Jean-Baptiste Botul: "Das sexuelle Leben des Immanuel Kant"
Ohne eine Frau zu leben
ist Askese. Mit einer Frau zu leben ist Askese. Wie soll man nebst der
Erfüllung seiner ehelichen Pflichten noch philosophieren? Denn
der Körper des Ehemanns gehört seiner Frau, nicht
etwa umgekehrt. Und das weibliche Verlangen ist gebieterisch.
Immanuel Kant gilt als
Prototyp des knochentrockenen Philosophen, dessen mönchische
Lebensweise schon seine Zeitgenossen erheiterte. Nichtsdestoweniger
emigrierte eine Gemeinde glühender Kant-Anhänger aus
Königsberg nach Paraguay, um dort ungestört als wahre
Kantianer zu leben. Nur: das strenge Kopieren der keuschen,
schrulligen Lebensweise des Meisters gefährdete den
biologischen Fortbestand der Kolonie; es drohte das natürliche
Ende von Neu-Königsberg. Abhilfe verschaffte der Kant-Kenner
Jean-Baptiste Botul (1896-1945), der in acht Vorträgen die
bislang verborgen gebliebenen erotischen und libidinösen
Züge im Werk Immanuel Kants offen legte. Die Offenlegung
erfolgte im Lichte biografischer Notizen, der Kantschen Philosophie und einzelner
Aphorismen des großen Philosophen.
Kant war durchaus ein
Liebhaber des guten Lebens, aber dennoch kein Liebhaber weiblicher
Reize. Zumindest praktizierte er die Sinneslust nicht. Mit seiner
keuschen Lebensweise befand sich Kant im Widerspruch zum ersten Prinzip
seiner Morallehre, das lautet: "Handle so, als ob die Maxime deiner
Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden
sollte." Wendet man dieses Prinzip auf das sexuelle Leben an, so
ersieht man sofort, dass, sollten alle Menschen keusch leben, dies das
Ende der Gattung bedeuten würde. Daraus folgt also, dass die
Keuschheit nicht als allgemeines Naturgesetz der Gattung Mensch Geltung
beanspruchen kann. Nichtsdestotrotz führte Kant ein Leben in
Keuschheit und machte keinen Gebrauch von den genitalia. Lag es an
philosophischen Traditionen, die sich über das Joch der Ehe
geringschätzig äußerten? Die
überwiegende Mehrzahl der Philosophen des 17. und 18.
Jahrhunderts ist unverheiratet geblieben. Oder lag es an der
Mutmaßung des Philosophen, dass die beiden Geschlechter nicht
im Gleichschritt auf dem Weg der Zivilisation und Kultur marschieren?
Wir wissen es nicht.
Ganz eigen war auch des
Philosophen Achtsamkeit
betreffend seiner
Körperflüssigkeiten. Man soll
sie zurückhalten, meinte Kant. Jeder Tropfen unserer
wertvollen Flüssigkeiten ist Teil unserer
Vitalkräfte. Man muss auf seinen Schweiß achten. Und
Spucken ist Verschwendung. Und nicht zuletzt, sein Sperma zu
verausgaben heißt, seine Lebensenergie zu vergeuden. Jede
Ejakulation verkürzt unser Leben. Daher musste für
Kant jede sexuelle Beziehung einem Suizid gleichkommen. Im Alter von
vierundsiebzig Jahren schrieb Kant hierzu von seiner Beobachtung, dass
unverehelichte (oder jung verwitwete) alte Männer mehrenteils
länger ein jugendliches Aussehen erhalten, als verehelichte.
Tatsächlich, das sexuelle Leben des Immanuel Kant scheint
nicht zu existieren. Nicht einmal auf autoerotische Weise, denn der
Philosoph befehdet selbst noch die Masturbation als
unnatürliche Wollust, als Selbstbefleckung mit dem Unreinen.
