Alison Louise Kennedy: "Day"
Eine
Homerische Rehabilitation
im stilistischen Bombenhagel
A. L. Kennedy schreibt über einen früheren Krieg, "als
Möglichkeit,
über den heutigen zu schreiben und darüber, wer wir
wirklich sind."
Herausgekommen ist ein stilistisches Meisterwerk.
Zu Beginn des Romans begegnet der Leser einem 25-jährigen
Briten anno 1949 am
Drehort für einen Film in der Lüneburger Heide. Es
ist ein täuschend echt
nachgebautes Kriegsgefangenenlager aus dem Zweiten Weltkrieg. Alfred
Day wirkt als
Komparse mit.
Soweit nicht ungewöhnlich oder gar spektakulär. Doch
Alfred war Heckschütze
einer Bomberbesatzung der "Royal Air Force", die
ihre "Ladung
auf die Witwen und Waisen [schmiss]" und Städte wie
Hamburg und Essen
dem Erdboden gleichmachte.
Er wurde zwei Jahre vor Kriegsende von den Deutschen gefangengenommen,
misshandelt und für den Rest des Krieges interniert.
Nun ist seine "letzte Mission" erfüllt.
Vier Entscheidungen hat er in seinem ganzen Leben getroffen. Drei
konnte er
bisher "erfolgreich" umsetzen: sich (1939 mit gerade einmal 15 Jahren)
freiwillig zu melden, bevor er eingezogen wird, Heckschütze
und nichts Anderes
zu werden und seinen Vater umzubringen. Blieb nur noch Punkt vier: "nach
Deutschland ins nachgebaute Lager zurückzukehren".
Vielleicht ein letzter Versuch, in dieser rekonstruierten
"Lagerarchitektur" und der wilden Mischung von neuen und alten
Diensthabenden, "guten" Deutschen, Vertriebenen und ehemaligen
Kriegsteilnehmern
den Krieg noch einmal zu durchleben, sich an alles zu erinnern und
Geschehnisse
aufzuarbeiten, um eine mögliche Katharsis zu erreichen.
Denn der schwer Traumatisierte hat ein Problem: "Müdigkeit
- oder eher
Ärger über seine Müdigkeit - oder doch eher
Müdigkeit, die von seinem Ärger
herrührte - oder womöglich beides."
Alfred Day findet keinen Frieden im Frieden; weder mit sich selbst,
noch in der
vermeintlichen Inhaltsleere der Nachkriegswelt. Tatsächlich
hat er sein ganzes
Leben in Kriegszonen verbracht: Zuerst der ohne Regeln ausgetragene
private
Konflikt seiner gewalttätigen Kindheit, (sein Vater, ein
Fischverkäufer und
brutaler Säufer, schlug ihn und seine Mutter), und dann das
regelmäßigere
Schlachtfeld des "offiziellen" Krieges, dessen Struktur,
Stabilität
und Kameradschaft er sogar liebte.
Seine wahre Familie ist eine aus sieben Männern
zusammengeschweißte Besatzung
eines Bombers, die offensichtlich wenig gemeinsam haben, aber auf sich
allein
gestellt wohl nicht überleben könnten. Sie teilen
Erfahrungen, die für einen
Außenstehenden, der nicht Nacht für Nacht Hunderte
Meilen in feindliches
Territorium fliegt, um
Bomben auf Deutschland fallen zu lassen, kaum
verständlich
sind: Sie entwickeln ihre eigenen Rituale, singen ihre eigenen Lieder,
haben
einen unverkennbaren schwarzen Humor und schotten sich in ihrer eigenen
Welt ab.
Für Day sind sie Vaterersatz, Familie und Liebe, all das, was
er zuvor nicht
kennengelernt hat.
Doch die "fliegende Ersatzfamilie" wird 1943 in der Nähe von
Hamburg abgeschossen,
und Alfred ist der einzige Überlebende.
Jetzt im Frieden ist das innere Leben Alfred Days ein Vakuum,
gefüllt mit
Verlusten. Er vermisst "seinen" Krieg, vermisst die Besatzung. Er
vermisst sogar die Entbehrungen des Kriegsgefangenenlagers (und ist
dabei nicht
der Einzige: Anderswo am Drehort gräbt ein Trupp von
ehemaligen Internierten
einen Flucht-Tunnel oder will mit gefälschten Papieren
heimlich "flüchten").
Aber vor allem vermisst er Joyce, seine Geliebte, die er bei einem
Angriff auf
London im Luftschutzkeller kennen- und lieben lernte und
später wieder verlor.
