Alexander Kabakow: "Moskauer Märchen"
Märchen
sind grausam, vor allem die russischen
Was hat "Schneewittchen" mit Lenin und was "Der fliegende Teppich" mit
russischen Abfangjägern zu tun? Die einen sind beliebte
Kindermärchen, die anderen tangieren tendenziell Historie und
Politik des ehemaligen Vielvölkerstaates. Bringt man
allerdings Aleksander Kabakow, den russischen Schriftsteller, ins
Spiel, vereinen sich diese Kontroversen in ein und derselben Geschichte.
"Moskauer Märchen" heißt sein Erzählband,
in dem er authentische Begebenheiten, die alles
Andere als märchenhaft, nämlich eher erschreckend und
diabolisch sind, mythologisch verwebt. Seine "Märchen"
spiegeln das heutige Leben in Russland wider.
Bei Aleksander Kabakow geht "Rotkäppchen" nicht mehr mit einem
liebevoll zusammengestellten Korb voller Leckereien zur
Großmutter, sondern hier besucht eine aufstrebende
Bahnwärterin eine betagte Bekannte, um deren Wohnung zu
"erben". Da entsteigt nach dem erlösenden Kuss keineswegs
Schneewittchen
seinem Glassarg, sondern ein alter
Militär im Ruhestand erweckt Lenin auf orale Art zum Leben.
Und Wassilissa, die Wunderschöne, ist bei Kabakow auch nur ein
intrigantes, leichtes Mädchen, das seinen Körper
für Wohlstand verkauft und dem Ende der Jugend im Wodka-Rausch
nachtrauert.
Tatsächlich begegnen dem Leser bekannte Märchen und
mythologische Geschichten: von Rotkäppchen bis
zum
Bau des Babylonischen
Turms, vom Froschkönig bis zum fliegenden Teppich,
vom Flug des
Ikarus bis hin zu
Prometheus,
der einem kleinen aufrührerischen, "apfelsinenfarbig"
gekleideten Volk das Feuer bringt, als die Region wegen ihres
aufmüpfigen Verhaltens kurzerhand vom Stromnetz genommen
wurde. Und wenn einer meint, man müsse nur die glitschige Haut
der in einen Laubfrosch verwandelten grünen Zarentochter
küssen, und schon könnte man mit ihr den Thron
besteigen, tja, der landet gleich in der geschlossenen Anstalt, denn
niemand wird heutzutage solch eine Philosophie verstehen.
Aleksander Kabakow hat die guten alten Märchen und Mythen aus
aller Welt umgeschrieben. Er hat sie modernisiert, ihnen eine ganz
eigene Tonart verpasst und sie nach Moskau verlegt. Doch das Gute siegt
hier kaum noch über das Böse.
Erzähler ist der Autor selbst. Er berichtet dem Leser von
Personen auf ihrem Karriereweg vom ehemaligen
Komsomol-Sekretär zum Millionär, er spricht
über Korruption und ausgeprägten Antisemitismus im
kommunistischen Russland. Alle seine Geschichten offenbaren eine
äußerst präzise Beobachtungsgabe, obwohl er
nach seinen "märchenhaften" Protagonisten nie lange suchen
musste, erzählte der Autor in einem Interview. Es sind
Menschen, von denen er in seiner Heimat tagtäglich umgeben
ist, und auch die Handlungen sind der Realität entnommen.
Mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie unterlegt
berichtet Kabakow mit sarkastischer Leichtigkeit über grausame
Kindheitserlebnisse, Alkoholismus, Armut, Brutalität und spart
auch weder die
Kriegsereignisse
in Tschetschenien noch das leichte
Leben der neuen, geltungsbedürftigen russischen "Elite" aus.
Nicht nur Dostojewski,
sondern auch Aleksander Kabakow schreibt
über die Russen Sachen (...), die lieber kein Mensch
wissen sollte".