Und trotzdem ist Jean-Baptiste Botul der Auffassung, den erotischen
Charakter des Philosophen freigelegt zu haben. Es handelt sich um
dessen voyeuristisches Bedürfnis nach Wissen, um seine Art
unter die Röcke der Realität zu schauen. Die
Wahrheit, die man gerne ganz nackt hätte, man wird sie endlich
zwischen den Beinen einer Prostituierten finden. Man betrachte doch nur
einmal den Dekor in alten Fakultäten, den
Aufenthaltsräumen der Gelehrten. Überall an den
Wänden und an der Decke sind gar nicht oder nur
spärlich bekleidete Frauengestalten abgebildet!
Im Zentrum Kantschen
Denkens findet sich jenes obszöne Ding an sich,
ein Gegenstand, der ist, und als solcher absolut wirklich ist, aber von
dem nichts erkannt werden kann. Botul mutmaßt, das Ding sei das Geschlecht,
die Vulva.
Und außerdem,
man beachte die gesellschaftliche Funktion der Philosophen, die
gewissermaßen eine sexuelle sei: Philosophen vermehren sich
untereinander, ohne Sex. Ohne diese Männergruppe wäre
die Menschheit eine ganz ordinäre Herde, die über
kein anderes Gedächtnis als das der Gene verfügte.
Die Philosophie gibt der Menschheit den geistigen Samen und
trägt auf diese Weise ihren Teil zur Vermehrung des Menschen
bei. Man möge nur nicht irgend etwas Anderes von ihnen
verlangen! Ganz besonders nicht, dass sie heiraten und Kinder in die
Welt setzen!
Jean-Baptiste Botuls
unmöglicher Versuch einer erotischen Annäherung an
den sterilsten aller Philosophen musste fehlschlagen. Die Deutung
Kantscher Philosophie als erotische Begierde überzeugt wenig,
zumal die Begründung dazu bloße Spekulation bleibt.
Einfach zu großzügig scheint mir die Ausweitung des
Sexuellen auf den eigentlichen Tätigkeitsbereich von
Philosophen, insbesondere auf die saftlose Philosophie Kants. Ehrsam
war der Versuch noch allemal, ging es doch um den Fortbestand der
schrulligen Kolonie Neu-Königsberg. Ansonsten handelt es sich
bei den Vorträgen Botuls um eine amüsante und
lesenswerte Einführung in die Kantsche Philosophie, deren
abweisender Stil gemeinhin Probleme bereitet. Auch das
Verhältnis des - typischerweise asozialen - Intellektuellen
zur - seine Denkarbeit behindernden - Frau wird auf ein Neues
thematisiert. Letzteres mag heute auch ein Thema für
intellektuell tätige Frauen sein. Für Kant und
für Botul waren
Philosophen immer gleich Männer, die
gegebenenfalls ein Erotikproblem hatten. Die gesellschaftlichen
Verhältnisse haben sich gewandelt. Das kultivierte Denken und
seine Störungen sind männlich wie weiblich geworden.
Lesen Sie dieses Buch über den schrulligsten aller
Philosophen, von dem viele namhafte Personen behaupten, er sei der
größte aller Philosophen gewesen.
(haschu; 09/2001)
Jean-Baptiste Botul: "Das sexuelle Leben des Immanuel Kant"
Reclam Leipzig, 2001. 87 Seiten.
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Lien: Kantsche Texte im www
Weitere Buchtipps: Jean-François Lyotard: "Der
Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte" Georg Geismann: "Kant und kein Ende. Band 1: Studien
zur Moral-, Religions- und Geschichtsphilosophie" Otfried Höffe: "Immanuel Kant" Eberhard Döring: "Immanuel Kant. Einführung in sein
Werk"
Immanuel Kant: "Kritik der Urteilskraft. Schriften zur Ästhetik und
Naturphilosophie"
Herausgegeben von Manfred Frank und Véronique Zanetti.
