Yaşar Kemal: "Der Sturm der Gazellen"
Bei
"Der Sturm der Gazellen" handelt es sich um die Fortsetzung von Kemals Roman
"Die Ameiseninsel", in dem es um den jungen ehemaligen Offizier Musa geht,
genannt "der Nordwind", der Mitte der zwanziger Jahre als einer der vielen durch
den Weltkrieg heimatlos gewordenen türkischen Staatsbürger zufällig auf eine
verlassene Insel gelangt und dort bleibt, hingerissen von ihrer Schönheit. Die
früheren Bewohner waren überwiegend wohlhabende ethnische Griechen, die im
Rahmen der vertraglich geregelten "ethnischen Säuberungen" nach Griechenland
umsiedeln mussten.
Der zweite Band schildert die weitere Besiedlung der Insel
durch Flüchtlinge, Heimatlose und Vertriebene unterschiedlichster Völker,
darunter auch ethnische Türken, die aus Griechenland vertrieben worden waren,
und Familien, deren Dörfer im Krieg verwüstet wurden. Viele sind dem Hungertod
nahe und von traumatischen Erlebnissen gezeichnet. Die unterschiedlichsten
Charaktere treffen auf der von Nordwind verwalteten Insel zusammen. Manche, vor
allem Flüchtlinge aus den Bergen, ertragen die Enge des kleinen Eilands nicht
und verlassen es bald wieder. Die anderen raufen sich zusammen, geeint von ihrem
Schicksal als Entwurzelte und Opfer eines Krieges, dessen Sinn sie nicht
verstehen. Wie eine riesige Herde wirr und verstört umher springender Gazellen
sind sie durch Zufall zwischen die Fronten geraten, geradewegs ins
Geschützfeuer. Sie tragen ihre Erinnerungen und die ihrer Vorfahren mit sich,
und viele von ihnen erzählen sie: zumeist düstere, bestürzende Geschichten von
Krieg und Zerstörung, von der Gleichgültigkeit und Abstumpfung der
Behördenmitarbeiter, vom Verlust geliebter Menschen, zarte Romanzen, die sich
beinahe erfüllt hätten; aber es gibt auch leuchtend farbige Erzählungen und
traditionelles Liedgut, die Hoffnung wecken auf bessere Zeiten. Die Menschen
halten zusammen, unabhängig von ihrem ethnischen, geografischen und religiösen
Hintergrund. Ihre Gemeinschaft wird jedoch auf die Probe gestellt, als ein
Emporkömmling und Günstling der neuen Machthaber Teile der Insel aufkauft,
seinen neuen Besitz skrupellos ausschlachtet und Nordwind bedroht.
Yaşar
Kemal, dessen bewegte Biografie ausreichend Stoff böte für einen eigenen Roman,
erzählt in einer orientalisch anmutenden Sprache voll wunderbarer,
bedeutungsschwerer Bilder von der Verzweiflung und dem Überlebenskampf einfacher
Menschen, die zwischen die Mahlsteine der Kriegsparteien und der Mächtigen im
eigenen Land geraten sind. Der Leser lässt sich mit allen seinen Sinnen in die
Geschichte entführen, die doch eigentlich ein Konglomerat von einzelnen
Geschichten ist, welche langsam ineinander wachsen. Schmerzhaft und von
Entbehrungen geprägt präsentiert sich der Weg des
Osmanischen Reichs in die
Republik. Es sind die kleinen Leute, die im Gegensatz zur neuen Regierung
schnell begriffen haben, dass dieser Weg nur durch ein respektvolles Miteinander
der unterschiedlichen Völker und Kulturen des Landes begehbar wird, das Kemal
besonders am Herzen liegt. Das gegenseitige Geben und Nehmen, in der
Vergangenheit gerade unter Griechen und Türken ethnisch gemischter Gebiete ganz
unverkrampft praktiziert, wird auf der Ameiseninsel zur Lebensnotwendigkeit. Und
so treibt die Geschichte aus Geschichten langsam, intensiv, aufklärend und
rätselhaft zugleich voran, auf einen nächsten Band zu, den Kemal, der Trilogien
zu lieben scheint, dem Leser hoffentlich nicht zu lange
vorenthält.
(Regina Károlyi; 04/2006)
Yaşar
Kemal: "Der Sturm der Gazellen"
(Originaltitel "Karıncanın Su
Içtigi")
Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff.
Unionsverlag, 2006. 397 Seiten.
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Yaşar
Kemal wurde der "Sänger und Chronist seines Landes" genannt. Er wurde 1923 in
einem Dorf Südanatoliens geboren. Schon früh begann er unter dem Einfluss
traditioneller Volkssänger Lieder zu improvisieren. Um sie niederschreiben zu
können, lernte er als einziges Kind seines Dorfes Lesen und Schreiben.
