Franz Kafka: "Brief an den Vater"
Der "Brief an den Vater"
von Franz Kafka ist wohlbekannt. In Zusammenhang mit dem zu rezensierenden Buch
ist es eine ungewöhnliche Komponente, die Gewicht bekommt. Bislang galt es
seitens der Literaturwissenschaft immer, die literarische Sublimierung des
Lebens von Kafka darzustellen bzw. spezifische Eigenheiten auf deren
substanzielle, Kafka "decodierende" Mechanismen, herauszufiltern. Nunmehr also
geschieht etwas völlig Anderes. Es kommt ein gewisser Frantisek Basik ins Spiel,
der als Lehrling in der Zeit von 1892 bis 1895 "Zaunzeuge" der Verhältnisse in
der Galanteriewarenhandlung war, die der Vater von Franz, Hermann Kafka, als
Geschäftsmann führte. Schon im Vorwort von Hans-Gerd Koch wird darauf
hingewiesen, dass der berühmte "Brief an den Vater" möglicherweise gar nicht
dazu gedacht war, verschickt zu werden (wenn Franz keine "Angst" davor gehabt
hätte), sondern als eigenständiges, literarisches Werk gelten mag, in dem
Hermann Kafka bewusst übertrieben dargestellt wird, da sich dadurch die innere
Befindlichkeit des Sohnes trefflicher demonstrieren lässt. Die "Abrechnung mit
dem Vater" ist in diesem Sinne literarisch adaptiert worden. Dass die Person des
Vaters nicht so abgehoben und für Franz seelisch erdrückend gewesen sein kann,
wie im "Brief an den Vater" trefflich beschrieben, lässt sich aus dem Bericht
des ehemaligen Lehrlings ersehen.
Interessant ist es, vorab zu erwähnen,
dass es sich bei den knapp sechzig Seiten, die die Zeit von Frantisek im
Geschäft von Hermann Kafka darstellen, nur um einen kleinen Auszug eines
ziemlich langen Berichtes handelt, den der Mann seinerzeit geschrieben hat. Es
wird davon ausgegangen, dass nur etwa ein Fünftel des Konglomerats
veröffentlicht wurde. Die Brünner literarische Monatsschrift "Host" druckte
diesen für die Kafka-Forschung bedeutenden Teil erstmals 2001 ab. Etwa die
Hälfte der Memoiren von Frantisek Basik sollen dank Alena Wagnerova demnächst in
deutscher Übersetzung erscheinen. Alena Wagnerova zeichnet für einige Bücher
über Milena Jesenska und deren Verhältnis zu Franz Kafka
verantwortlich.
Bei dem nunmehr vorliegenden Bericht von Frantisek
handelt es sich aber zweifelsfrei um das Herzstück dieser Memoiren. Er entschied
sich erst etwa 50 Jahre nach seiner Lehrzeit bei Hermann Kafka dazu, über diese
Zeit zu schreiben. Zum Zeitpunkt der Lehrzeit von Frantisek war Franz Kafka zehn
bis zwölf Jahre alt. Textauszüge, in denen Kafka erwähnt wurde, erschienen
zunächst im Verlag Mastal (1994-1995). Es bestanden Zweifel an der Authentizität
derselben. Basik hatte nämlich nichts vom späteren Ruhm von Franz Kafka gewusst,
sodass "sein Kafka" nur eine episodenhafte Gestalt am Rande eines ganz anderen
Schicksals blieb. Glücklicherweise schwand der Zweifel mit der Zeit, und nunmehr
liegen diese Erinnerungen in geballter Form vor.
Frantisek Basik war nach
seiner Zeit als Lehrling in beruflicher Hinsicht als selbstständiger
Handelsreisender, Buchhalter, Händler für Schreibmaschinen, Verwalter einer
Tourismuseinrichtung und gerichtlich beeideter Sachverständiger für Philatelie
tätig. Er heiratete 1905 Anna Spinarova, mit der er fünf Kinder hatte. Ab 1950
lebte er als Rentner in Reichenberg, wo er 1963 im Alter von 85 Jahren verstarb.
Seine Memoiren mit dem für die Kafka-Forschung entscheidenden Spezifikum schrieb
er im Alter von ca. 60 Jahren.
