Wladimir Kaminer: "Ich bin kein Berliner"

Ein Reiseführer für faule Touristen
Mit Fotos / Illustrationen von Vitali P. Konstantinov


Ein etwas anderer Reiseführer durch eine etwas andere Metropole

Wladimir Kaminer lebt seit 1990 in Berlin. Der gebürtige Russe hatte ursprünglich laut eigener Aussage keineswegs die Absicht, dort zu bleiben, doch die Stadt hielt ihn fest wie so viele andere Menschen auch.

Wer Kaminer aus anderen Büchern oder aus der Russendisko kennt, erwartet von ihm sicherlich keinen konventionellen Reiseführer. In der Tat präsentiert er Berlin auf recht ungewöhnliche Weise. Bereits bei der Lektüre des Kapitels "Berlins Geschichte in Kürze" dürften Leser, deren Vorstellungen von einem Reiseführer sich an Baedeker & Co. orientieren, resignieren, auch wenn die humorige Darstellung sehr gut gelungen ist.

Ausführliche Beschreibungen der historischen Architektur, der Museen und sonstiger Baudenkmäler wird derjenige, der darauf aus ist, ebenfalls vermissen. Dafür lernt er Berlin von ganz anderen Seiten kennen, zum Beispiel die immer noch wie eine Mauer vorhandene Grenze zwischen Ost und West, die sich in vielerlei Weise bemerkbar macht - und nicht nur in Konsumgewohnheiten oder darin, welcher Fußballverein unterstützt wird -, Großereignisse wie die Berlinale und die Grüne Woche, einige typisch berlinerische Traumata aus der Vergangenheit, die Eigenheiten beim "Shoppen" und in der Gastronomie sowie die Kneipenkultur, die in Berlin einen enormen Stellenwert und sehr unterschiedliche Ausprägungen besitzt.

Der Leser kann sich darüber informieren, dass Amerikaner und Briten bei Führungen grundsätzlich Relikte und Anekdoten aus der Nazivergangenheit präsentiert bekommen, Bundeswehrangehörige hingegen auf keinen Fall; Japaner sich in Gaststätten gern mit Eisbein und Sauerkraut fotografieren lassen, ohne dieses anschließend zu verzehren, und dass sich der multikulturelle Aspekt der Stadt ganz besonders beim Grillen im Freien zeigt. Kultur ist für Kaminer ohnehin ein wichtiges Thema, ob es nun um die zahlreichen Theaterveranstaltungen, um postmoderne Kunst, um Dichterworte über Berlin, um Mode oder auch die kleinste Minderheit in Berlin geht - einen einzigen Tschuktschen oder, um ganz präzise zu sein, einen von nur noch 193 lebenden Luoravetlanen. Auch die Bildung bleibt nicht außen vor, weiß der Autor als Familienvater doch aus eigener Erfahrung, was PISA aus den Berliner Schulen gemacht hat. Und natürlich gibt es auch Wirtschaft in Berlin, vor allem findet der Mittelstand zu ausgefallenen Geschäftsideen. Ob man nun kiloweise Gummibärchen mit ökologisch unbedenklichen Zutaten verkauft oder in der U-Bahn musiziert, man muss sich einfach eine Nische suchen. Nur wer einen Ausländer heiraten will, sollte lieber nach Dänemark gehen als nach Berlin.

Als pflichtbewusster Bürger bietet Kaminer sich am Ende in einer natürlich "völlig ernst gemeinten" Rede als Oberbürgermeisterkandidat an, denn er hat eine Reihe von Ideen, wie man der Hauptstadt noch etwas auf die Sprünge helfen kann ...

Wer Wladimir Kaminer und seinen flapsigen, trockenen Humor mag, wird auch von diesem Buch begeistert sein. Zu lachen gibt es ständig etwas, abgesehen davon findet man aber auch reichlich Informationen darin, denn im Grunde ist das Buch durchaus ein Berlinführer auf seriöser Basis, nur eben mit etwas anderen Prioritäten. Berliner werden über das scharfsinnige Porträt ihrer Stadt überrascht sein, Nichtberliner dürften manche eigene Beobachtung darin wieder finden, denn Berlin ist ganz einfach nicht wie andere deutsche Städte, sondern eine Metropole der Widersprüche - mit einer Mauer, die zwar nicht mehr unmittelbar sichtbar ist, die sich aber in den Köpfen betonhart festgesetzt hat. Dadurch, dass Kaminer die Besonderheiten mit den Stilmitteln der Satire und der Glosse herausgreift und darstellt, leistet er einen bemerkenswerten Beitrag zum Verständnis sowohl für Außenstehende als auch innerhalb Berlins. Dass sein Buch an vielen Stellen aber auch einfach unbefangen witzig verfasst und originell illustriert ist, macht es umso lesenswerter. Bei Ihrem nächsten Berlinbesuch dürfen Sie natürlich außerdem gern einen "klassischen" Reiseführer benützen, sogar wenn Sie ein fauler Tourist sein sollten. Und Kaminers handliches Werk bereitet auch dem weniger faulen Reisenden viel Lesevergnügen.

(Regina Károlyi; 04/2007)


Wladimir Kaminer: "Ich bin kein Berliner"
Goldmann, 2007. 252 Seiten.
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