Herausgekommen ist eine Enzyklopädie des modernen russischen
Lebens, mit all seinen typischen Beamten, skrupellosen
Geschäftsleuten, Ganoven, leichten Mädchen,
Politikern und anderen zweifelhaften, aber sehr gegenwärtigen
Persönlichkeiten: auf der einen Seite sehr realistisch, auf
der anderen stilistisch schrill überzeichnet und mit einer zum
Teil schwermütigen Intonation. Diese Kontroverse und die
großartige Kreuzung des fantastischen Genres mit der brutalen
Realität seines Landes offerieren einen
schaurig-schönen, unterhaltsamen, politisch brisanten und
kritischen Streifzug durch 50 Jahre russische Geschichte.
Alle zwölf Geschichten und ihre "Helden" sind untereinander
vielschichtig verwoben und miteinander verknüpft.
Vergangenheit und Gegenwart fließen ständig
ineinander. Durch das permanente Überschreiten der Grenze
zwischen Metapher und Realität werden beim Leser literarische
Bilder und Visionen von beängstigender Realität und
archetypischer Zeitlosigkeit erzeugt.
Und um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage
zurückzukommen, was die mythischen Gestalten mit dem
russischen Alltag gemein haben, kann als mögliche Antwort der
Erzähler in der Geschichte "Rotkäppi und der
Grauwolf" herangezogen werden: "In den Märchen hat
das Gute (...) immer Fäuste, und zwar eisenharte, von denen
das Böse nur träumen kann. Märchen sind
allesamt grausam. Allerdings ist das Leben bis jetzt auch nicht besser",
zumindest das in Russland nicht. Ein entscheidender Unterschied ist
dennoch zu verzeichnen: die einstmals bekannten,
liebenswert-hinreißenden Figuren entfalten sich in den
"Moskauer Märchen" zu tragischen "menschlichen
Komödien", die eher traurig aus dem Text herausschauen.
Den immer mit einem Schuss Ironie unterlegten russischen Originaltext
hat Hannelore Umbreit prägnant und imposant ins Deutsche
übertragen.
(Heike Geilen; 10/2007)
Alexander
Kabakow: "Moskauer Märchen"
Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit.
Verlagshaus Pereprava, 2007. 340 Seiten.
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Alexander Kabakow wurde 1943 in Sibirien geboren. Nachdem er das
Studium der Mathematik an der Universität absolviert hatte,
arbeitete er fünf Jahre lang als Ingenieur in einem
Projektbüro. Seit 1972 ist Kabakow Journalist. In den Jahren
der Perestrojka war er stellvertretender Chefredakteur der "Moskovskie
Novosti", später u.a. als Exklusivkorrespondent und
Abteilungsleiter im Verlagshaus "Kommersant" und Kommentator der
"Stolichnaja vechernaja gazeta" tätig.
In den 1980er Jahren veröffentlichte er humoristische
Erzählungen und erhielt dafür mehrere
Literaturpreise. Seine antiutopische Novelle "Kein Zurück"
wurde in alle europäischen Sprachen übersetzt und
auch in China, Japan und den USA veröffentlicht. Auf Deutsch
ist weiters u. a. "Schlag auf Schlag" publiziert worden.
1999 erhielt Kabakow den Preis "Die besten Federn Russlands" vom
Russischen Presseverband. Für den Zyklus "Moskauer
Märchen" wurde Kabakow mit dem Preis "Prosa des Jahres",
vergeben von einer Jury aus Verlegern und Journalisten auf der Moskauer
Buchmesse 2005, ausgezeichnet.
Kabakow ist weder der KPSS, noch irgendeiner anderen Partei
beigetreten. Auch die Mitgliedschaft in der Schriftstellervereinigung
und im PEN-Klub lehnte er ab.
