Peter-André Alt: "Franz Kafka"

Der ewige Sohn


Franz Kafka als blinder Wille zu ewiger Jugendlichkeit steht im Fokus der Biografie von Peter-André Alt. Und in der Tat, der am 3. Juli 1883 in Prag zur Welt gekommene und am 3. Juni 1924 in Kierling bei Wien verstorbene deutschsprachige Schriftsteller jüdischer Herkunft blieb sein Lebtag lang im Status eines - freilich längst ausgewachsenen - Sohnes verharrend, ohne eigene Familie, noch beglückt durch die Ehe mit einem trauten Weib, bar aller Ehren einer bürgerlichen Existenz. Er schuf sich kaum etwas zum Vermögen, stieg nicht mit rührigem Eifer die Karriereleiter empor, kurzum, zeigte wenig bis keine Ambition, jemals mehr aus sich zu machen, als eine Sohnschaft konstituiert. Seinen Wohnsitz hatte er bis zuletzt bei den Eltern.

Womit allerdings noch nichts Außerordentliches über die ohnehin vertraute Figur eines oftmals widersprüchlichen Sonderlings besagt ist, den die Routine bürgerlicher Existenzbesorgung anödet und der darin für sich nicht das geringste Motiv findet, es den Anderen gleich zu tun. Alt kann nun also kaum einen Kafka hervorzaubern, der uns nicht sowieso schon bekannt wäre. Er tut es nur sehr gewissenhaft, über fulminante rund 700 Seiten sehr detailgenau, womit er zumindest eine Fülle allfällig noch unbekannter Informationen zu Kafkas nicht immer nur gewinnendem Charakter liefert (bspw. Kafkas gehässige Urteile über zeitgenössische Lyrik) und, worin vielleicht ebenfalls noch keine neue Perspektive begründet ist, aber immerhin ein Wille zum Perspektivischen gar wohl schon, dezidiert in der Betrachtungsweise des Literaturwissenschafters, welcher Peter-André Alt nun einmal ist. Aus tiefster Empfindung Nicht-vollendet-sein-Wollen ist in Kafkas Leben das zentrale Motiv. Und wie sollte es dann viel anders sein, als dass solcherart auch der Geist, aus dem sein Schrifttum geboren ward, charakteristisch für diese Daseinsbefindlichkeit ist. Ergo sich das besondere Gepräge seiner Poesie Gestalt gibt in der Gebärde ewiger Sohnschaft.

Wenn Peter-André Alt in fast schon schwelgerischer Manier des Kafkas seltsame Eigenartigkeit vor dem Leser ausbreitet, enthält er sich als Meister der Sachlichkeit tunlichst eines jeglichen Werturteils, welches zwar allfällig hochlöblich oder verletzend sein könnte, doch angesichts jener Gemütssperrigkeiten niemals letztgültig gerecht, aber es schwingt in den Zeilen eine stille Sympathie mit, die vielleicht nicht gewollt, sondern eingeschlichen ist, einem feinfühligen Leser allerdings auffallen wird. Zu höchster Intensität gelangt dies, so die bescheidene - zugegeben höchst subjektive - Meinung des Rezensenten, wenn Alt von dem förmlichen Heiratsantrag des Kafka an seine Schrift-Geliebte Felice Bauer berichtet, wobei die Diktion des brieflichen Textes in der unübersehbaren Hoffnung auf eine versagende Antwort nicht mit selbstdiffamierenden Bekenntnissen geizt. Ist doch gerade dem Intellektuellen der Ehestand alles Andere denn ein schöpferischer Quell. Wie Kafka die peinliche Sache biegt, ist eines wahrlich höllischen Gelächters wert.

Das Bild des einsiedlerisch verkrochenen, asketischen Franz Kafka kommt in Alts Biografie ein wenig ins Wanken, denn so sehr sich Kafka auch immer aus der Welt zurückzog und gegen allzu viel Zweisamkeit mit dem anderen Geschlecht verwehrte, so war er doch weder ein verschrobener Einzelgänger noch - was die holde Fraulichkeit betrifft - Kostverächter. Zumindest in jüngeren Jahren unternahm er mit Freunden gerne Reisen. Und der Bordellbesuch war dem jungen Prager ein lieber Zeitvertreib. Besuchte er eine andere Stadt, so war es ihm geradezu eine Verpflichtung, den Ort auch von seiner mehr frivolen Seite kennen zu lernen. Er liebte das Weib allerdings nicht so wie es war, sondern lediglich als literarische Projektionsfläche und als flüchtigen Zeitvertreib, einem innigeren Kontakt mit dem anderen Geschlecht dürfte seine nervöse Empfindsamkeit entgegengestanden sein, denn vor dem Obszönen in Gestalt weiblicher Genitalität ekelte ihm gehörig. Wie es ja überhaupt möglicherweise bei ihm eine Grundempfindung des Ekels war, das ihm ein jegliches Motiv, über die erstandene Sohnschaft hinaus zu wachsen, als absurd erscheinen ließ. Dies jedoch als ergänzende Deutung zu Alts Biografie.