Kants Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie in einem Band: Dieses auf den
ersten Blick überraschende Nebeneinander entspricht Kants eigener Überzeugung
von der innigen Nähe beider Disziplinen, wie sie sich insbesondere in der
Kritik der Urteilskraft ausdrückt. Alle Texte des Bandes, außer den
Reflexionen zur Ästhetik, stammen aus Kants kritischer Phase.
Der Text der Ausgabe geht auf die Originaldrucke zurück. Der Kommentar erläutert
die Texte in ihrem geistes- und philosophiegeschichtlichen, aber auch im
werkgeschichtlichen Zusammenhang. In ihren Stellenkommentaren geht sie weiter
als irgendeine frühere Edition. (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch)
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Herausgegeben von Peter Engelmann.
Im "Enthusiasmus" untersucht Lyotard die Übergangsmöglichkeiten von der
Ideenwelt zur Realität für das besonders brisante Feld des Politischen. Er
zeigt die Möglichkeiten und Grenzen, Parallelen zu Kant zu ziehen, um dem
Politischen heute innerhalb der viel zitierten "postmodernen Erschlaffung"
neue Anstöße zu verleihen.
Kant, der Philosoph der Aufklärung, ein Vorläufer der Postmoderne?
Provokanter könnte Jean-François Lyotard seine Kritik einer Aufklärung und
verengten Vernunftphilosophie, die ihr eigenes Erbe vergessen hat, nicht
formulieren. Nach der "Postmoderne für Kinder" gibt der Begründer der
Postmoderne-Diskussion in der Philosophie hier eine zweite, wichtige Klärung
und entscheidende Begründung seines Postmoderne-Begriffs. Dieser bedeutet
nicht Irrationalismus oder Verantwortungslosigkeit, sondern geht im Gegenteil
auf den Ursprung der modernen Aufklärung und Vernunftphilosophie zurück,
nimmt ihn ernst und entwickelt ihn zu einem unserer Zeit gemäßen und unsere
Erfahrungen berücksichtigenden Vernunft- und Verantwortungsdenken weiter.
Jean-François Lyotard (1924-1998) lehrte Philosophie in Paris und den USA. (Passagen Verlag)
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Inhalt: I. Sittlichkeit - Religion - Geschichte: 1) Das moralische Gesetz 2) Das
höchste Gut 3) Die Postulate 4) Sittlichkeit, Religion und Geschichte - II.
Kant über Freiheit in spekulativer und in praktischer Hinsicht - III. Über
Pflicht und Neigung - IV. Moralphilosophie und Ästhetik bei Schiller und Kant:
1) Schiller pro und contra Kant 2) Schiller und die ästhetische Erziehung des
Menschen 3) Kant und die "Cultur der Tugend" 4) Anhang: Moralisch
differente Handlungstypen - V. Der kategorische Imperativ - eine Leerformel? -
VI. Rezensionen. (Königshausen & Neumann)
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Immanuel Kant gehört zu den bedeutendsten Philosophen des Abendlandes. Klar und
verständlich beschreibt Höffe Kants philosophische Entwicklung und
Wirkungsgeschichte und entfaltet die Grundgedanken Kants von der Kritik der
reinen Vernunft über die Ethik, Rechts- und Geschichtsphilosophie bis zur
Philosophie der Religion und der Kunst. In kritischer Auseinandersetzung zeigt Höffe,
warum Kants Denkentwurf auch heute noch herausfordert. (C.H. Beck)
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Dörings Einführung in die Philosophie Kants bettet diese leicht lesbar in
deren historischen Kontext des Empirismus bei Locke und des Rationalismus bei
Leibniz ein. Das kritische Hauptwerk und die Rechtsphilosophie Kants inklusive
der Aufklärungsproblematik bilden den Schwerpunkt. Auch werden Kants Wirkungen
in der Gegenwart diskutiert. (marixverlag)
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