Wladimir Kaminer: "Mein deutsches Dschungelbuch"

(Hörbuchrezension)


Nach dem Vorwort des Autors mag sich der Zuhörer erwarten, dass Kaminer aufs Geratewohl allerlei Winkel von Deutschland besucht hat, und nunmehr über diese kleinen Reisen berichtet. Pustekuchen. Es wäre interessant, wie es sich diesbezüglich bei einem Menschen verhalten hätte, der vor Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen, und dort haften geblieben ist. Dies hätte einen Kontrapunkt zu der genialen "Deutschlandreise" von Roger Willemsen bilden können. Doch die Geschichten von Kaminer sind aus der typischen Perspektive eines Autors geschrieben. Vor kurzem habe ich mal einen witzigen Artikel des Satirikers Robert Gernhardt gelesen, wo es u. a. darum ging, dass Autoren mehr Zeit damit verbringen, ihre Bücher auf Lesereisen publik zu machen, als an Büchern zu arbeiten. Das mag stimmen. Und Kaminer wertet diese Wahrscheinlichkeitsrechnung auf.

So gut wie alle Geschichten spielen rund um Lesereisen des "Russendisko"-Erfinders. 
Der individuelle Witz, den die Kenner von Kaminers Büchern hoch schätzen, scheint in manchen der Berichte überraschenderweise zu fehlen. Zum Teil ziehen sich die Minuten dahin, ohne dass etwas Besonderes zu passieren droht. Von möglichen Macken illustrer Autoren ist die Rede, welche Kaminer sich und Buchhändlerinnen nicht zugesteht; von harmlosen Sümpfen, vom ewigen Abgeholt-Werden auf irgendwelchen Bahnhöfen Deutschlands, von einem Marx-Denkmal, das größer ist als sämtliche derartige Denkmäler in Russland; von bayrischen Lederhosen, die in Berlin getragen werden usw. usw.  Allesamt harmlose Dinge, aus deren Sein oder Nicht-Sein der Zuhörer nichts ableiten kann, was ihm förderlich sein könnte; nicht mal ein wohliges Lächeln mag sich da auf die Lippen zaubern. 

Aber Kaminer wäre nicht Kaminer, wenn nicht zwischen Lesereisengeplänkel eine fantastische Geschichte sich auftäte, und endlich der Schlund sichtbar wird, in dem der Witz seinen alten Bart ablegt, und mit geistreicher Raffinesse eine Erkundungsfahrt durch Regenstauf macht. "Schnecken mit und ohne Haus" ist eine herrliche Parodie auf die Naturkatastrophe des Hochwassers, wie sie letztes Jahr nicht nur Teile Deutschlands heimsuchte. Kaminer macht sich nie über diese Umstände lustig, wie sie seinerzeit herrschten. Aber er konstruiert mitten in diese Fürchterlichkeit hinein ein Märchen, das unheimlich komisch und gleichzeitig lehrreich ist. Fast könnte es sich um eine Fabel handeln, wie sie etwa Eugen Drewermann so herrlich zu schreiben imstande ist. Der Unterschied ist nur der, dass Menschen und Tiere in Metamorphose neu entstehen. Wie aus Schnecken Menschen werden können und umgekehrt, erzählt die Geschichte auf verrückt menschliche Art und Weise. 

Ähnlich gut ist dann noch "Dicke Sterne", eine Parodie auf den Literaturbetrieb, wobei Kaminer eigene Erlebnisse bei einem Fernsehauftritt gemeinsam mit Wolf Wondratschek Revue passieren lässt. Wer Wondratschek kennt, weiß, dass dieser Zeitgenosse ein besonders lustiger Mensch ist, dessen Zynismus nicht immer als solcher erkannt werden will. Kaminer hat mit Wondratschek im und um den "Weimarer Salon" Dinge erfahren, welche einem Autor wohl nie aus der Erinnerung rutschen werden. 

Wenngleich also viele Geschichten eher der harmlosen, halblustigen Sorte zuzurechnen sind, sind doch zwei Schätze auf dieser CD verborgen, die vom Zuhörer ausgegraben werden können. Den Gesamteindruck schmälert zweifellos die Tatsache, dass keine Musikstücke russischer Urkraft rund um die Geschichten eingeplant wurden. Dies hätte für den Zuhörer die Möglichkeit ergeben, ein wenig Kraft zu sammeln und vielleicht mit ein wenig Nachsicht auf die für Autoren typischen Lesereisen zu schielen bzw. zu lauschen ...

(Jürgen Heimlich; 08/2003)


Wladimir Kaminer: "Mein deutsches Dschungelbuch"
Random House Audio, 2003. 2 Audio-CDs.
Laufzeit: etwa 140 Minuten.
ISBN 3-89830-610-0.
ca. EUR 19,50.
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2 Audiocassetten.
Laufzeit: etwa 140 Minuten.
ISBN 3-89830-611-9.
ca. EUR 19,50.
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Gebundene Ausgabe:
Manhattan, 2003. 256 Seiten.

ISBN 3-442-54554-4.
ca. EUR 18,-.
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