Ismail Kadare: "Spiritus"
Neue Ohren für den Diktator!
"Zwar sehnte sich diese ganze Welt nach Vergessen, doch in der Stadt B.
war das Verlangen besonders dringend, das spürte man. Wir kamen uns vor, wie
die Unglücksboten, die unerwünschte
Erinnerungen weckten." (Seite 20)
Bekanntlich haben blinde Menschen einen schärferen Gehörsinn. Sie kompensieren
die Sehschwäche durch die Fähigkeiten eines anderen Organs.
Auch der albanische Diktator, der in Ismail Kadares Roman namentlich nie genannt
wird, leidet unter zunehmender Schwachsichtigkeit; er verlässt sich aber nicht
auf seine persönlichen Organe, sondern lässt die Organe des Geheimdienstes im
ganzen Land chinesische Abhörgeräte, genannt die "Prinzessinnen",
installieren.
Den Rahmen des Romans bildet die Abhandlung "Das Chaos" über die
Paranoia der Diktatur, den Umgang mit Vermutungen, die sich rasch in
Verfolgungen wandeln, und
Gerüchten, von denen nicht immer sicher ist, wer sie
in die Welt gesetzt hat. Unvollständige
Dossiers, Zeugenaussagen von
"Vergesslichen", Mutmaßungen kreisen um die widersprüchlichen Themen
Diktatur und Wahrheit.
Die Kernerzählung handelt vom Leben Shpend Gurazius, eines jungen Mannes im
kommunistischen Albanien, von Liebe und persönlicher Solidarität, von der
Tristesse des Alltags und der Undurchsichtigkeit der Politik. Seine Teilnahme an
spiritistischen Sitzungen bringt ihn und sein Umfeld - durch die "neuen
Ohren" des Diktators - schließlich ins Visier des Geheimdienstes.
Ismail Kadare, dem nahezu einzigen international bekannten albanischen Autor,
ist mit der Kombination beider Romanteile, dem eher theoretischen und unpersönlichen
Rahmen und der spannenden lebendigen Erzählung über Shpend Guraziu wie schon
in seinem letzten Roman "Der
Nachfolger" gelungen, worum sich Legionen von Politikwissenschaftlern
bisher vergeblich bemühten: die Darstellung der Unbegreiflichkeit und der
brutalen Irrationalität einer Diktatur. Es ist dies ein Buch über das Hören,
das hoffentlich bald auch als Hörbuch zu haben ist.
(Wolfgang Moser; 10/2007)
Ismail
Kadare: "Spiritus"
Aus dem Albanischen von Joachim Röhm.
Ammann Verlag, 2007. 300 Seiten.
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