Es ist eine herrlich geschriebene Geschichte, die sich vor dem Leser ausbreitet,
wenn er den Lehrling Frantisek von Anbeginn seiner Anstellung begleitet. Eine
Eigenheit des Autors ist es, sich selbst in der dritten Person zu schildern,
wodurch der Text vielleicht ein bisschen mehr Literarizität verkörpert, als
wenn er eine "gewöhnliche" Autobiografie geschaffen hätte. Vom ersten Tag seiner
Lehrzeit an ist die Arbeit bei Hermann Kafka kein Zuckerschlecken für ihn. Er
muss hart arbeiten und wird die meiste Zeit über von einem anderen Lehrling
namens Robert ziemlich gequält. Sein Arbeitspensum ist enorm. Er muss eine große
Zahl von Regalen und Waren abstauben, und die Ware aus- und einlagern. Hermann
Kafka betrieb einen Großhandel und hatte eine große Lagerhalle. Drei Zimmer
der Wohnung, die er mit seiner Frau und den Kindern bewohnte, dienten ebenso
als Lager. Anfangs empfand der Lehrling die Arbeit als sehr anstrengend. Doch
bald hörte die Eintönigkeit auf; Frantisek erledigte zahlreiche Botengänge und
musste öfters schwere Waren auf dem Rücken und mit den Händen tragen. Das bescherte
ihm letztlich eine leicht schiefe Schulter, die ihm anzusehen war. Für Hermann
Kafka besorgte er täglich dessen Ration an Tabakwaren und zeichnete auch für
das Besorgen des Frühstücks für die zahlreichen Angestellten verantwortlich.
Keinem der Angestellten war es gestattet, auch nur einen kleinen Moment in sitzender
Stellung auszuruhen. Für den Lehrling war es also sehr mühsam, sich einzuleben.
Aber man gewöhnt sich ja an alles.
Um die extremen Bedingungen
darzustellen, unter denen Frantisek arbeiten musste, sei auf die Arbeitszeiten
verwiesen. Sämtliche Angestellte der Galanteriewarenhandlung hatten um sieben
Uhr früh Dienstbeginn und arbeiteten bis halb neun Uhr abends. Dies sechs Mal in
der Woche. Nur sonntags war am Nachmittag frei. Jeden Tag gab es eine Stunde
Mittagspause. Derartige Arbeitszeiten waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts
üblich.
Da Frantisek sehr fleißig war und in seiner kärglichen Freizeit Schilder für
die Auslagen der Galanteriewarenhandlung zeichnete, bemerkte dies Hermann Kafka
und belohnte Frantisek dadurch, dass er ihn einige Zeit später ins Büro versetzte,
wo der Lehrling fast doppelt so viel Gehalt verdiente und das Glück hatte, nicht
den ganzen Tag auf den Beinen sein zu müssen. Doch es dauerte nicht lange, und
er machte wieder Botengänge; diesmal jedoch keine so beschwerlichen, wo er Ware
auf dem Rücken schleppen musste und gehörig ins Schwitzen kam. Es handelte sich
mehr um administrative Aufgaben oder aber kleine Geschäfte mit den Banken.
Eine große Freude bereitete es dem Lehrling,
als ihm zweimal die Woche eine Weiterbildung an einer Schule für Lehrlinge
seines Fachs zugestanden wurde. Insgesamt zwar nur vier Stunden die Woche, aber
immerhin. Vor der Zeit der Versetzung ins Büro war dies sehr angenehm, da in
aller Ruhe und im Sitzen der Lehrstoff durchgemacht wurde.
Für die
Kafka-Forschung von großem Belang ist die "Ehre", die Frau Kafka dem kleinen
Lehrling ermöglichte. Der Sohn Franz war ziemlich einsam und ein Eigenbrötler.
Um ihm ein bisschen Gesellschaft zu verschaffen, lernte Frantisek mit ihm jeden
Tag ab vier Uhr nachmittags eine Stunde tschechisch, und danach gingen die
beiden spazieren. Basik schreibt recht wenig über die Gespräche; seine Arbeit
machte ihm sehr zu schaffen, und wie schon weiter oben erwähnt, waren die
"Ruhezeiten" mit Franz nur eine Episode eines schicksalhaften Lebens, die im
übrigen auch nicht die ganze Lehrzeit währte, sondern später begann, und nach
einer "verrückten" Geschichte vorzeitig endete. Diese "verrückte" Geschichte ist
die einzige dargestellte Unterhaltung, die weit mehr Gewicht als die sonstigen
gehabt haben mochte. Es ging dabei um Schönheit, die Familie und
Sexualität. Da
Franz offenbar "irgendetwas" seiner konservativen Mutter weitererzählte (sicher,
ohne dabei irgendwelche Konsequenzen zu erwarten), wurden danach das
Tschechisch-Lernen und der Spaziergang abgesetzt. Als sich Frantisek später etwa
sechs Monate vor der Beendigung seiner Lehrzeit vorzeitig verabschiedete (er
hatte eine Anstellung gefunden, bei der er für damalige Verhältnisse sehr gut
verdienen konnte, und es handelte sich um einen Büro-Job!), beschränkte er sich
dabei auf die Angestellten und das Ehepaar Kafka. Weder Franz noch seine
Schwestern schloss er in die Verabschiedung ein. Daran mag ermessen werden, dass
ihn nicht sehr viel mit Franz verband.
