Wladimir Kaminer: "Die Reise nach Trulala"
Wenn andre eine Reise tun, kann einer was erzählen!
Der
Weg ist das Ziel. Nichts Neues im Osten?
In "Die Reise nach Trulala" unternimmt man mit Wladimir Kaminer vergnügliche Ausflüge in entlegene wie naheliegende Gegenden der Welt und des Denkens. Am Anfang einer Reise steht oft ein Traum, gegenständlich jener von unbegrenzter Reisefreiheit. Und nicht nur in den Erzählungen von Sindbad dem Seefahrer finden sich außergewöhnliche, ja geradezu unglaubliche Einzelheiten und Übertreibungen, die man erstaunt bis belustigt genießt, erfreut über gottlob nicht alltägliche Wendungen und Schicksale, wissend, dass es sich um bunte Halbwahrheiten handelt ...
In gewohnt nüchtern-unverblümter Manier erzählt Wladimir Kaminer wieder allerhand skurrile Geschichten aus seinem Verwandten- und Freundeskreis, die, auch wenn sie nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprechen mögen, doch liebevoll erfunden sind und kurzweiliges Lesevergnügen bescheren.
Aus den Kommentaren vereinzelter Rezensenten ertönte Bedauern darüber, dass Kaminer erneut episodenhaft und schlicht erzähle wie er es bereits in "Russendisko" und "Militärmusik" getan - wer allerdings des Autors schalkhaften Blick für verwinkelte Wege durch kleinere und größere Widrigkeiten des Alltags schätzt, wird "Die Reise nach Trulala" wahrlich verschlingen.
Wladimir, der unerschütterliche Ich-Erzähler und sein Freund Andrej planen wiederholt Reisen, stranden jedoch vorzugsweise in russischen Enklaven untouristischer Prägung, sofern sie Berlin überhaupt verlassen: "Statt nach Paris zu fahren, gingen wir ins Kino." So lesen wir Reiseberichte aus zweiter oder dritter Hand, was dem Unterhaltungswert allerdings keineswegs abträglich ist. Vielmehr begünstigt diese Perspektive des Hörensagens absurde Momente - und das ist gut so.
"Paris" in der südrussischen Steppe
Wohin wurde einst Kaminers Onkel Boris, wie auch andere verdiente
Sowjetbürger zur erholsamen Belohnung geschickt?
Nach Paris. Doch freilich nicht
in den kapitalistischen Westen nach Frankreich! Das einzigartige "Objekt Paris"
lag - so man geneigt ist, dem modernen Münchhausen Kaminer Glauben zu schenken
- in verkleinertem Maßstab nachgebaut, dereinst in der südrussischen Steppe
und wurde bei Schlechtwetter rasch zu "London" umgebaut. Man scheute weder Kosten
noch Mühen, den Reisenden, die sich tatsächlich in Westeuropa wähnten, - je
nach Wetterlage - "Franzosen" oder "Engländer" (selbstverständlich allesamt
waschechte Russen!)
in täuschend
"echten" Kulissen zu präsentieren. Als ein holländischer Journalist die
sonderbare "Wahrheit" ans Licht brachte, wurde das "Objekt Paris" in Windeseile
dem Erdboden gleich gemacht. Die umliegenden Dörfer allerdings profitierten
vom Abbruchmaterial, und so staunten spätere Reisende beispielsweise über Schweineställe
mit schicken Glastüren.
"Verfehltes Paris" ist also die erste Station einer
erfrischend abwechslungsreichen Reise, auf die man sich lesenderweise begibt.
Vom
Potemkinschen Paris, dem kein langer Bestand gegeben war, führt uns Wladimir Kaminer
in das real existierende Paris, das er anhand der wundersamen Schilderungen eines
befreundeten Ehepaares skizziert. Trinkfeste Exilrussen teils alarmierender Gesinnung,
die sich als Dissidenten und Künstler gerieren, treffen in der französischen Hauptstadt
aufeinander. Das Ehepaar muss sich mit dem Singen eines Kinderliedes das Geld
für eine Mahlzeit verdienen, ersteht unabsichtlich Pariser Luft in Konservendosen,
und im Jardin du Luxembourg wird bei Nacht nach Münzen im Teich getaucht ...
Nicht zu vergessen die Migrationswelle der russischen "Papstkinder", die mit teils haarsträubenden Begründungen Anfang der 1990er-Jahre versuchten, Russland zu verlassen, um den Heiligen Vater in Polen sehen zu können, sich jedoch nicht selten als Hausbesetzer im Westen niederließen. Oder der Moskauer Alex, der als Porträtmaler nur dadurch zu einem der heiß begehrten Standplätze am Montmartre kommt, weil ein Künstlerkollege aus Jugoslawien, der sich als heftig gestikulierender Italiener in Szene gesetzt hat, sich bei einem unglücklichen Sturz die linke Hand bricht.
