Imre Kertész: "Detektivgeschichte"

Die 1977 im Original erschienene Erzählung erstmals auf Deutsch


Geschrieben vor mehr als einem Vierteljahrhundert - aber so brandaktuell, wie brandaktuelle Geschichten nur sein können. Eine zwingend klare Sprache lässt vor unserem geistigen Auge ein Bild entstehen, das in seiner zeitlosen Gültigkeit ein erschreckendes Ausmaß erreicht.
Bei der Lektüre vermeint man einen Sog zu fühlen, der sich immer mehr verstärkt. Das Gefühl der Ausweglosigkeit des Erzählenden, des Polizisten Martens, steigert sich immer mehr, um mit den Exekutionsschüssen das gleichsam programmierte Ende zu finden.

Man fragt sich: Wie weit ist der Mensch Antonio Martens hier den Weg der Entmenschlichung gegangen, um von den Exekutierten als "leere Säcke, die in ihren Seilen hingen" zu sprechen?
Imre Kertész beschreibt mit diesen Worten den Abstieg, den Antonio Martens, der anfangs ja nur seine berufliche Position verbessern wollte, durchmacht. Treffender und einrucksvoller wäre es nicht möglich gewesen. Anfangs war da nichts Böses, nichts Unrechtes für Martens. Jeder will doch emporkommen, eine bessere Position. Doch dann geht es langsam Schritt für Schritt. Seine Kopfschmerzen zeigen ihm zwar an, dass er sich auf ungutes Terrain begibt, aber der Zynismus und Sadismus seiner Vorgesetzten und das trügerische Gefühl sich selbst heraushalten zu können, lassen ihn immer tiefer in die Verstrickung geraten.
Schließlich entgleitet ihm sein eigenes Wollen immer mehr, und er wird zum Werkzeug des staatlichen Machtapparates.

Ein letztes Aufflackern seines Widerstandes ereignet sich beim Besuch des Oberst, jedoch macht dieser Martens auf drastisch-eindeutige Weise klar, wohin ihn sein Schicksal letztendlich führen wird.

Kertész bedient sich der einfachen Sprache des "Bullen", um die Dinge auf den Punkt zu bringen: Nicht dem Gesetz, der Macht dienen sie, belehrt ihn Diaz, der Führer der Gruppe, und das Wesentliche daran wäre die Reihenfolge ...
Feiner ziseliert kann man Diktatur nicht beschreiben.

Interesse verdient auch der Antisemitismus des lustvollen Folterknechtes Rodriguez. Sein ihm innewohnender Hass sucht ein Ziel. In irgend einem obskuren Buch findet er es: Juden. Die Verknüpfung mit der Vokabel "dagegen sein" hat für ihn zwingende Logik. Die Schuldzuweisung ist für ihn perfekt. Er kann ungehemmt seinen Hass ausleben. Das Opfer trägt die Schuld in sich. Jude und Widerstand geben ihm den Freibrief, die Absolution für sein teuflisches Tun.

Eine weitere Schlüsselfigur ist der Informant Ramos. Imre Kertész führt uns Schritt für Schritt sein erbarmungswürdiges Ich vor. Und der junge Salinas, schwankend zwischen Selbstmordgedanken, Lebensüberdruss, Liebessehnsucht, klebt an der Leimrute des Gewissenlosen fest. Seine übermächtige Sehnsucht nach Freundschaft und Anerkennung in der Gruppe lässt ihn blind gegenüber dem falschen Freund sein.

Aber auch die Liebe eines Vaters, des Federigo Salinas, kann das Machtgebäude nicht durchbrechen. Im Gegenteil, seine Aussagen knüpfen die Stricke um seinen Sohn immer fester um schlussendlich auch ihn selbst festzuzurren.

Immer wieder zeigt Imre Kertész die Pfeiler des Machtapparates auf: Sadisten, Täter und Mitläufer. Die eingesetzten Mittel sind aber auch teilweise völlig legal und wirken eher harmlos bürokratisch. Ich spreche hier von den Protokollen. Alles wird fein säuberlich protokolliert. Auch wenn die Aussage eines Zeugen inhaltslos war, sie wird protokolliert und ordnungsgemäß in einem Aktenordner abgelegt. Ordnung beruhigt das Gewissen der Mitläufertypen. Und irgendwann werden diese nichtssagenden Protokolle einzig durch ihre Existenz zu einem Beweismittel.