Leseprobe:
Das
Babylon-Projekt
Irgendeine Präfektur ersann die Errichtung eines Hauses in der
Petrow-Straße, Flurstück Nr. 3. Alles normal:
Punktbebauung, monolithisch, ohne Innenausbau, Preis pro Quadratmeter:
1250 VE, also Verrechnungseinheiten, freie Grundrissaufteilung,
Tiefgarage mit einer begrenzten Anzahl von Stellplätzen
für jeweils 12 000 VE, großzügige Lobbys,
anständige Nachbarn, Rund-um-die-Uhr-Bewachung des
angrenzenden Geländes. Zeichnungen, die das elitäre
Wohnhaus vor einem Wolkenhimmel zeigten, wurden massenhaft in
Reklamebeilagen und Illustrierten platziert. Außerdem
erschienen auf den Straßen etliche Spruchbänder mit
der - bei näherer Betrachtung deprimierenden - Aufschrift
"Werden auch sie immobil!", bei der natürlich entgegen den
guten alten Orthografieregeln das "s" klein geschrieben war, so als
handele es sich nicht um eine persönliche Anrede. Radiosender
flöteten eine Kontakttelefonnummer, die der besseren
Einprägsamkeit halber mit drei Sechsen begann. Kurzum, die
Sache kam in Fahrt.
Aber wie denn in Fahrt? Wo doch die zukünftigen Wohnungen noch
auf unterschiedlicher Höhe in der Luft hingen und vollkommen
unsichtbar waren, wo man noch nicht einmal begonnen hatte, die Baugrube
auszuheben in dem verdichteten Sand, mit dem hier irgendwann einmal das
Gelände aufgefüllt worden war.
Der Verkauf lief jedoch sofort gut an, obwohl es einige
Enttäuschungen gab, als die Käufer zur Kenntnis
nehmen mussten, dass VE nicht die üblichen US-Dollar meinte,
sondern Euro. Doch unter dem Druck der wild entschlossenen Schlange von
Interessenten waren die Vertreter der schnell wachsenden Mittelschicht
bereit einzulenken, als die Bevollmächtigten des Bauherrn
plausibel argumentierten, es könne sich gar nicht um Dollar
handeln, weil sonst eben USD, $ oder wenigstens "am. Doll." dagestanden
hätte. Und die Dollarbasis für die nämlichen
VE sei hoffnungslos veraltet auf Grund des ständig wachsenden
Erdölpreises, der Konsolidierung der Europäischen
Union und einer ganzen Reihe anderer internationaler Faktoren, von dem
endlich stabiler werdenden russischen Rubel ganz zu schweigen. Okay,
wenn es sein muss, dann eben Euro, diese fünfzehn Prozent mehr
ruinieren uns nicht, sagte sich die Mittelklasse und schleppte auf der
Stelle heran, was nach dem offiziellen Wechselkurs am Stichtag
für die entsprechenden Quadratmeter fällig war.
Natürlich bemühte man sich nicht selbst, sondern
ließ den Fahrer schleppen, wozu sollte sich die Mittelklasse
mit schweren Taschen abplagen?! Im Gegenzug erfolgte die
unverzügliche Aushändigung einer Bescheinigung
über den Erwerb von Wohneigentum im Umfang von
...Quadratmetern im ... Stockwerk des Hauses Nr. ... in der
Straße ... Und keinem einzigen Käufer kamen
angesichts der Luftigkeit des Kaufs und der sandigen Basis der ganzen
Unternehmung die sattsam bekannten Weisheiten der
Geschäftspraxis in den Sinn, weil die Mittelklasse glaubt, auf
diese uralten Idiome pfeifen zu können.