Entscheidend im Zusammenhang mit dem Bericht von Frantisek Barsik ist die Darstellung
von Hermann Kafka. Der Vater von Franz behandelte den Lehrling keineswegs grob
und war auch selten garstig zu seinen Angestellten. Hie und da kam ihm ein lautes
Wort aus. Handgreiflich wurde er nie, und es ist stark anzunehmen, dass er auch
gegenüber seinem Sohn Franz nie tätlich wurde. Es waren nur verbale "Entgleisungen",
die er sich manchmal geleistet haben mag. Ansonsten war er ein zwar manchmal
mürrischer Mensch; jedoch fast immer gerecht und in einigen entscheidenden Fällen
äußerst rücksichtsvoll. Die hervorstechendste Episode, welche Frantisek Barsik
beschrieb, ist sicher jene von einem langen Marsch mit einem Handelsvertreter,
wobei der Lehrling ein sehr schweres Paket zu tragen hatte. Ergebnis war letztlich,
dass er viele Blasen an den Füßen hatte und unmöglich weitergehen konnte. Der
Handelsvertreter schickte ihn zurück zu Hermann Kafka, wo Frantisek verspätet
ankam. Er war zwei Tage krank, und sein Lehrherr mutete ihm nie wieder eine
derartige Arbeit zu. Auch als es darum ging, den Arbeitsplatz zu wechseln, legte
Hermann Kafka Frantisek keine Steine in den Weg. Im Gegenteil: Er schickte ihn
am letzten Arbeitstag sogar früher nach Hause und wünschte ihm viel Glück. Keine
Rede also davon, dass Hermann Kafka herrschsüchtig, oder "alles andere verschlingend"
gewesen wäre. Durch die Gegenüberstellung des Berichtes von Frantisek Basik
und den "Brief an den Vater" von Franz Kafka werden die Sublimierungen und literarischen
Konzeptionen des Sohnes von Hermann Kafka umso deutlicher. Als literarische
Leistungen sind beide Texte anzusehen. Sie mögen sogar als sich gegenseitig
ergänzende Formen der Beschäftigung mit einer "Vaterfigur" (einerseits der biologische
Vater, andererseits der Lehrherr als "Vater") gesehen werden. Jedenfalls stimmt
die Konfrontation mit den Schriften von Frantisek Basik sicher jeden Kafka-Liebhaber
glücklich, da er noch mehr über den Lebenslauf des Autors erfährt; diesmal auf
einem indirekten Weg durch die Stimme eines ehemaligen Lehrlings in der Galanteriewarenhandlung
von Hermann Kafka.
Eine wichtige Ergänzung folgt im Anschluss an die Erzählung von Frantisek Basik.
Alena Wagnerova weiß viele interessante Details
aus dem Leben von Hermann Kafka
und dessen Familie zu berichten. Hervorstechend dabei die Praxis des seit 1726
geltenden Familiantengesetzes, das nur dem ältesten Sohn einer jüdischen Familie
erlaubte, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Diese Geißel, welche ein
Erbe der k. u. k. Monarchie war, wurde erst 1849 aufgehoben. Wie wir wissen,
spielt die Familie für Juden eine besonders wichtige Rolle, und diese einzigartige
Verbindung buchstäblich zu durchbrechen, und nicht legitimieren zu können, muss
eine unglaubliche Demütigung gewesen sein. Es gab seinerzeit sehr viele Beziehungen,
die man als "unter der Kiepe" bezeichnete (es gingen aus diesen Beziehungen
auch Kinder hervor), und der Vater von Hermann Kafka (also der Großvater von
Franz) legalisierte seine Beziehung mit Franziska Platowski am 16. Juli 1849,
als das unselige Familiantengesetz aufgehoben wurde.
Hermann Kafka und dessen
Sohn mögen charakterlich relativ different gewesen sein. Zum Abschluss möchte
ich aber dem geneigten Leser eine wichtige Aussage von Alena Wagnerova nicht
vorenthalten, die gerade in Bezug auf die Tagebücher und Skizzen von Franz als
wesentlich, und im Kern eindeutig als wahr betrachtet werden
mag:
"Wie unterschiedlich der robuste Vater und der schlanke Sohn
auch waren, gab es zwischen ihnen nicht auch Ähnlichkeiten, in der Neigung zu
Narzissmus und Hypochondrie, der Konzentration auf sich selbst und die eigene
Befindlichkeit, gab es da nicht auch eine Parallele in der selbstbemitleidenden
Erzählung über die eigene bedrückende Kindheit, nur mit anderen Vorzeichen? Der
gefürchtete Vater als ein verinnerlichtes Vorbild des Sohnes? Ein kafkaeskes
Paradox?"
Um diese Frage beantworten zu können, mag sich der Leser dieser Zeilen nicht
nur mit dem "Brief an den Vater" oder dem Bericht von Frantisek Basik auseinandersetzen,
sondern die Schriften und Tagebücher des Prager Autors studieren, und auch vor
ausgezeichneter
Sekundärliteratur über Franz Kafka
nicht zurückschrecken. Jedenfalls ist die Geschichte des Lehrlings Basik eine
wesentliche und lebendig-anschaulich beschriebene Ergänzung für die Kafka-Forschung.
(Jürgen Heimlich; 05/2004)
Franz Kafka: "Brief an den
Vater"
Wagenbach, 2004. 160 Seiten.
ISBN 3-8031-3612-1.
ca. EUR
19,50.
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