Angela Rupprecht, Ruth Eichhorn (Hrsg.): "Kinder"
Die Zukunft der Menschheit
Das
vorliegende Buch enthält die besten "UNICEF-Fotos des Jahres"
ab dem Jahr 2000.
Was sich nüchtern anlesen mag, ist von großer
Bedeutung. Denn es sind ausnahmslos Fotos von Kindern, die betrachtet
werden können. Zudem Aufnahmen, welche zu 99 Prozent nichts
mit der "modernen" Welt bzw. dem berühmten "goldenen
Käfig" zu tun haben. Den Fotografen und Autoren geht es
ausschließlich darum, Kinder in Augenschein zu nehmen, die
von großen Schicksalen betroffen sind. Der vielleicht
bemerkenswerteste Essay stammt
von Eduardo Galeano, der den extremen
Wohlstand, in dem manche Kinder aufwachsen, und die extreme Armut, mit
der viel mehr Kinder von Geburt an konfrontiert sind, in Beziehung
zueinander setzt. Er beschreibt die Perversion, welche hinter den
Fassaden reicher Menschen stattfindet. Kinder sind eingesperrt in einer
Konsumwelt
und bewegen sich abseits jener Faktoren, die für sie von
Bedeutung wären. Sie leben in einer Welt, die sich dem Schein
hingegeben hat. Völlig konträr die Situation der
ärmsten Kinder auf diesem Planeten. Sie sind oftmals auf sich
allein gestellt; werden als Kindersoldaten, Arbeitssklaven oder
Sexualobjekte degradiert. Ihre Kindheit wird ihnen gestohlen, und es
ist wohl unmöglich, ihnen später jene Würde
zurück zu geben, der jeder Mensch bedarf.
Die unterschiedlichsten Schicksalsschläge vermögen
Kinder zu treffen. Was in diesem Bildband enthalten ist, reicht von
Säureattentaten auf heiratsunwillige (Zwangsehe)
Mädchen in Bangladesch bis zu durch den Einsatz
von Pestiziden auf
Bananenplantagen vergiftete Kinder in Costa Rica. Es ist schier
unfassbar, welches Leid Kindern auf dieser Welt widerfährt.
Das wird auf eine Weise dokumentiert, die das Herz tief
erschüttern mag. Bemerkenswert ist, wie Kinder mit ihren
Schicksalen umgehen. Trotz all der grauenhaften Dinge, die sie zu
überstehen haben, bleiben sie neugierig und balgen sich
teilweise darum, auf einem Foto verewigt zu werden.
Kinderarbeit ist weltweit gang und gäbe. Es wird
geschätzt, dass zumindest 100 Millionen Kinder unter 15 Jahren
davon betroffen sind. Die Dunkelziffer liegt um vieles
höher´.
Allein in Bangladesch sind es 15 Millionen, in Indien etwa 44 Millionen
und gut 60 Millionen in
Lateinamerika. Hauptgrund für Kinderarbeit sind die
geringen Kosten. Die meisten Kinder arbeiten nahezu ohne Bezahlung.
Nicht selten werden sie zu zwölf- bis
sechzehnstündigen Arbeitstagen gezwungen. Dabei reicht das
"Arbeitsgebiet" vom Baumwoll- und Kaffeepflücken,
Teppichknüpfen, Zigarettendrehen bis zur extrem schweren
Arbeit in Bergwerken und Marmorsteinbrüchen. Die Zahl
minderjähriger Prostituierter in
Thailand wird auf
Ein Beispiel für unfassbare Kinderarbeit sei mit einem Jungen
gegeben, der auf Sansibar für die Fischer im Hafen von Stone
Town arbeitet. Er ist gerade mal fünf Jahre alt, und seine
Aufgabe ist es, Morgen für Morgen die in der Nacht gefangenen
Tintenfische zunächst zu töten und dann weich zu
schlagen. Pro Tier benötigt er etwa fünf Minuten.
Kinder in Kriegsgebieten wie Ruanda, dem Kosovo oder der demokratischen
Republik Kongo sind nichts anderes gewöhnt, als sich irgendwie
durchzuschlagen. Das ändert nichts daran, dass sie schnell
Freundschaften untereinander schließen und der Welt mit
großen Augen begegnen. Als
Kindersoldaten
müssen sie Menschen töten, um nicht selbst
getötet zu werden. Sie sind teilweise kaum in der Lage, ein
Gewehr zu tragen und werden in Mordgelüste von
Bürgerkriegern eingesponnen.