Es ist ein erschütterndes Buch, das nun endlich in deutscher Sprache vorliegt. Erschütternd in seiner Gültigkeit über die Jahre hinweg und erschütternd in der Gewissheit, dass heute, jetzt, in dieser Stunde die gleiche Geschichte an vielen Orten der Welt genauso abläuft. Nur die Geografie ist eine andere, die Namen der Figuren, aber die Mechanismen der Macht von Menschen über Menschen sind die gleichen.

Eigentlich eine Pflichtlektüre für alle Staatsbürger.

(HB; 11/2004)


Imre Kertész: "Detektivgeschichte" Kertesz
Deutsch von Angelika Máté, Peter Máté.
Rowohlt, 2004. 144 Seiten.
ISBN 3-498-03525-8.
ca. EUR 13,30.
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Einige weitere Werke des Autors:


"Roman eines Schicksallosen"

Imre Kertész ist etwas Skandalöses gelungen: die Entmystifizierung von Auschwitz. Es gibt kein literarisches Werk, das in dieser Konsequenz, ohne zu deuten, ohne zu werten, der Perspektive eines staunenden Kindes treu geblieben ist. Wohl nie zuvor hat ein Autor seine Figur Schritt für Schritt bis an jene Grenze hinab begleitet, wo das nackte Leben zur hemmungslosen, glücksüchtigen, obszönen Angelegenheit wird. (Rowohlt)
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"Liquidation"

"Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst gab es aber noch, und das war ein Problem ...", das Hauptproblem der Generation von Ostmitteleuropäern, denen das "System" zwar enge Grenzen gesetzt, aber auch Richtung und Ziel gegeben hatte. Wie ist es, fragt der ungarische Nobelpreisträger in seinem Roman, wenn sich das Ich nicht mehr durch Widerstand konsolidieren kann, wenn die Realität in belanglose Einzelheiten zerfällt und damit als Maßstab und Prüfstein der Existenz liquidiert wird?
Für den Verlagslektor Keserü wird zehn Jahre nach der Wende das Liquidation betitelte Theaterstück, das er aus dem Nachlass seines Freundes B. gerettet hat, zum Gegenstand obsessiver Erinnerungsarbeit. B., in Auschwitz geboren, hat sich 1990 überraschend umgebracht, in seinem Stück jedoch gespenstisch genau die Situation vorweggenommen, die die Hinterbliebenen dann in der Realität erleben sollten: Verwirrung, private Zerwürfnisse, Schlammschlachten aller Art. Umso verzweifelter, als hinge der eigene Lebenssinn davon ab, fahndet Keserü nach dem "großen Lebensroman" des B., den er im Nachlass zu finden gehofft hatte. Hat ihn Sara, die Geliebte des B., oder Judit, seine geschiedene Frau? Kertész entfaltet die Handlung meisterlich, mit fast kriminalistischer Spannung und den Registern seiner Ironie. Während die Ereignisse um den mysteriösen Freitod in der Erinnerung des Freundes ablaufen, wird mit der Lebensgeschichte des B. nicht nur die seines Beinahe-Doppelgängers Keserü aufgerollt, sondern vor allem auch die seiner Ex-Frau Judit, die B. einst wegen seiner radikalen Lebensabsage verlassen hat: Mit großer Souveränität knüpft Imre Kertész in "Liquidation" an die Thematik seines "Kaddisch-Romans" an. (Suhrkamp)
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Dossier K. Eine Ermittlung"
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"Der Betrachter" Aufzeichnungen 1991-2001
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"Letzte Einkehr" Tagebücher 2001-2009. Mit einem Prosafragment
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"Die englische Flagge"
Vom ungarischen Aufstand 1956 erzählt Imre Kertész und jener "Katastrophenzeit", als sich in Ungarn der Übergang "vom totalen Krieg zum totalen Frieden" vollzog; von einer "Ortsbegehung", zu der ein Fremder mit einem geheimnisvollen "Auftrag" nach vielen Jahren an den "Tatort" unsäglicher Verbrechen zurückkehrt, deren Opfer er einst selbst gewesen ist; und von einer Reise von Budapest nach Wien, die, im leichtsinnigen Glauben neugewonnener Freiheit nach der "Wende" unternommen, an den rigiden Devisenbestimmungen seines Landes scheitert und in die bittere Gewissheit des Ich-Erzählers mündet, dass er auch künftig ein Gefangener seiner Erfahrungen bleiben wird. (Rowohlt)
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