, auf den das Heft gelegt ist, ist eine niedrige Lehmmauer, sein Stuhl, auf dem er sitzt, ein Stein.
Die Initiationsriten sind dazu gedacht, das Kind auf die Eingliederung in die Gemeinschaft vorzubereiten. Dabei muss es sich von seinem bisherigen Leben lösen und symbolisch sterben, um auf seinem Platz in der Gesellschaft wiedergeboren zu werden. In manchen Kulturen, vor allem in solchen, die harte Männer hervorbringen wollen, sind diese Wege für die Burschen recht schmerzhaft. Betrachtet man das Bild von vier Kindern in Papua-Neuguinea, die für eine Zeremonie festlich geschmückt sind und aus deren Augen noch die Neugierde schaut, so würde man folgende Grausamkeiten nicht vermuten. Aber auch Mädchen werden initiiert. Jedoch ist ihr Weg meist ein sanfterer, da sie nicht Krieger werden, sondern Gebärende und Bewahrende. Häufig wird der Weg ins Erwachsenenalter von Großeltern begleitet, die ein Gegensatzpaar von Jung und Alt bilden und somit die zwei Enden des Lebens darstellen. So endet das Buch auch mit dem Bild, auf dem ein junger einen alten Mönch an der Hand über Treppen hinaufführt. Hand in Hand symbolisieren sie die Einheit des Lebens und werfen die Frage auf, wer hier von wem Hilfe erfährt. Die Weisheit des Alters und die Kraft der Jugend sind vereint.
Martine Laffon ist Buchautorin und beschäftigt sich mit traditioneller Medizin und Lebensweise. Ihre Tochter Caroline studierte Film und ist in Frankreich für ihre Sachbücher und Jugendromane bekannt. Mutter und Tochter haben mit diesem Buch eine Fülle von Kulturzeugnissen zusammengetragen und dargestellt. Die vielen Bilder und die begleitenden Texte informieren und unterhalten zugleich. Einzig schade, dass sie sich nicht auch der Kinder unserer westlichen Welt angenommen haben, denn dies würde das Bild erst richtig abrunden.
(Jean de Carois; 04/2003)
Martine und Caroline Laffon: "Kinder in den Kulturen der Welt"
Aus dem Französischen
von Eva Plorin und Alexandra Behme.
Gerstenberg, 2003. 240 Seiten. 168
Abbildungen.
ISBN
3-8067-2915-8.
ca. EUR 35,-.
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