Daniel Kehlmann: "Die Vermessung der Welt"


Forschung im Spannungsfeld von Abenteuer und Normalverteilung

Der Roman "Die Vermessung der Welt" handelt von den Lebensgeschichten zweier bemerkenswerter deutscher Persönlichkeiten, die auf völlig unterschiedlichen Wegen wissenschaftlich tätig waren und der Menschheit großartige Werke hinterlassen haben. Der Eine ist der Mathematiker, Geodät und Astronom Carl Friedrich Gauß und der Andere der Abenteurer, Naturforscher und Universalgelehrte Alexander von Humboldt. Beide wurden im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, geboren und waren in ihrem rationalen Denken Kinder dieser Zeit. Sie erlebten den Aufstieg und den Fall Napoleons und die politischen Wirren der Zeit danach.

Wie hat Daniel Kehlmann ihre Lebenswege skizziert? Sind die Darstellungen authentisch? Um die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen ausloten zu können, sind Kurzbiografien der historischen Persönlichkeiten Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt hilfreich.

Alexander von Humboldt (1769-1859)
"Überall geht ein frühes Ahnen dem späteren Wissen voraus."
Alexander von Humboldt, deutscher Forscher und Entdecker, ist durch seine Expeditionen in die entlegensten Winkel der Erde weltberühmt geworden. Er war Experte in zahlreichen technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen und hat seine Erkenntnisse in seinem Hauptwerk "Kosmos" zusammengefasst. Er gilt als Universalgelehrter und als Weltbürger und verkörpert wie kein Anderer das Bild des leidenschaftlichen Forschers.

In Berlin geboren und in gehobenen Verhältnissen aufgewachsen, genoss er eine vielseitige wissenschaftliche Ausbildung. Er studierte in Frankfurt (Oder), Göttingen, Hamburg, Jena und Freiberg mit dem Ziel, Forschungsreisender zu werden. Bis zu seiner ersten Expedition war er bei der deutsch-preußischen Bergwerks- und Hüttengesellschaft beschäftigt. Ausgerüstet mit modernsten Messinstrumenten unternahm er Forschungsreisen nach Südamerika und Zentralasien. Er fand die Verbindung zwischen Orinoko und Amazonas, bestieg Vulkanberge, erstellte und berichtigte zahlreiche Landkarten und klassifizierte Tausende bislang unbekannte Pflanzen. Über dreißig Jahre lang hielt er mit der Besteigung des Chimborazo (6267 m) den Weltrekord im Bergsteigen. Seine wissenschaftliche Korrespondenz umfasste 35000 Briefe.

Alexander von Humboldt lebte viele Jahre in der Kultur- und Wissenschaftsmetropole Paris, wo er die Ergebnisse seiner Forschungen auswertete und publizierte. Hierfür investierte er sein gesamtes Vermögen. Er war eine der schillerndsten Persönlichkeiten seiner Zeit und in wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kreisen wohl bekannt. 1827 holte König Friedrich Wilhelm III ihn nach Berlin zurück. Hier lebte er bis zu seinem Tod. Sein Vermächtnis besteht darin, Forschung zeitlebens mit großem Enthusiasmus als Selbstzweck betrieben zu haben.

Carl Friedrich Gauß (1777-1855)
"Summe der gewogenen Fehlerquadrate [pvv] → Minimum"
Carl Friedrich Gauß wurde in Braunschweig geboren und war Sohn einfacher Leute. Seine überragenden mathematischen Fähigkeiten wurden früh entdeckt. Ein Mitarbeiter seines damaligen Lehrers nahm sich seiner an, und sie studierten privat Werke der höheren Mathematik. Sein Talent erstreckte sich nicht nur auf die Mathematik, sondern er beherrschte auch mehrere Sprachen und beschäftigte sich mit Philosophie.

Gauß wurde durch Herzog Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig gefördert und studierte an den Universitäten Braunschweig, Göttingen und Helmstedt. Mit 19 Jahren konstruierte er ein regelmäßiges 17-Eck mit Zirkel und Lineal. Seit dem Altertum hatten sich Generationen von Mathematikern an diesem Problem die Zähne ausgebissen. 1801, Gauß war 24 Jahre alt, erschien sein Werk "Disquisitiones Arithmeticae", eine grundlegende Strukturierung der Arithmetik mit zahlreichen bis dato unbekannten Beweisführungen. Im selben Jahr berechnete er unter Anwendung seiner Methode der kleinsten Quadrate die Bahn des Planetoiden Ceres. Der Planetoid wurde an der vorausberechneten Position gefunden und Gauß weltberühmt.

Seinen Fähigkeiten entsprechend, wurde er 1807 Professor für Astronomie in Göttingen und Direktor der dortigen Sternwarte. Trotz oder vielleicht wegen seiner Genialität hatte Gauß eine Abneigung gegen das Lehren. Seine Studenten waren ihm nicht gewachsen und seine Vorlesungen schlecht besucht. Es gab für ihn nur wenige adäquate Gesprächspartner. Gauß war zweimal verheiratet und hatte aus beiden Ehen Kinder.

Die Bezeichnung "Fürst der Mathematik" trägt Gauß aufgrund seines Lebenswerkes zurecht. So war er u.a. auf dem Gebiet der Landesvermessung tätig (Gaußsche Landesaufnahme für das Königreich Hannover) und prägte diese Wissenschaft wie kein Anderer vor oder nach ihm. Wer heute Vermessungswesen studiert, beschäftigt sich mit zahlreichen Werken von Gauß, wie der Methode der kleinsten Quadrate zur Ausgleichung redundanter Messungsergebnisse, dem Gaußschen Algorithmus zur Lösung linearer Gleichungssysteme, dem Gauß-Krüger-Meridianstreifensystem zur Orientierung von Karten und der Gaußschen Normalverteilung zwecks statistischer Analysen, um nur Beispiele zu nennen. Er entwickelte für die Auswertung seiner Vermessungsergebnisse Methoden, die allgemeingültig sind und die Zeit überdauert haben - ein Glücksfall für das Vermessungswesen.

