István Kerékgyártó: "Engelsfurz"
Eine
melancholische Welt in farbenfroher Darstellung
Im ländlich wirkenden Randbezirk einer ungarischen Kleinstadt
wächst in den 60er-Jahren der Junge
Lajos heran. Er erlebt den Beginn seiner
Pubertät vor dem Hintergrund des allmählich
aufkommenden "Gulaschkommunismus": Ein Großteil der Menschen
hat die Verlogenheit und Lächerlichkeit des Systems erkannt
und sich in die scheinbar oberflächlichen
Vergnügungen des Privatlebens zurückgezogen, sofern
keine staatlich verordneten Demonstrationen der
Kommunismusgläubigkeit anfallen. Lajos'
Onkel Gyula bildet eine Ausnahme. Als Kriegsgefangener wurde er in
Russland glühender Kommunist, und nun versucht er, die
geschlossene Ablehnung von Layos'
Großfamilie zu durchbrechen und die Widerspenstigen zu
bekehren - oder doch wenigstens Layos, der mit
seinen zwölf Jahren zunächst für alles
empfänglich ist: für die Versprechungen des
Kommunismus ebenso wie für feine gestreifte Hosen und zart
schmelzende Schokolade aus Paketen amerikanischer Wohltäter,
für den religiösen Fanatismus seines
Großvaters ebenso wie für die Lockungen der
süßen Gyöngyi aus seiner Klasse und die
heimlich beobachteten Liebesabenteuer des Pfarrers, eines weithin
bekannten Schürzenjägers.
Mit der Zeit erhält die scheinbar so glanzvolle und
sehnsüchtig betrachtete Welt der Erwachsenen jedoch erste
Risse. Eine seltsam zwanghafte Veranstaltung der Friedensaktivisten, zu
der Gyula den Jungen mitnimmt, entpuppt sich als überaus
lächerliche Farce, und Gyula erntet nur noch Widerwillen, als
er nach Gagarins Weltumrundung zum glühenden Anhänger
des Kosmonauten wird und unablässig auf die russische Technik
schwört. Die zarte Liebe zu Gyöngyi nimmt eine
unverhoffte Wendung, die Layos eine Weile aus
der Bahn zu werfen droht. Seine Tante klärt ihn über
den Ursprung des distanzierten Verhältnisses seiner Mutter zu
ihm auf. Als er in die Fürsorge seiner liebevollen
Großmutter flieht und vielleicht ein letztes Mal das
Gefühl auskostet, ein Kind zu sein, spürt er die
Entwicklung zum Erwachsenen, die sich in ihm anbahnt, und er ist nicht
sicher: Waren die vergangenen Ereignisse wirklich so bedeutsam oder
doch nur ... ein Engelsfurz?
Dem Autor gelingt es vorzüglich, die befremdliche
Erwachsenenwelt und die politischen Verirrungen jener Zeit aus der
Sicht eines Zwölfjährigen zu skizzieren, der sich
allmählich nicht mehr mit den Ausflüchten der
Erwachsenen abspeisen lässt, wenn kritische Themen aufs Tapet
kommen. Das Buch ist weit mehr als ein Roman um das Einsetzen der
Pubertät und das Zerplatzen kindlicher Illusionen, stellt es
doch eine vielfarbige Momentaufnahme des ländlichen Lebens im
verhältnismäßig ruhigen Ungarn nach dem
gescheiterten Aufstand dar. Farben spielen in diesem Roman in der Tat
eine besondere Rolle, denn jedes Kapitel wird von einer anderen Farbe
geprägt, ähnlich wie die vergänglichen
Jahreszeiten, einer Farbe, die sich in und an Menschen, Tieren,
Gegenständen und Landschaftselementen wieder findet.
Kraftvoll und authentisch treten
Kerékgyártós Charaktere auf, mit Verve
und Gefühl gezeichnet, als seien sie geradewegs dem Leben
entstiegen - was vermutlich in den meisten Fällen
tatsächlich zutrifft, weil der Roman ausgeprägte
autobiografische Züge aufweist. Unterschwellig, zuweilen auch
ganz offen beobachtet man einen ins Sarkastisch-Zynische spielenden
Humor; neben den lebendigen, häufig deftigen Schilderungen
finden sich immer wieder sehr fein und sensibel verfasste Passagen.
Die nur scheinbar lose verbundenen Anekdoten aus
Layos' Erinnerung sind aufgrund des
abwechslungsreichen, niemals manierierten Stils sehr kurzweilig zu
lesen. Ihre Tiefe erschließt sich zuweilen erst auf den
zweiten Blick. Die Lektüre lohnt sich auch für
Menschen, die zu
Ungarn und seiner kommunistischen Zeit keine direkte
Beziehung haben.
(Regina Károlyi; 12/2006)
István
Kerékgyártó: "Engelsfurz"
Aus dem Ungarischen von Clemens Prinz.
Kortina Verlag, 2006. 323 Seiten.
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István Kerékgyártó, geboren 1953, studierte Jura und Philosophie, arbeitete als Universitätsdozent und Privatisierungsberater, war mittlerer und höherer Beamter, sowie Mittel- und Großunternehmer. Im Alter von 47 Jahren wandte er seinen bisherigen "Rennbahnen" den Rücken zu und schrieb seinen ersten Roman "Vagyonregény", der vom Aufbau des Kapitalismus in Ungarn nach der Wende erzählt, in einer Mischung aus Fiktion und Tatsachenroman.