Nebst der rein biografischen Aspekte birgt - wie schon angedeutet - Alts Kafka-Porträt einen wahrlich umfassenden und tiefgreifenden Blick auf das Werk des großen Schriftstellers. Es ist, bei aller sachlichen Strenge, die geradezu unbeherrschte Betrachtung eines einzigartigen literarischen Schaffens, dessen fragmentarische Genügsamkeit bei Alt lustvoll zur voyeuristischen Vorführung gelangt. Kafkas Schriften sind bekanntlich in einigen Fällen ("Amerika", "Schloss") unvollendet geblieben. Es ist ein Schrifttum, das sich ob der deutlichen Empfindung von Absurditäten in einem stetigen Innehalten inszeniert (jede weitere Entfaltung scheint sinnlos) und allemal der zur Gestaltung kommenden düsteren Situationskomik wegen als wie dem Verwobensein mit nebulosen Mächten finsterer Natur in allen seinen charakteristischen Zügen sprichwörtlich kafkaesk ist. Nichts in Kafkas Leben sollte zur Letztvollendung gebracht sein, die ewige Sohnschaft war der bestimmende Kern seines Wesens, sein juveniler Gestus inspiriert sich in letzter Konsequenz literarisch zur klassischen Junggesellenliteratur.

Peter-André Alt zeichnet in seiner Lebensbetrachtung Kafkas ein jedenfalls markantes und überaus feinfühliges Literatenporträt, gewonnen aus einer gewissenhaften Erforschung historischer Fakten, gepaart mit einer sachkundigen Werkanalyse, welches nur insoweit mit dem Lebenslauf Kafkas kontrastiert, als dass dieses in Umfang und Tiefe des erfassten Gegenstands wohl kaum noch zu überbieten ist. Dem Leser präsentiert sich Alts Biografie als eine wesenhaft antikafkaeske Arbeit über den lebendigen Ursprung des Kafkaesken in Vita und Werk. Also als Erhellung und Erklärung des Dunklen und solcherart als quasi eine vollendete Betrachtung des lebensprogrammatisch Unvollendeten. Eine Biografie folglich, welche, bei Gewahrung des gewaltigen aufgearbeiteten Faktenmaterials und der sorgsam ausgeleuchtete Zeitumstände (warum verfiel Kafka - bei aller Distanz zum nur Allzumenschlichen - so nachhaltig dem Hurrapatriotismus der Weltkriegsjahre?), jedenfalls ein maßgeblicher Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Kafka-Forschung ist. Für Freunde Kafkas ein unbedingtes, weil in jeder Hinsicht erfreuliches Muss.

(Tasso; 05/2006)


Peter-André Alt: "Franz Kafka"
C.H. Beck, 2005. 762 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Peter-André Alt, geboren 1960, ist ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Im Jahr 2005 wurde er mit dem "Schillerpreis der Stadt Marbach" ausgezeichnet.

Weitere Werke des Autors:

"Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit"

Die Literatur besitzt seit der Antike ein eigenes Wissen über die Träume des Menschen. Ihre Traum-Geschichten erzählen von teuflischen Versuchungen und göttlicher Offenbarung, von Angst und Begehren, Schrecken und Lust, von den Labyrinthen der Erinnerung und dem Paradies der Wünsche. In grotesken Bildern, fantastischen Tableaus und visionären Inszenierungen vergegenwärtigt die Poesie die Nachtreisen der Imagination, die der Mensch unternimmt, wenn seine Vernunft schläft. Zugleich aber offenbaren die Träume der Literatur tiefe Einblicke in den historischen Wandel, dem das Verständnis von Seele, Geist und Körper des Individuums unterliegt. Das bestimmt sie zu einem maßgeblichen Element unseres kulturellen Gedächtnisses und zum Gegenstand der wissenschaftlichen Neugierde, welche die Befragung dieses Gedächtnisses leitet.
Peter-André Alt erschließt die Geschichte des literarischen Traums von der Renaissance bis zur Moderne. Sein Buch rekonstruiert die unterschiedlichen Theorien des Traums, denen man in Medizin, Philosophie, Anthropologie, Erfahrungsseelenkunde und Psychoanalyse begegnen kann; es durchleuchtet die faszinierenden Techniken und Strategien, mit deren Hilfe sich die Literatur der Neuzeit diese Theorien aneignet, und demonstriert die geheimnisvollen Zusammenhänge zwischen der imaginären Welt des Traums und dem Reich der Fiktion. Damit leistet es einen wegweisenden Beitrag zum Verständnis einer literarischen Kultur des Wissens vom Menschen, die sich in den poetischen Bildern seiner Träume exemplarisch abzeichnet und verwirklicht. (C.H. Beck)
Buch bei amazon.de bestellen