"Day" offenbart eine bemerkenswerte schriftstellerische
Leistung
von enormer Kraft
Endlos ist die Reihe der Bücher, die
vom Kriegsleben zeugen,
von
Bomber-Kommandos und den Entbehrungen während der
Internierung, aber Kennedy
hat eine neuartige Sicht entwickelt. Ihr Erzählton ist ein
überzeugend
gespenstischer Akt der Bauchredekunst, bei dem der innere Monolog eines
schwer
gestörten, sich nicht artikulieren könnenden jungen
Mannes in Sprache
umgewandelt wird. Sie lässt den Leser an den stumpfen,
schmerzhaften, manchmal
schönen und häufig komischen Gedanken Alfreds
partizipieren. Auf diese Weise
öffnet Kennedy dem Leser den Blick in die menschliche Seele:
schön,
schmerzlich und sonderbar.
Doch leicht zu "konsumieren" ist das Buch nicht. Der Roman offenbart
ein kühnes, experimentelles Schreiben; Liedlyrik
fließt durch die Geschichte,
die häufig einen ironischen Kontrapunkt zu den brutalen
Hauptereignissen
bildet. Dann wieder kombiniert die Autorin kursive und nicht
interpunktierte Sätze.
Mit diesen stilistischen Mitteln schafft Kennedy eine Art Textwahnsinn,
der den
Persönlichkeitszerfall ihres Hauptprotagonisten treffend
dokumentiert. Das
unpersönliche "Du" schafft eine
innere Intimität Alfreds
mit sich selbst und überträgt dessen emotionalen
Rückzug linear auf den
Leser. Die Ich-Form wiederum wird in sehr abschreckenden Momenten
verwendet.
Diese stilistischen Finessen wurden eindrucksvoll von Ingo Herzke ins
Deutsche
übertragen.
"Day" ist ein dichter, komplexer und komplizierter Roman
A. L. Kennedy ist eine unerschrockene Schriftstellerin, die die
Köpfe ihrer
Charaktere zu bewohnen scheint, ihre verworrenen Gedanken
enträtselt und
strukturiert. Dies hat sie bereits in ihrem vorigen Roman "Paradies",
einer poetischen, ungeschönten Studie einer alkoholkranken
Frau, hervorragend
unter Beweis gestellt. Auch "Paradies" begann mit einem Durcheinander
von misstönenden Stimmen, die der Erzählerin im Kopf
herumspukten.
Dem überreizten inneren Dialog stellt sie in "Day" die
abscheulichen
äußeren Ereignisse entgegen. In Momenten der
Gleichgültigkeit des täglichen
Entsetzens wiederum entfaltet sie einen fast zärtlichen Blick
auf die Natur
oder auf eine tiefe
Freundschaft, jedoch ohne jedwedes Pathos.
Ebenso großartig sind ihre äußerst
subtilen Sinnbilder, die bei aufmerksamem
Lesen überall versteckt sind. So können die
traumatisierten Personen des
Romans und deren zerstörte Leben durchaus mit den genauso
verwüsteten Städten
des Nachkriegseuropas gleichgesetzt werden.
Eine weitere beeindruckende Metapher konstruiert A. L. Kennedy mit
Alfred Days
großer Liebe Joyce. Sie bzw. Homers "Odyssee", jenes Buch,
das sie
bei ihrem ersten Zusammentreffen las, stellt den Schlüssel zu
seiner eigenen
Rehabilitation dar: So wie bei den klassischen Irrfahrten wird sich
auch in dieser subtilen,
bewegenden Interpretation des Krieges der Kreis für Alfred
schließen.
Fazit:
Obwohl es viele Momente voller Abscheu und Wut aufgrund der
Monstrosität des
Krieges gibt, ist "Day" ein Roman voller Empathie, Würde und
Anstand
- ein Meisterwerk!
(Heike Geilen; 11/2007)
Alison
Louise Kennedy: "Day"
Übersetzt von Ingo Herzke.
Verlag Klaus Wagenbach, 2007. 352 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Hörbuch:
Lesung. Sprecher: Matthias Brandt.
Der Audio Verlag, 2007. 5 CDs; Laufzeit 345 Minuten.
Hörbuch-CDs
bei amazon.de bestellen
Alison
Louise Kennedy wurde am
22. Oktober 1965 im schottischen Dundee geboren. Die Autorin,
Dramatikerin und
Filmemacherin lebt in Glasgow.
Lien A. L. Kennedys Netzseite:
https://www.a-l-kennedy.co.uk/.