Dževad Karahasan: "Der nächtliche Rat"
Mystischer
Kreislauf der Gewalt
Der Bosnier Simon Mihailovic lebt seit rund 25 Jahren in Berlin und
arbeitet als Arzt. Als seine Ehe 1991 nach dem Auszug des Sohnes eine
erste Krise erfährt, beschließt er, eine Auszeit zu
nehmen und zum ersten Mal in seine Heimatstadt Foca
zurückzukehren.
Schon unmittelbar nach seiner Ankunft spürt Simon, dass
über der Stadt eine sonderbare Spannung liegt, die unmittelbar
mit ihm selbst zusammenzuhängen scheint. Sein nach dem Tod der
Eltern verwaistes Haus empfängt ihn mit
unerklärlichen Phänomenen. Vor allem aber weigern
sich viele gute Bekannte aus seiner Jugend, ihn zu erkennen, und die
Kontakte zu jenen, die ihm nicht ausweichen, gestalten sich schwierig,
weil das fehlende Vierteljahrhundert wie eine Wand zwischen dem
"Deutschen" Simon und den früheren Mitbürgern steht.
Während Simon darüber nachgrübelt, warum er
überhaupt in seine Vaterstadt gereist ist, werden in Foca
nacheinander vier Menschen bestialisch ermordet, die eine Verbindung zu
ihm hatten: seine erste Liebe, deren Verlobter, der beste Freund von
Simons Vater und schließlich auch sein eigener Freund. Die
Polizei ernennt Simon zum Hauptverdächtigen und spielt ein
äußerst dubioses Spiel mit ihm. Mit der Zeit
gerät er hoffnungslos zwischen die unverrückbaren
Fronten, die sich unter der glatten Oberfläche der kleinen
Stadt aufgebaut haben: Kommunisten, slawische Nationalisten, Muslime,
alle breiten ihre scheinbar unanfechtbaren Theorien aus und weben ein
undurchschaubares Netz aus Verschwörungen, in dem Simon sich
zu verheddern droht.
Und sein Haus, das, wie er von einem Nachbarn erfahren hat, Ort
etlicher ethnisch-politisch bedingter Gemetzel der bosnischen
Geschichte war, bedrängt ihn durch rätselhafte
Erscheinungen, als ob es ihm etwas mitteilen wollte. Simon geht es
erbärmlich, als eines Nachts sein alter Freund Enver
auftaucht, ein Sufi-Mönch, auch er seltsam verändert.
Nächtelang diskutieren sie über Envers von
asiatischen
Sufi-Meistern
geprägtes Weltbild, vor allem aber über den genau
genommen überflüssigen
Verrat
des
Judas, der Eingang sowohl in die christliche als auch die
muslimische Überlieferung fand. Was Enver ihm damit sagen
will, begreift Simon erst, nachdem er mit Envers Hilfe erkannt hat,
welch schreckliche Geheimnisse der Keller seines Hauses birgt, der den
Zugang zu einer eigenen Welt der Toten darstellt: Hier erleiden die an
diesem Ort grausam getöteten Opfer früherer
Gräuel erneut ihr Martyrium, wenn sich eine weitere Epoche
ethnischer Gewalt ankündigt, und nur eine reine Seele kann
ihnen vorübergehend Erleichterung verschaffen - jemand wie
Simon, der zu einer Generation gehört, die sich auf die Fahnen
schrieb, nichts erreichen zu wollen. Denn die unterschiedlichen
ehrgeizigen Bestrebungen der Väter hatten stets Katastrophen
eingeleitet. Simon erkennt, dass er sich der Verantwortung seiner
Geburt nicht entziehen kann.
Dževad Karahasan hat einen faszinierenden und sehr
bedrückenden Roman über die Zeit unmittelbar vor dem
bosnischen Bürgerkrieg verfasst, in der sich die Katastrophe
bereits unterschwellig ankündigte. Zunächst scheint
Simons Welt noch verhältnismäßig heil, denn
das Eheproblem wirkt nicht unüberwindlich, und dass manch ein
Bürger reserviert auf den "Deserteur", den "Westler",
reagiert, verwundert keineswegs. Dann geschieht der erste Mord, Simon
gerät ins Visier der Polizei und in ein Ränkespiel,
das er als Außenstehender nicht durchdringen kann; hilflos
verfolgt er das Schwadronieren derer, die aus ihrer Sicht die einzig
wahre Lösung für künstlich erzeugte und
aufgeschaukelte Probleme besitzen. Nun gleitet die Geschichte
allmählich, auch für den Arzt Simon Mihailovic schwer
fassbar, völlig ins Metaphysische ab, die Schatten, die sich
zunehmend um Simon zusammengezogen haben, verschmelzen zu
undurchdringlichem Dunkel, und Dutzende gemarterter Toter
bedrängen ihn mit ihrer Forderung nach Erlösung -
ihnen könnte er helfen, während es ihm
unmöglich ist, das dräuende Unheil abzuwenden, das
doch schon grell wie ein Menetekel aufleuchtet.
