Günther Binding: "Als die Kathedralen in den Himmel wuchsen"

Bauen im Mittelalter


Mittelalterliches Bauwesen: detaillierter Überblick anhand zahlreicher konkreter Beispiele

Wenn man in einer gotischen Kathedrale die scheinbar schwerelos nach oben wachsenden eleganten Pfeiler und das filigran wirkende Maßwerk der Fenster bewundert, stellt sich unwillkürlich die Frage, wie die mittelalterlichen Architekten oder vielmehr Werkmeister den Bau solcher auch heute noch beeindruckender Monumente bewerkstelligt haben. Schließlich standen ihnen nur wenige einfache Hilfsmittel und Werkzeuge zur Verfügung.
Günther Bindung beschreibt und erklärt alle relevanten Details des mittelalterlichen Bauwesens am Beispiel der Kathedralen, die als größte Herausforderung für die Werkmeister galten.
Zunächst ist der wirtschaftlich-soziale Hintergrund von Bedeutung, denn ohne die Umwälzungen ab dem 13. Jahrhundert, die zu wirtschaftlichem Aufschwung und einem erheblichen Einflussgewinn für die Städte führten, hätte es keine Nachfrage nach repräsentativen Gotteshäusern gegeben, die selbstverständlich nicht nur zur Ehre Gottes erbaut wurden, sondern den Reichtum und die Macht der Auftraggeber widerspiegeln sollten. Ein wichtiges Thema sind daher der Bauherr und die Finanzierung, denn oft genug ging für eine Weile das Geld aus, und der Bau stockte.
Dem Werkmeister, der zugleich Steinmetz und Architekt war, ist ein langer Abschnitt gewidmet, in dem der Leser auch Ausschnitte aus dem Musterbuch des Villard de Honnecourt findet, anhand derer sich Bauplanung und -ausführung am Beispiel einiger bekannter Kathedralen hervorragend nachvollziehen lassen. Aber auch den verschiedenen Handwerksberufen am Bau mit Aspekten wie Ausbildung, Arbeitszeiten, Vergütung und Arbeitsalltag ist ein Kapitel gewidmet, ebenso der Beschaffung und dem Transport von Baumaterialien.
In einem Bildglossar findet man alle maßgeblichen Teile einer gotischen Kathedrale, die auch im Buchtext erwähnt werden. Selbstverständlich fehlen auch Literaturangaben und Ortsregister nicht.

Dass der Bau einer Kathedrale wie jener zu Reims und Chartres oder auch des Kölner Doms ein komplexes, teures und langwieriges Unterfangen war, versteht sich von selbst. Organisation und Abläufe hingegen erschließen sich nicht auf Anhieb; zu fern ist uns heute die Welt des Mittelalters. Dem Autor gelingt es, den Kathedralenbau unter den verschiedensten Gesichtspunkten und sehr gut verständlich zu erläutern. Auf den nicht oder wenig fachkundigen Leser wartet manche Überraschung, etwa, dass die Werkmeister weit ins Mittelalter hinein ohne Pläne arbeiteten und die Kathedralen ohne Berechnungen zur Statik konstruierten - hier galten allenfalls Erfahrungswerte. Die oft komplizierten Umrisse und Formen wurden mittels Dreiecken und Kreisen entworfen, und die einzige mathematische Formel am Bau war der berühmte Satz des Pythagoras: Ein rechtwinkliges Dreieck erhält man, wenn sich die Seitenlängen wie 3:4:5 verhalten.
Der Einsatz von Werkzeugen und Maschinen sowie die typischen Tätigkeiten im Rahmen verschiedener Handwerksberufe werden ergänzend zum Text auf zahlreichen Abbildungen, vielfach aus mittelalterlichen Büchern, sehr gut erläutert, wobei noch einmal auf die Auszüge aus dem höchst anschaulichen Musterbuch des Meisters Villard hingewiesen sei. Sehr interessant sind darüber hinaus die zahlreichen üppig, häufig durch Farbfotos illustrierten Exkurse, die sich, meist passend zum Thema des jeweiligen Kapitels, mit einzelnen berühmten Kathedralen befassen. So erfährt man bemerkenswerte, nicht selten verblüffende Hintergrundinformationen zu vermeintlich vertrauten Kirchen. Vielleicht ändert sich auch das Bild des Lesers von der mittelalterlichen Gesellschaft, denn viele Aspekte des Bauwesens muten überraschend modern an, unter anderem die handwerkliche Ausbildung und die Organisation der Werkmeister in zunftähnlichen Zusammenschlüssen - von der immer wieder problematischen Finanzierung einmal abgesehen.
Die Mischung aus unkompliziertem Text und anschaulichen Illustrationen macht das Buch auch für den interessierten Laien gut lesbar und trotz des durchaus anspruchsvollen Themas kurzweilig. Durch die Einbeziehung von Werkmeisterpersönlichkeiten und bekannten Sakralbauten bleibt es zudem bemerkenswert konkret.
Für Freunde mittelalterlicher, vor allem gotischer Baukunst und Menschen, die sich für den Alltag jener Zeit interessieren, ist dieses Buch daher sehr zu empfehlen.

(Regina Károlyi; 06/2006)


Günther Binding: "Als die Kathedralen in den Himmel wuchsen"
Primus Verlag, 2006. 136 Seiten.
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