Überhaupt liefert das Buch einige - gelinde gesagt - fantasievoll-alternative Ansätze zur Bestreitung des Lebensunterhalts in der Fremde.
"Die Verdeckung Amerikas"
In "Die Verdeckung Amerikas" werden vorerst drei Moskauer Jugendliche,
darunter der Erzähler, von einem CBS-Korrespondentenduo für ein Interview in
ein nobles Hotel eingeladen, was die Drei fröhlich ausnützen und sich auf fremde
Kosten mit Bier und Keksen eindecken. Bleibt anzumerken, dass das Interview
selbst(verständlich) kläglich-komisch ausfällt ... Weiters wird, halb ernsthaft,
halb augenzwinkernd, von den Unterschieden zwischen westlichen und zunehmend
verwestlichten Ansprüchen und Zuständen, von der Sehnsucht nach der jeweils
anderen Lebensart berichtet, und zwar anhand der schillernden Lebensgeschichte
des russischen Schriftstellers Eduard Limettow, dessen erster Roman unter dem
klingenden Titel "Fuck off, America" ein Bestseller wurde. Der Held des Romans
fühlt sich erst von der
New
Yorker Gesellschaft aufgenommen, nachdem er eines Nachts von einem großen
schwarzen Mann in einem Sandkasten vergewaltigt worden ist.
Dann folgt die Geschichte vom Boxlehrer Anatolij Bikov, der in den Aluminiumkriegen
zum Alleinherrscher von Krasnojarsk und zum Robin
Hood Sibiriens aufstieg, die der Schriftsteller Limettow recherchiert. Wie
es kommt, dass beide schlussendlich in einer Gefängniszelle aufeinander treffen,
sei hier nicht verraten.
Die Entstehung
der ersten Moskauer Striptease-Lokale mit unzweideutigen Namen wie "Imperium der
Leidenschaft" und "Nackter Bär" wird mit liebevollem Spott beschrieben. Hat man
die Zuwanderungsthematik jemals in griffige Formulierungen wie diese gegossen
gelesen: "Für jeden Arsch findet sich eine passende Hose, für jede Hütte ein Onkel
Tom und für jeden ausgestoßenen Amerikaner ein neues Zuhause"? Und mit einer Überlegung
des Erzählers, ("Ach, die Krim, da würde ich auch gerne mal hin", sagte ich zu
mir selbst und schaute ins Wasser.), wird zum nächsten Kapitel übergeleitet:
Wie
man weiß, stellte die Halbinsel das Urlaubstraumziel vieler Sowjetbürger dar,
und wer einmal dort war, wollte so schnell nicht wieder weg. Abermals ist eine
Geschichte zu erzählen, diesmal die des Nachbarn, Onkel Oleg, dessen letztes Telegramm
von der Krim lautete: "Bin Krim - Kohle" ... Die Krim als "Bermudadreieck"?
Natürlich darf auch ein Besuch beim angeblichen Sohn des Josef Beuys nicht fehlen!
Zwei Freunde des Erzählers begeben sich nämlich auf die Suche nach den Spuren
Beuys' und landen in einem Dorf namens Torlala, Turlala oder so ähnlich: Einer
spekulativen These zufolge habe
Antoine
de Saint-Exupéry höchstpersönlich im Jahre 1944 ein Flugzeug, dessen Bordschütze
Beuys war, über der Halbinsel abgeschossen. Der schwer verwundete nachmalige
Künstler sei in einem Dorf, dessen Name angeblich "warme Pisse" bedeutet, von
wilden Krimtataren bis zur vollständigen Genesung wiederholt mit Fett beschmiert
und in Filz gewickelt worden; daher rühre seine Vorliebe für diese Materialien!
Wie auch immer, jedenfalls entwickelten die geschäftstüchtigen Bewohner über
die Jahre allerlei Methoden, Touristen regelrecht auszunehmen, und der Handel
mit falschen
Beuys-Reliquien blüht.
Gleichermaßen unterhaltsam sind die Kapitel "Verlaufen in Dänemark" und "Verdorben in Sibirien", die u.a. die kuriosen Hintergrund"informationen" dafür liefern, warum man in Dänemark nicht per Anhalter reisen kann, wie hungerstreikende Russen vor dem Kopenhagener Parlament schlemmen, wie ein radfahrender Weltverbesserer in Swetlogorsk seine Liebe zur extremen Kälte entdeckt, und ob Politiker einen Hang zur Selbstverstümmelung haben ...
(kre; 09/2002)
Wladimir
Kaminer: "Die Reise nach Trulala"
Gebundene Ausgabe:
Manhattan,
2002. 188 Seiten.
ISBN 3-442-54542-0.
ca. EUR 18,-.
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Hörbuch:
Random
House Audio, 2002.
2 Cassetten. ISBN 3-8983-0415-9.
ca. EUR 19,50.
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2 Audio-CDs. ISBN 3-8983-0414-0.
ca. EUR 19,50.
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