Oliver Jahraus: "Kafka"

Leben, Schreiben, Machtapparate


War Kafka kafkaesk?

Der Autor (Jg. 1964) ist Professor für Neuere Deutsche Literatur und Medien an der LMU München - er möchte hier den Zusammenhang von Leben und Schreiben bei Kafka untersuchen unter dem besonderen Aspekt der "Machtapparate", die in Kafkas Texten immer wieder auftauchen. Es soll der Nachweis geführt werden, dass für Kafka das Leben nur eine Inszenierung für das Schreiben war, dass der Mythos, er habe unter seinem Vater gelitten und Pech mit seinen Verlobungen gehabt, von Kafka selbst in die Welt gesetzt worden war. Jahraus spielt in seiner Einleitung mit Kafkas Metapher der Zugänglichkeit (vgl. 'Das Schloß'), indem er auf die Schwierigkeit hinweist, sich als Kafka-Interpret durch vielerlei Kafka-Klischees hindurcharbeiten zu müssen. So wie es Kafkas Figuren immer wieder mit einer Machtinstanz zu tun haben bzw. mit dem Topos der "versuchten Annäherung", so sieht sich auch der konventionelle Interpret eigentlich in der Situation, Kafka letztendlich "nicht fassen zu können."

Für sein Vorhaben, neue Zugänge zu Kafka zu suchen und "blinde Flecken älterer Zugangsweisen aufzudecken bzw. sie zu umgehen", hat Jahraus ein schlüssiges Argument: "Antizipierend ironisiert Kafka nicht nur die spätere Interpretationspraxis, sondern liefert für sie auch noch ein Erklärungsmodell. Genau aus diesem Paradoxon speist sich auch die Energie für das Perpetuum mobile, immer neue Zugänge zu Kafka zu suchen und auszuwählen" (zit. Einleitung). Mithin erscheinen Kafkas Texte als ein Paradigma für Literatur, welche zu Interpretationen provoziert, indem sie diese verweigert. Und so interpretiert Kafka die Leser, die versuchen, ihn zu interpretieren! Vielleicht die Schlüsselstelle hierfür findet sich im 9. Kapitel vom 'Prozeß', als der Geistliche für K. etliche Varianten der Erklärung für die Parabel 'Vor dem Gesetz' quasi Revue passieren lässt. Unter diesem Aspekt betrachtet erscheint eine Formulierung Kafkas in diesem Kapitel geradezu hämisch: "Aus alledem schließt man, daß er über das Aussehen und die Bedeutung des Innern nichts weiß und sich darüber in Täuschung befindet." Dann wäre das im Sinne von Jahraus womöglich alles nur Selbstironie Kafkas und Verspottung der Opfer und Versager - auch der Interpreten?!

Jahraus möchte eben schon Kafka "positiv" interpretieren: sein Werk als "paradigmatische" Literatur verstehen, die "besondere Zugänge teils erzwingt, teils ermöglicht." Und so fordert uns der Autor auf, traditionelle Vorstellungen zu Kafka aufzugeben und sich auf ein Konzept einzulassen, welches Zugänge zu Kafka eben nicht sperrt, sondern öffnet. Spektakulär ist schon der Einstieg mit der These, dass Kafkas Werk nicht "kafkaesk" sei: "Weder der Autor und seine Biografie noch sein Werk sind kafkaesk"! Das muss man sich erst einmal zu sagen trauen. Gegen das geballte Germanistenklischee anzuargumentieren. Jahraus versucht zu beweisen, dass Kafka weder vom Vater noch von der Bürokratie unterdrückt wurde und auch die angebliche Erfolglosigkeit bei Frauen und im Beruf in der tradierten Analyseform nicht stimmt.

Kafka habe zwar einerseits durchaus gelitten, andererseits habe er die Auseinandersetzung gebraucht, und der Kampf sei eine zentrale Metapher seines Werks. Jahraus bestreitet das "Kafkaeske" bei Kafka - wir seien einer germanistischen Masche aufgesessen. Kafka selbst spricht von seiner "Koncentration auf das Schreiben", welches "die ergiebigste Richtung meines Wesens" sei. Kafka habe sich selbst stilisiert, gerade auch sein 'Brief an den Vater' zeige den Prozess des "Selbstentwurfs in der Dialektik ... von biografischer Vernichtung und literarischer Produktion." Er sieht sich selbst nicht nur als Literat, sondern als Literatur: "Da ich nichts anderes bin als Litteratur und nichts anderes sein kann und will."

Jahraus liefert etliche Interpretationsansätze, in denen er die biografische Herangehensweise anspricht, aber eigentlich vermeiden möchte. Interessant ist, dass die Figuren Kafkas selbst schon an einer Interpretation ihrer selbst und des Geschehens arbeiten. Dabei enthält die Parabel bei Kafka ein "Gleichnis, dem nichts gleicht." Die Textkonstellationen sind geprägt von Unmöglichkeiten und Machtstrukturen, denen der Einzelne ausgeliefert zu sein scheint. Dabei stellt sich die Frage nach dem sozialen und existenziellen Sinn, woran Kafkas "Modellgeschichten" scheitern - das Widersprüchliche bleibt unaufgelöst - wie schon Camus festgestellt hatte, Kafka drücke "die Tragödie durch das Gewöhnliche, das Absurde durch das Logische" aus. Diese Spannungsfelder machen aber gerade eine Kafka-Lektüre interessant - und Jahraus hat uns neuerlich dazu motiviert.

(KS; 10/2006)


Oliver Jahraus: "Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate"
Reclam, 2006. 483 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen