Ioanna Karystiani: "Schattenhochzeit"
Dieses Buch erzählt von
einem fremden Land mitten in Europa, das, obwohl an der Küste
touristisch seit Jahrzehnten erschlossen, in seinem Innern eine
zutiefst archaische Gesellschaft am Leben erhält.
"Schattenhochzeit" beschreibt die Geschichte des angesehenen
Genforschers und Biophysikers Kyriakos Roussias. Er liebt seine Insel
Kreta und hält auch in seiner neuen Heimat USA außerhalb seiner
wissenschaftlichen Arbeit fast nur Kontakt zu Landsleuten. Er kann
seiner Heimat und deren Traditionen nicht entkommen, so sehr er diese
Tatsache auch verdrängen möchte.
Mit 15 Jahren von seinem Vater in die USA geschickt, lässt ihn
diese abrupte Entwurzelung nie wirklich los, sie gärt in ihm. Selbst
seine wissenschaftliche Arbeit, in die er sich Tag und Nacht flüchtet,
bietet ihm davor keinen Schutz.
Sie bringt ihm großen Ruhm - seine erfolgreichen Forschungen u.a.
zum
Aids-Virus künden bis in die hinterste Ecke seiner Heimatinsel. Doch in
all diesen Jahren - fast 30 sind es am Ende - hat er es nie geschafft, in seine
Heimat zurückzukehren. Seine Vorträge führen ihn in alle Erdteile, Kreta lässt
er bewusst aus. Er telefoniert ab und zu mit seiner Mutter, holt sie dann auch
etwa alle fünf Jahre für mehrere Monate zu sich in die USA, aber über der Vergangenheit
liegt ein dunkler, bleierner Schleier des Schweigens.
Als Kyriakos Roussias sich kurz vor der Jahrtausendwende
plötzlich ( für den Leser nicht wirklich nachvollziehbar) entschließt,
eine Vortragsreise nach Japan abzusagen und auf dem Flughafen nach
Kreta umbucht, wird dem Leser mit jeder weiteren Seite deutlich, warum
er vor seiner Vergangenheit geflüchtet ist und die Auseinandersetzung
mit ihr gescheut hat.
Die Geschichte seiner Familie ist die Geschichte einer
generationenlangen Kette von Morden aus Blutrache. Insgesamt sieben
Menschen sind in den vergangenen 50 Jahren in dieser Familie ums Leben
gekommen - und jedes Mal war der Täter ein Familieangehöriger!
Ioanna Karystiani gelingt es überzeugend, diese archaische Kultur zu beschreiben.
Sie erzählt von kargen Landschaften, von Hirten und ihrem armseligen Leben.
Die Menschen sprechen nur wenig miteinander, wichtig ist, was nicht gesagt wird.
Die Männer tragen schwarze Hemden, sind bis an die Zähne bewaffnet und leben
nach ganz eigenen Regeln und Gesetzen. Rachelüsternen und angestachelt, folgen
sie einer eigenen blutigen und tödlichen Logik von Ehre und Rache.
Wenn Ioanna Karystiani Menschen und
Landschaften
beschreibt, dann hat man das Gefühl, dort zu sein, die sprachlose, drückende
Hitze zu spüren.
Kyriakos Roussias sieht sich bald nach seiner Ankunft der unausgesprochenen
Erwartung - auch seiner eigenen Mutter! - ausgesetzt, den letzten Mord an seinem
Vater zu rächen. Der war von einem Cousin mit gleichem Namen vor über zwei Jahrzehnten
getötet worden, nachdem er kurz vorher selbst dessen Zwillingsbruder - einen
begnadeten Sänger - abgeschlachtet hatte. Das berühmteste Lied dieses Siris
heißt bezeichnenderweise "Der Jüngling und der Tod".
Fast 300 Seiten lang beschreibt die Autorin in wirklich
eindrucksvoller Weise, wie ihre Hauptfigur mit dem Druck umgeht, den
die Tradition ihm auferlegt hat. Ihr ist abzuspüren, wie sie zusammen
mit ihrer Hauptfigur darum kämpft, ob es nicht doch einen zivilisierten
Ausweg aus dem archaischen Dilemma gibt, einen Ausweg, der ihre eigenen
Wurzeln und ihre Kultur in ihren Festen erhält und sie dennoch modernen
Werten öffnet.
Der Leser wird hineingezogen in diese innere Auseinandersetzung und bleibt zurück
mit dem Gefühl, ein wundervolles Buch über ein wunderbares Land gelesen zu haben,
das dennoch niemand wirklich verstehen kann und das mit seiner Hinwendung zu
modernen Werten seine wahre - eben archaische - Identität verliert.
Michaela Prinzinger hat für ihre Übersetzung von
"Schattenhochzeit" aus dem Griechischen 2003 den Deutsch-Griechischen
Übersetzerpreis erhalten. Sie hat ihn verdient.
(Winfried Stanzick; 12/2005)
Ioanna Karystiani: "Schattenhochzeit"
(Originaltitel "Koustoumi sto choma")
Aus dem Griechischen übertragen von Michaela Prinzinger.
Suhrkamp.
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Ioanna Karystiani wurde im Jahr
1952 in Chania, Kreta geboren. Sie lebt in Athen und auf Andros.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Die Frauen von Andros"
Andros in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: Seit alters her ist
die Kykladeninsel Heimat bedeutender Reederfamilien. Die Männer beherrschen
als Seefahrer die Weltmeere, und die "ewige Liebe zum
Meer"
zieht sie immer wieder hinaus. An Land zurück bleiben die Frauen mit ihren Erinnerungen
und Sehnsüchten. Sie müssen die traditionelle Rolle der Männer übernehmen, tragen
die Verantwortung für Familie und Haus - und können nur davon träumen, selbst
einmal die Insel zu verlassen.
Ioanna Karystiani erzählt die Schicksale und Geschichten all dieser Frauen; sie
erzählt von deren Erinnerungen und Sehnsüchten, von zerbrochenen Ehen, unerfüllter
Liebe und den Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. "Ist es möglich, dem
Schicksal zu entrinnen?" - diese Frage stellen sich vor allem die jüngeren
Frauen und versuchen, aus den Lebensformen der Mütter und Großmütter
auszubrechen. Bis die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs auch diese Welt überschatten.
Im Mittelpunkt dieser Gemeinschaft stehen die Kapitänsfrau Mina und ihre Töchter
Orsa und Moska - und die unglückliche Liebe zwischen dem jungen Kapitän Spiros
und Orsa, die von der Mutter und eisernen Gesetzen der Familientradition dazu
verdammt ist, einen ungeliebten Mann zu heiraten, um dann Spiros als Ehemann
ihrer jüngeren Schwester zu sehen. (Suhrkamp)
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Noch ein
Buchtipp:
Michaela Prinzinger: "Kreta. Ein Reisebegleiter"
Kreta - Insel der Mythen und Traditionen: der Raub der Europa, der
Minotaurus;
das sagenumwobene Knossos und das kretische Labyrinth bergen bis heute
Geheimnisse. Die wilde Berglandschaft, die herrlichen Küsten
und die verwinkelten Altstädte spiegeln sich in vielen literarischen
Texten wider.
Dieses Buch stellt die Städte Chania, Rethymno und Iraklio vor
und führt auf
den Spuren von Christa
Wolf, Marie
Luise
Kaschnitz, Henry Miller,
El Greco,
Nikos Kazantzakis, Ioanna
Karystiani und Anderer über die größte griechische Insel. (Insel)
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