Walter
Kempowski: "Alles umsonst"
Ein
Roman über das Ende Ostpreußens
Es ist mutig, die Ereignisse in
Ostpreußen
zur Zeit des Einmarschs der Russen in einem Roman zu verarbeiten, die
sonderbare Ruhe vor dem Sturm, Flüchtlingstrecks durch Eis und
Schnee, die Flucht übers Haff unter Tieffliegerbeschuss und
Tragödien ähnlich jener der Wilhelm Gustloff zur
Kulisse einer Geschichte um eine seltsame Familie zu machen, die
bereits im Zweiten Weltkrieg auf die meisten Zeitgenossen
anachronistisch wirken musste. Walter Kempowski freilich besitzt die
Sachkenntnis und das erzählerische Rüstzeug, um diese
Herausforderung zu meistern.
Anfang 1945 greift die Angst in Ostpreußen um sich: Die
Russen können offensichtlich nicht mehr aufgehalten werden.
Aus dem Osten gelangen erste Flüchtlinge in die
verträumte Stadt Mitkau: sie bringen schlechte Nachrichten,
wenn auch ideologiekonform verbrämt.
Am Ortsrand und in mancher Hinsicht außerhalb der
ländlichen Welt liegt der etwas heruntergekommene Georgenhof,
Eigentum der Familie von Globig; der Gutsherr kommt seinen
militärischen Pflichten in Italien nach, die Herrin,
Katharina, lebt fremd und zurückgezogen in ihren meist
verschlossenen Zimmern, mit sich selbst beschäftigt,
während ihr zwölfjähriger Sohn Peter sich
erfolgreich vor den Aktivitäten der Hitlerjugend
drückt. Die Arbeit erledigen Zwangsarbeiter, beaufsichtigt vom
Tantchen, einer armen Verwandten, die als Einzige
Realitätssinn zu besitzen scheint. Kein Wunder, dass die
Mitkauer, insbesondere die kleinen und umso eifrigeren Lichter der
NSDAP, die Leute vom Georgenhof misstrauisch und neidisch
beäugen.
Immer häufiger tauchen nun eigenartige Gestalten auf dem
Georgenhof auf, Entwurzelte ohne rechtes Ziel, die sich
verköstigen lassen und ein bisschen Unterhaltung bieten. Nach
ihrem Weggang sind zumeist einige Wertgegenstände
unauffindbar. Und dann kommen die ersten Flüchtlinge mit
Planwagen und nisten sich auf dem Gutshof ein.
Katharina nimmt in ihrer Traumwelt die Zeichen der Zeit nicht wahr.
Längst hätte sie gen Westen aufbrechen
können und müssen, sie hat dort schließlich
Verwandte, aber es gibt so viele Ausreden. Selbst als ihr Mann sie
telefonisch zur Flucht drängt, schiebt sie das Unausweichliche
auf. Stattdessen lässt sie sich vom Pfarrer
überreden, einen Juden für eine Nacht zu beherbergen.
Als man ihn erwischt, kommt Katharina ins Gefängnis, doch
Mitkau befindet sich längst in Auflösung. Und die
scheinbaren Freunde aus besseren Tagen lassen sich nicht blicken.
Jetzt greift das Tantchen durch. Zusammen mit dem polnischen
Zwangsarbeiter und einer der Ukrainerinnen schließen sie und
Peter sich dem Treck gen Westen an. In der Folge begegnen ihnen
Grausamkeit und Tod. Der Pole stiehlt ihnen einen der Wagen mit den
meisten Wertsachen. Auf dem Haff schlägt das Schicksal
unerbittlich zu. Und am Ende finden wir Peter auf einem
Flüchtlingsschiff - wird es ein Opfer sowjetischer Torpedos
werden, oder erreicht es sein Ziel?
Walter Kempowski hat die in sich abgeschlossene Lebenswelt des
verarmten ostpreußischen Landadels, verkörpert von
Katharina von Globig, sehr intensiv und anschaulich eingefangen. Er
schildert jene schwer nachvollziehbare Ruhe vor dem Sturm, das heute
unverständliche Vertrauen in die
Wehrmacht
trotz deren
anhaltenden Rückzugs, die Weltfremdheit auf dem Gutshof und
die kleinlich-spießige Lebensart der Bürger im
kleinen Ort. Für Katharina ist es vor allem ein Abenteuer,
eine überraschende Abwechslung, den jüdischen
Flüchtigen zu beherbergen und Oberwart Drygalski ein
Schnippchen schlagen zu können. Ihre Verantwortung scheint sie
kaum zu begreifen.
Katharinas Charakter wird hervorragend herausgearbeitet. Die anderen
Figuren verblassen, vielleicht aufgrund der ständig
wechselnden Erzählperspektive, etwas neben ihr, wirken weich
gezeichnet, vor allem Peter, der eigentlich die zentrale Figur ist.
Peter, gerade einmal zwölf Jahre alt und behütet
aufgewachsen, erlebt auf der Flucht Schrecken über Schrecken,
Tod und Willkürherrschaft hautnah mit und verliert
nacheinander alle Menschen, die zu seinem Umfeld gehörten.