"Schiller. Leben - Werk - Zeit. Eine Biografie. Zwei Bände"
(C.H. Beck)
Bücher bei amazon.de bestellen

Und von Kafka:

"Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit."
Franz Kafka lernt »die Berlinerin« Felice Bauer im August 1912 an einem Abend im Hause Max Brods kennen. Doch erst im September setzt jene Briefflut von Prag nach Berlin ein, deren Ton sich dann sehr schnell von »Sehr geehrtes Fräulein« über »Liebstes Fräulein« zu »Liebste« steigert. Tägliche Briefe, längere Pausen und wieder leidenschaftliche, seitenlange Beschwörungen beleuchten diese Beziehung, die zweimalige Verlobung, die Vermittlungsversuche Max Brods und Grete Blochs, einer Freundin Felicens; die Bindung löst sich erst 1917 mit dem Ausbruch von Kafkas Tuberkulose. Diese Briefe sind mehr als nur ein Dokument einer »privaten« Leidenschaft. Hier wird von neuem sichtbar, wie sich für Kafka Leben und Werk durchdringen: Felice Bauer leiht den Heldinnen seiner Werke - der Frieda Brandenfeld, dem Fräulein Bürstner bis hin zur Frieda des Schloßromans - nicht nur die Initialen ihres Namens. - Und die Verbindung scheitert nicht an einer Rivalin, sondern an der Literatur: Die Frage, ob er in einer Ehe mit ihr nicht seinem eigentlichen Beruf untreu werden müsse, sie mit dem Schreiben betrügen werde, beherrscht diese Briefe Kafkas. (Fischer)
Buch bei amazon.de bestellen

Und noch einmal über Kafka:

Michael Kumpfmüller: "Die Herrlichkeit des Lebens"
Überlebensgroß ist der Mythos Franz Kafka, dessen Nachruhm als Schriftsteller scheinbar mit einem weithin unglücklichen Leben erkauft wurde.
Doch nun wirft Michael Kumpfmüller ein helles, fast heiteres Licht auf den berühmten Dichter und zeichnet liebevoll und diskret einen Menschen, der in seinem letzten Jahr die große Liebe findet und sein Leben in die Hand nimmt, bevor es dafür zu spät ist.
Im Sommer 1923 lernt der tuberkulosekranke Franz Kafka, als Dichter nur Eingeweihten bekannt, in einem Ostseebad die 25-jährige Köchin Dora Diamant kennen. Und innerhalb weniger Wochen tut er, was er nicht für möglich gehalten hat: Er entscheidet sich für das Zusammenleben mit einer Frau, teilt Tisch und Bett mit Dora. In Berlin wagt er mit ihr das gemeinsame Leben, mitten in der Hyperinflation der Weimarer Republik. Den täglich kletternden Preisen, den wechselnden Untermietquartieren, den argwöhnischen Eltern zum Trotz: Bis zu seinem Tod im Juni 1924 werden sich Franz Kafka und Dora Diamant, von wenigen Tagen abgesehen, nicht mehr trennen.
Aus dieser wahren Geschichte macht Michael Kumpfmüller einen feinsinnigen, behutsamen und kenntnisreichen Liebesroman. Kafkas Tagebücher, seine Briefe und letzten Texte kennt er genau und webt sie zart in die Erzählung ein. Aber ebenso sehr widmet er sich Doras Sicht, dem Blick der verliebten jungen Frau auf ihren rätselhaften, sterbenden Mann. Und so gelingt Kumpfmüller eine tief anrührende Parabel über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod.
Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als Schriftsteller in Berlin. Im Jahr 2000 debütierte er mit dem viel diskutierten Ost-West-Roman "Hampels Fluchten". 2003 folgte das zweite Buch "Durst" nach einem wahren Kriminalfall, 2008 der Gesellschaftsroman "Nachricht an alle", der mit dem "Alfred-Döblin-Preis" ausgezeichnet wurde. (Kiepenheuer & Witsch)
Buch bei amazon.de bestellen