International berühmt wurde er 1955 mit seinem ersten Roman "Memed mein Falke",
dem zahlreiche weitere Bücher folgten. Kemals Werke erscheinen in zahlreichen
Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er
den "Friedenspreis des Deutschen Buchhandels".
Yaşar Kemal starb am 28. Februar 2015 im Alter von 91
Jahren.
Weitere Bücher des
Autors (Auswahl):
"Memed mein Falke"
In den abgelegenen Dörfern am
Rande des anatolischen Taurusgebirges herrscht der Grundbesitzer Abdi Aga. Der
Boden ist so elend, dass fast nur Disteln auf ihm wachsen. Und von jeder Ernte
fordert der Aga zwei Drittel. Memed, der Bauernsohn, hat seinen Hass auf sich
gezogen. Er wird zur Flucht in die Berge gezwungen. Aus dem schmächtigen,
ängstlichen Knaben wird ein Räuber, Rebell und Rächer des Volkes. Auf ihn hoffen
die Bauern, vor ihm verbarrikadieren sich die Grundherren in ihren Häusern. Im
Kampf gegen den Aga hat Memed schließlich alles verloren: seine Mutter, seine
Braut, den fruchtbaren Acker, den die Bauern ihm nach der Amnestie bereithalten.
Aber von dem Tag an, an dem die Rache an Abdi Aga vollzogen ist, brennen die
Bauern jedes Jahr die Disteln nieder, säen das Korn in die Asche und führen die
Ernten in die eigenen Scheunen. Und bei dem Freudenfest vor dem Pflügen
erscheint auf dem Berg, hinter dem Memed verschwunden ist, eine Feuerkugel.
(Unionsverlag)
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"Der Granatapfelbaum"
Der
amerikanische Marschall, so nennen ihn die Landarbeiter, hat nach dem Zweiten
Weltkrieg gemäß seinem Plan die Türkei mit Tausenden von funkelnden,
riesenhaften Traktoren überschwemmt. Seither ist in der Çukurova-Ebene nichts
mehr so wie früher. Die Großgrundbesitzer sind vernarrt in ihre neuen Maschinen
und glücklich, dass sie sich mit den Tagelöhnern aus den Bergdörfern nicht mehr
herumschlagen müssen. So irrt ein Grüppchen von Dörflern durch Staub, Hitze und
höllische Moskitoschwärme. Schließlich findet es sein Glück ganz unerwartet: Auf
dem Feld des menschenfreundlichen Melonengärtners. (Unionsverlag)
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"Töte die Schlange"
Ein Mann
wird vom Geliebten seiner jungen Frau erschossen. Er büßt mit dem Leben, aber
die Mutter des Getöteten gibt sich damit nicht zufrieden. Für sie ist die
Schwiegertochter die eigentlich Schuldige, nach dem Gesetz der
Blutrache soll
sie sterben. Doch keiner bringt es übers Herz, der schönen, freundlichen Esme
ein Leid anzutun. Sogar den gedungenen Mördern beginnt bei ihrem Anblick das
Gewehr in der Hand zu zittern. Da verfällt die Großmutter auf einen
schrecklichen Plan: Ihr Enkel soll das Todesurteil an seiner geliebten Mutter
vollstrecken. (Unionsverlag)
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"Die Ameiseninsel"
Als Musa
mit seinem Ruderboot an der Küste der ägäischen Insel anlegt, stößt er auf ein
menschenleeres, verlassenes Paradies. Sofort erliegt er dem Zauber dieser
verwunschenen Welt und lässt sich auf der Insel nieder. Aber unter der
friedlichen Oberfläche liegen Tragödien. Die Bewohner, alles Griechen, wurden
nach dem Ersten Weltkrieg in einer gigantischen Umsiedlungsaktion von einem Tag
auf den anderen vertrieben. Und in Musa erwacht die Erinnerung an die
Grausamkeiten, die jahrzehntelang Anatolien, die Völker des Kaukasus und des
Mittleren Ostens heimsuchten. (Unionsverlag)
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"Salman"
Ismail Aga liebt das
Waisenkind Salman wie einen eigenen Sohn und Erben, bis ihm seine Frau einen
Knaben gebärt: Mustafa. Nun schleicht sich die Schlange der
Eifersucht ins Haus.
Die Angst ergreift zuerst die Kinder, dann das ganze Dorf, und zuletzt ist sich
niemand seines Lebens mehr sicher. (Unionsverlag)
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