Dennoch macht das Kind keine Entwicklung durch, sein Inneres bleibt dem
Leser seltsam fremd; gleichgültig scheint es von Anfang an
alles hinzunehmen, meistens unfähig oder nicht willens,
zurückzublicken, unfähig auch zu Mitleid - und
Selbstmitleid!, beseelt von einer eigenartigen, schwer begreifbaren
Zielstrebigkeit, die seiner Laissez-faire-Erziehung widerspricht.
Selbst wenn man voraussetzt, dass der Junge Katharinas in sich selbst
gefangenen Charakter geerbt hat: diese Gleichgültigkeit
lässt die Kinderfigur äußerst
unnatürlich erscheinen, und dadurch verliert auch die Kulisse,
1945 bittere Wahrheit, an Tiefe und Authentizität. Das ist
wirklich schade, denn die Toten und Vertriebenen hätten meiner
Ansicht nach ein weniger vages, verschwommenes Requiem, eine
alptraumhaft entrückte Existenz ganz am Rande einer
Familiengeschichte verdient. Dafür waren und sind sie
für die Überlebenden zu präsent: erfroren,
erschossen, vom Bomben und MGs zerfetzt, verhungert, Opfer von
Unfällen während des Trecks.
Das rätselhaft offene und dennoch versöhnliche Ende
ist allerdings eine erzählerische Meisterleistung.
Fazit: "Alles umsonst" ist ein Roman mit viel Licht und einigem
Schatten. Die Vergeblichkeit aller Vorsorge, aller kleinen Tricks und
Bemühungen angesichts der verlorenen Menschlichkeit in
Extremsituationen scheint immer wieder dramatisch auf - und
träte noch deutlicher hervor, wenn die Charaktere mehr
Herzblut besäßen.
(Regina Károlyi; 09/2006)
Walter
Kempowski: "Alles umsonst"
Knaus, 2006. 384 Seiten.
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Hörbuch:
Random House Audio, 2006. 10 CDs, Laufzeit ca. 700 Minuten.
Gesprochen von Walter Kempowski.
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Walter
Kempowski, 1929 in Rostock geboren, wurde 1948 von einem sowjetischen
Militärtribunal wegen angeblicher Wirtschaftsspionage zu 25
Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er acht Jahre in Bautzen
verbüßte. Nach seiner Entlassung zog er in den
Westen und arbeitete jahrelang als Dorfschullehrer, bevor er sich ganz
dem Schreiben widmete. Mit seiner mehrbändigen Deutschen
Chronik, zu der Romane wie "Tadellöser & Wolff"
(1971), "Aus großer Zeit" (1978) und "Herzlich Willkommen"
(1984) gehören, wurde Kempowski zum Erfolgsautor und
Chronisten des deutschen Bürgertums. Seine monumentale
mehrbändige Echolot-Collage (1993, 1999, 2002) etablierte ihn
als einen der bedeutendsten zeitgenössischen deutschen
Schriftsteller. Seit über 25 Jahren erscheint das Werk von
Walter Kempowski im Knaus Verlag, zuletzt "Hamit. Tagebuch 1990":
Walter Kempowski starb am 5. Oktober 2007 im Alter von 78 Jahren.
"Hamit. Tagebuch 1990"
Es ist leichter fortzugehen als zurückzukehren.
"Hamit" nennt Walter Kempowski den dritten Band seiner
persönlichen Tagebücher. Nach "Sirius" und "Alkor",
den Sternenbildern, ist das Jahr 1990 der Zeitpunkt, an dem er sich
aufmacht zu jenem fernsten Stern seines Lebens, in die Heimat.
Hamit - Heimat: dieses altmodische Wort beherrscht das Leben
Walter
Kempowskis im Jahr eins nach dem
Mauerfall.
1990 kehrt er in seine
Geburtsstadt Rostock zurück - es ist eine langsame, manchmal
quälende, manchmal tief bewegende Annäherung in
vielen Schritten. Zuerst zusammen mit dem Bruder, der einen Panzer aus
Kälte braucht, um den Anblick des elterlichen Hauses zu
ertragen. Es ist der Ort, wo sie vom Tod des Vaters erfuhren, es ist
der Ort, wo Walter nach dem Krieg verhaftet wurde und für acht
Jahre nach Bautzen verschwand. Mit der persönlichen
Annäherung verfolgt Kempowski gleichzeitig die
Annäherung der beiden deutschen Staaten - hin und her gerissen
zwischen Angst und Aufbruchstimmung. 1990 ist aber auch das Jahr der
Fertigstellung seines ersten Tagebuches "Sirius", ist intensive
Auseinandersetzung mit dem kollektiven Tagebuch "Das Echolot",
begleitet von entmutigenden Zweifeln, ob dieses große
Gedächtnis der kleinen Leute bewältigt werden kann.
Auch in "Hamit" gelingt Kempowski diese eindrückliche Mischung
aus Alltag und Politik, aus Schreiben und Erinnern, aus
Träumen und genauer Beobachtung. In der Konfrontation mit
Rostock arbeitet er Herkunft und traumatische Erfahrungen ab. Er
betrachtet das, was Heimat sein könnte, von allen Seiten. Am
Ende bleibt ihm von der Heimat nicht mehr und nicht weniger als Heimweh.
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