Das Schicksal der Agent-Orange-Kinder in Vietnam ist grauenhaft.
Zwischen 1967 und 1971 wurden mindestens 40 Millionen Liter Agent
Orange, eine dioxinhältige Substanz, von den
US-Streitkräften auf Vietnam niedergeregnet. Gut eine Million
Menschen leidet derzeit an den Spätfolgen von Agent Orange. In
Gebieten, wo Agent Orange verstärkt eingesetzt wurde, werden
dreimal mehr Kinder mit Gaumen-Kieferspalten, geistiger
Zurückgebliebenheit oder zusätzlichen bzw. weniger
Gliedmaßen geboren als in anderen Gebieten. Kinder ohne Arme
und Beine werden von Menschen, die im gleichen Dorf leben, als Monster
bezeichnet.
Bilder aus Rumänien, Russland, Deutschland, England,
Südafrika, Liberia, Irak, Afghanistan und vielen anderen
Ländern vermitteln einen Eindruck davon, in welchen
Situationen sich Kinder behaupten müssen. Manche Kinder haben
Glück im Unglück (etwa Begabtenförderung in
St. Petersburg), andere suchen das Glück, indem sie sich
monatelang auf die Reise Richtung einer "besseren" Welt machen
(Honduras), und viele Kinder haben es gelernt, sich Wege zu suchen,
durch die ein Überleben inmitten einer feindlichen Welt
gegeben ist (Straßenkinder in der Mongolei, die im
unterirdischen System der Fernheizung den Winter überstehen).
Die Macht der Bilder ist überwältigend. Andererseits
geraten Bilder schnell in Vergessenheit. In der schnelllebigen Welt des
Wohlstands überwiegt Information, die von Tag zu Tag ein
anderes Gesicht bekommt. Nur selten können sich Bilder
über längere Zeit bewahren. Wenn der Betrachter nicht
bereit ist, den Bildern Aufmerksamkeit zu schenken und sie nur
oberflächlich ansieht, dann wird es ihm wie jenen zahlreichen
Menschen gehen, die von Fernsehsender zu Fernsehsender zappen
und im Endeffekt nichts mehr von dem wissen, was sie gesehen haben
könnten. Doch es gilt, nicht an den Schicksalen dieser Kinder
vorbei zu sehen. Ein Foto vermittelt viel mehr Eindruck als Worte.
Somit kann ich auch nur darauf hinweisen, keine oberflächliche
Sicht der Dinge zuzulassen. Das Übersehen konkreter Schicksale
führt derzeit dazu, dass Milliarden von Menschen, welche in
tiefster Armut zu leben gezwungen sind, sich selbst überlassen
bleiben. Nur in Extremfällen, die an die
Öffentlichkeit gelangen, werden sie zum Teil konkret
unterstützt. Dass von einer gerechten Welt nicht die Rede sein
kann, wissen wir alle. Aber machen wir uns dies auch wirklich bewusst?
Der Bildband mag uns die Augen bezüglich dessen
öffnen, was auf dieser Welt alles geschieht, von dem wir
Nichtbetroffenen oft nicht einmal marginal Ahnung haben.
Mit dem Kauf dieses Buches können Sie die Initiative "Schulen
für Afrika" unterstützen. UNICEF hilft beispielsweise
dabei, 1500 Schulen in Angola zu bauen oder wieder herzurichten. Im
jahrzehntelangen Bürgerkrieg wurden viele Schulen
zerstört.
Machen Sie sich bereit für eine Reise in die Welten von
Kindern, die manchmal so verzweifelt sind, dass sie nicht mehr lachen
können. Und verschließen Sie nicht die Augen vor all
dem Elend. Kinder brauchen überall auf der Welt Aufmerksamkeit
und Liebe. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass sie in
späteren Jahren zu jenen Monstern werden, die ihre Umwelt
bedrohen, verunsichern und zerstören. Wir alle waren einmal
Kinder.
Das sollten wir nie vergessen.
(Jürgen Heimlich; 09/2005)
Angela
Rupprecht, Ruth Eichhorn (Hrsg.): "Kinder"
Gerstenberg, 2005. 175 Seiten.
ISBN 3-8067-2564-0.
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