Verbindungen zwischen Gauß und von Humboldt
Da Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt in derselben Zeit gelebt und gewirkt haben, wäre es schon erstaunlich, wenn sie sich nicht gekannt hätten. Eine gemeinsame Aktion zusammen mit dem Physiker Wilhelm Weber bestand in der Gründung der ersten internationalen Gesellschaft, dem sogenannten "Magnetischen Verein". Hier flossen weltweit Informationen über das Erdmagnetfeld zusammen.

Die Protagonisten aus dem Blickwinkel des Autors
Daniel Kehlmann beschreibt besondere Stationen im Leben von Gauß und von Humboldt. Reale Ereignisse sowie bedeutende Werke dieser beiden außergewöhnlichen Wissenschaftler fließen ein. Die schriftstellerische Freiheit beginnt bei ihrer Charakterisierung und ihrem persönlichen Umgang mit Erfolg. Autor Kehlmann überzeichnet ihre Charaktere auf humorvolle, manchmal groteske Weise und lässt die Protagonisten mit ihren verschiedenen Weltbildern und ihrer unterschiedlichen Art der Forschung aneinander geraten. Seine Figuren wirken exzentrisch. Kehlmann suggeriert der Leserschaft, dass extreme Leistungen nur vollbringen kann, wer auch einen extremen Charakter besitzt.

Gauß wirkt arrogant, miesepetrig, hypochondrisch, aber auch hochintelligent und visionär. Er klagt über Rückenschmerzen, Koliken, und seine Zahnbehandlungen werden ausführlich beschrieben. Reisen sind für ihn eine Qual, so auch die im Roman beschriebene Reise von Göttingen nach Berlin. Er hat zahlreiche Frauengeschichten, war zweimal - zuletzt unglücklich mit Minna - verheiratet. Sowohl seine eigenen Kinder (Sohn Eugen assistiert ihm bei den Vermessungsarbeiten), als auch seine Studenten sind in seinen Augen dumm. Über Literatur und Poesie macht er sich lustig.

Von Humboldt ist der nimmermüde Forschertyp, geradezu besessen von seiner Arbeit. Auf seinen Reisen schläft er kaum, muss jeden Hügel besteigen und in jede Höhle kriechen, ist ständig mit verschiedenen Messungen beschäftigt und provoziert Schmerzen in Selbstversuchen um der Erkenntnis willen. Er ist nicht nur hart gegen sich selbst, sondern weiß auch seine Vorstellungen durchzusetzen. Sein Reisebegleiter Bonpland hat es nicht leicht mit ihm.

Der Autor versteht es, imposante Leistungen der Protagonisten geschickt in den Handlungsablauf einzuflechten. Wenngleich die beschriebenen Werke keine Fantasieprodukte sind, werden manche Ideen instrumentalisiert, in dem ihnen eine Bedeutung beigemessen wird, die sie aus historischer Sicht nicht haben konnten. So hat Gauß zweifelsohne die nichteuklidische Geometrie entdeckt, konnte hierin aber kaum mehr als ein alternatives mathematisches Modell sehen. Ein physikalisches Modell eines gekrümmten Raumes, in dem diese Geometrie zur Anwendung kommt, taucht erst viele Jahre später in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie auf.

Die Kontroversen zwischen Gauß und von Humboldt sind, ebenso wie die sonstigen Gespräche im Roman, nicht sonderlich tiefgehend. Wer Diskussionen erwartet, die auch nur im Ansatz denen zwischen Settembrini und Naphta (Protagonisten aus Thomas Manns "Der Zauberberg") gleichen, wird enttäuscht. Auch Fachgespräche über Methoden der Vermessung, Kartenprojektionen und geodätische Auswerteverfahren stehen nicht im Mittelpunkt. Wie kompensiert der Autor diese (scheinbaren) Mängel? Was ist seine Intention? Es geht ihm offensichtlich nicht so sehr um den Inhalt der Dialoge, sondern um deren Stil und um die Menschen, die sie führen. Die Auseinandersetzungen sind humorvoll und haben einen hohen Unterhaltungswert. Kehlmanns Stärke sind pointierte Dialoge, in denen sich nicht nur Witz und Intelligenz offenbaren, sondern insbesondere die (immanenten) Schattenseiten der Genialität deutlich werden. So sind beide Protagonisten Opfer ihrer extremen Charaktere. Gauß vergrault die Menschen in seinem Umfeld und leidet mit zunehmendem Alter unter dem Nachlassen seiner geistigen Fähigkeiten und von Humboldt kommen Zweifel am Sinn seiner Reisen. Auf seiner letzten, von russischen Begleitern kontrollierten Expedition, werden alle seine Prinzipien auf den Kopf gestellt.

Das Buch kann ich sehr empfehlen, auch wenn ich darin nicht, wie im Klappentext beschrieben, einen philosophischen Abenteuerroman sehe. Nach meiner Einschätzung ist es eher ein psychologischer Abenteuerroman über das Leben und die Grenzen außergewöhnlicher Menschen - eine Gratwanderung zwischen Ruhm und Lächerlichkeit. Vielleicht führt dieser Roman dazu, dass Menschen neugierig werden und sich mit den Lebenswerken dieser beiden großartigen Forscher beschäftigen.

(Klemens Taplan; 09/2005)


Daniel Kehlmann: "Die Vermessung der Welt"
Rowohlt.

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"Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten"

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