Bosnien-Herzegowina, die ehemalige jugoslawische Provinz,
dürfte den meisten Lesern dieser Rezension wenig vertraut
sein, ist es doch mittlerweile wieder ganz an den Rand der
westeuropäischen Aufmerksamkeit gerückt. Da der
Protagonist, selbst mehr oder weniger ein Fremder, dem Leser als
Führer dient, erweist sich dessen geringe Kenntnis der
Örtlichkeit und ihrer multiethnischen Bewohner nicht als
Manko. Mit bilderreicher, ausdrucksvoller Sprache begleitet Karahasan
den Rückkehrer
- und den Leser - in eine Stadt, die exemplarisch für
Bosnien-Herzegowina steht; der Autor setzt alle Sinne des Lesers ein,
um die Verkettung des nur scheinbar vergangenen Grauens
früherer Gemetzel mit bevorstehenden Eskalationen der Gewalt
erfahrbar zu machen. Klug gewählte Allegorien und
bedeutungsträchtige religiöse und philosophische
Ideen verstärken an einschneidenden Stellen den Eindruck eines
rasch anschwellenden Hochwassers, das den immer wieder halbherzig unter
Zwang errichteten Damm durchweicht hat und ihn auch diesmal in
Kürze zum Bersten bringen wird.
Dennoch zieht sich ein leises Gefühl von Hoffnung wie ein
roter Faden durch den Roman, das auf unverbrüchlicher Liebe
gründet und verheißt, dass die Welt nicht restlos
zusammenbrechen kann. Letztlich erscheint sie doch wunderbar "wie eine
Pflaume, wie eine schöne reife Pflaume".
(Regina Károlyi; 03/2006)
Dževad
Karahasan: "Der nächtliche Rat"
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber.
Insel, 2006. 334 Seiten.
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Dževad
Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, Erzähler,
Dramatiker und Essayist. Für seinen Essayband "Das Buch der
Gärten" wurde er 2004 mit dem Leipziger Buchpreis zur
Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Er lebt in
Graz und Sarajevo.
Dževad
Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 in Graz.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Tagebuch der Aussiedlung. Essays"
Tagebuch der Aussiedlung - kein Blick zurück in Verzweiflung,
vielmehr das ausgefächerte Porträt einer Stadt,
zugleich Rand und ein Herz Europas, in der vier große
Weltkulturen Jahrhunderte lang friedlich und schöpferisch
zusammenlebten ... und nach Krieg und Zerstörung
wiederaufleben werden, solange es ein Sarajevo gibt. (Wieser Verlag)
Buch
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"Das Buch der Gärten.
Grenzgänge zwischen Islam und Christentum"
Islam und Christentum teilen die
Vorstellung
vom
Paradies als Garten. Sie entspringt der gemeinsamen
geografischen Herkunft. Nur in Kulturen, die mit der Wüste
vertraut waren, konnte man die Abgeschlossenheit eines
bewässerten Fleckchens Erde als einen Ort der Wunder erfahren.
"Im Garten träumt man und entdeckt die Liebe, gibt sich
Betrachtungen hin und unterliegt den sinnlichen Versuchungen, im Garten
wird aus dem Bettler ein König und umgekehrt, im Garten
entdeckt man das Heilige und versöhnt sich mit dem Tod."
Dževad Karahasan untersucht den Topos des Gartens in der Bibel, im
Koran und in den Geschichten von "Tausendundeiner Nacht". Aber er
führt uns auch in den Stadtpark von Sarajevo, der mit seiner
mitteleuropäischen Anlage, den Blumenrabatten, Springbrunnen
und Bänken, und dem verwilderten Hügel, mit
Grabsteinen und verborgenen Winkeln, die Bilder von Garten und
Wüste in beiden Religionen widerspiegelt. Was Parks und
Gärten über die Natur einer Stadt, über die
innere Verfassung einer Gesellschaft, über ihre Idee von
Glück, Intimität und Geheimnis aussagen, wie eine
Ruinenlandschaft als Garten durchwandert und als Buch der Erinnerungen
gelesen werden kann - all das wird so suggestiv entfaltet, dass man die
west-östlichen Korrespondenzen von innen heraus begreift.
(Insel)
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