Nacer Khemir: "Das verlorene Halsband der Taube"
Der am 1. April 1948 in Korba, Tunesien
geborene und überwiegend
in Paris lebende Erzähler, Bildhauer, Filmemacher und
Geschichtenerzähler Nacer Khemir legt mit diesem Band ein poetisches Juwel seiner
umfassenden Kunst vor. Es ist ein Buch zu einem Film (wunderschöne Farbfotos
daraus geben einen Hinweis auf die gewaltige Bildkraft und Ausdrucksstärke),
aber darüber hinaus zeigt Khemir in seiner arabisch/muselmanischen Erzähltradition,
wie der Ausgangspunkt seiner Geschichten häufig im Koran zu finden ist. Wunderschön
ist der Beitrag über einige der "60 Wörter für die Liebe" - erklärt er sowohl
den jeweiligen Begriff als auch das dazugehörige arabische Kalligraphiezeichen.
Kalligraphie, die eine Kunst des Geheiligten ist, versteht Khemir als die Sublimation
des einzelnen Zeichens, gewissermaßen um mit dem Heiligen in Berührung zu kommen,
er ist der Ansicht, dass sie die Manifestation des göttlichen Ausdrucks sei.
Wie in ihr das göttliche Wort erscheine, so sei der Koran das göttliche Wort.
Im vorliegenden Werk wurden einige Auszüge aus seinen Büchern zusammengestellt,
vereinigt sind Ausschnitte aus drei Erzählbüchern, ein Gespräch mit dem Autor,
der im Interview ausführlich unter anderem über die Rolle von Büchern und Erzählern
im arabischen Raum spricht, Bilder und Zeichnungen und Betrachtungen zu seinem
Film "Das verlorene
Halsband der Taube".
Der erste Teil des Buches handelt von der "Geschichte der Geschichtenerzähler",
deren verschachtelte Struktur stark an die
Geschichten
aus 1001 Nacht erinnert.
Der Ausschnitt aus "Die Menschenfresserin" entstand während eines Sommers in
Tunesien in Zusammenarbeit mit seinen Schwestern und markiert für Khemir die
abgeschlossene Zeit der Kindheit - es sind weibliche Geschichten, von Frauen
weitergegeben, um ihre Kinder sowohl zu schützen, als auch ins Leben einzuführen.
Diese eigenständige Kunst des Erzählens wird von der Mutter an die Tochter weitergegeben.
Die dazugehörigen künstlerisch ausdrucksstarken Zeichnungen stammen ebenfalls
von seinen Schwestern.
Während der Arbeit an der "Menschenfresserin" beobachtete Khemirs Mutter aufmerksam
die entstehenden Zeichnungen und fing schließlich selbst damit, eigenwillige
Miniaturen anzufertigen. Allmählich begann in Zusammenarbeit zwischen Mutter
und Sohn ein eigenes Buch Gestalt anzunehmen: "Die ummauerte Sonne oder Oum
el Khir - Geschichten einer Mutter". Einige der wundersamen Geschichten und
die dazugehörigen Bilder sind im nächsten Teil des vorliegenden Bandes zu finden.
Nacer Khemirs Anspruch als Autor, Erzähler und Filmemacher drückt eine nahezu
an Besessenheit grenzende Liebe zur Erzählkunst aus, die die eigene Sehnsucht
nährt, mehr von seinem differenzierten Schaffen kennenzulernen, seinen Filmen,
dem Erlebnis seiner orientalischen Erzählkunst, in der er selbst Zeugnis einer
komplexen Kultur über den Rahmen des individuellen Ausdrucks und seiner Subjektivität
hinaus geben will, in natura beizuwohnen.
(Gabriele Klinger; 04/2004)
Nacer Khemir: "Das verlorene Halsband
der Taube"
Herausgegeben von Walter Ruggle und Bruno Jaeggi.
Trigon,
2004.
Buch bei amazon.de bestellen