Was den Standort angeht, so war er eigentlich sehr günstig:
die Metro nicht weit, buchstäblich zehn Minuten mit dem
Linientaxi. Zwar brauchte keiner der Käufer diese Metro
wirklich, aber immerhin. Und die Anfahrt mit dem Auto - superbequem,
eine breite Straße mit je zwei Spuren, es fehlten nur noch
etwa fünfhundert Meter Asphaltierung bis zum Haus. Und erst
das viele Grün ringsum. Ganz besonders üppig,
geradezu wie im Dschungel, wucherte es dort, wo die frühere
Sandgrube lag, weil die später zu einer Müllhalde
umfunktioniert und dann mit einer Schicht Mutterboden abgedeckt worden
war, und jetzt hieß das Ganze "Grünanlage der
Opfer", denn den ehemaligen Friedhof hatte man auch gleich mit
umgepflügt. Und die Luft! So eine saubere Luft gab es
nirgendwo in der Stadt, aus den Wohnungen ab dem vierzehnten Stock war
sogar der Fluss zu sehen! Selbst den Stadtteil Unterbrjuchanowo, der
hinter dem Fluss lag, würde man bei gutem Wetter sehen
können, mitsamt seiner Gewerbegebiete und Industrieanlagen, so
durchsichtig war die Luft. Und erst die Infrastruktur! Nur einen
Katzensprung entfernt, gleich hinter der Ring-Autobahn, gab es einen
Kaufhauskomplex, neben der Metro noch einen, in Brjuchanowo einen
dritten, und in jedem ein Dolby-Stereo-Kino, ein japanisches Restaurant
mit chinesischer Küche, eine Bowling Bar sowie ein Fitness
Center, dazu unweit der Metrostation eine Klinik, die Liposuktionen
vornahm, man brauchte nirgendwohin zu fahren, konnte einfach
hineinspazieren und sich ruckzuck verschönern lassen ... Nur
fehlte leider, leider ein Casino, das war natürlich ein
Nachteil. Zwar gab es eines in Brjuchanowo, aber das wurde nur von
Einheimischen frequentiert. Andererseits ging man ja nicht jeden Tag
ins Casino, und zwei- oder dreimal wöchentlich konnte man
schließlich in die Innenstadt fahren.
Was dagegen die eigentliche Adresse des Hauses anging, so
ließ sie in der Tat einiges zu wünschen
übrig. Lag darin doch eine das Gehör wie den Verstand
irritierende Unbestimmtheit. Petrow-Straße, schön
und gut, aber was denn für ein Petrow? Unter der alten Macht
galt die Lesart, dieser Petrow sei ein Bürgerkriegsheld
gewesen, Armeekommandeur und Kavalleriestratege, natürlich auf
Seiten der Roten. Deshalb beschloss die neue Macht, kaum dass sie sich
jäh auf die Seite der historischen Gerechtigkeit geschlagen
hatte, der Petrow-Straße ihren historischen Namen
zurückzugeben, sie wieder so zu nennen wie zur Zeit der noch
älteren Macht, als nämlich Armeekommandeur Petrow
noch keinen revolutionären Drang in sich verspürt
hatte, sondern ein einfacher Kosakenrittmeister gewesen war. Allerdings
mit überdurchschnittlichem Geschick im Voltigieren und im
"Rutenspalten", jenem urtümlichen Pferdesport, bei dem der
Reiter
im gestreckten Galopp die aufgestellten Attrappen so sauber mit
dem Säbel zerhaut, dass sie nicht einmal auseinander fallen.
Bald stießen die Mitglieder der Umbenennungskommission auf
ein prinzipielles Hindernis. Es stellte sich nämlich heraus,
dass es seinerzeit an dieser Stelle überhaupt keine
Straße gab. Die einzige erhaltene Fotografie zeigte vielmehr,
dass hier in dokumentierter Unordnung die schiefen Holzhütten
des Dorfes Oberbrjuchanowo gestanden hatten. Seine Bewohner waren
Fuhrleute, verkauften in den nahe gelegenen Vororten Eier und
Ziegenmilch und brachten die meiste Zeit damit zu, sich - so lange das
Eis des Flusses auch nur halbwegs trug - mit den Leuten aus
Unterbrjuchanowo erbitterte Schlägereien zu liefern. Oft,
besonders, wenn Ostern spät fiel, geschah am Ende dieses
Getümmels, was schon in der Schlacht auf dem Peipussee 1242
geschehen war: Das Eis brach unter den Raufenden. Doch während
Fürst Alexander Newski seinerzeit dank dieses Umstands die
deutschen Ritter vernichtend schlagen konnte, errang im Bruderkrieg der
beiden Brjuchanowos keine Seite den russischen Sieg.
Wie bereits flüchtig erwähnt, mauserte sich
Unterbrjuchanowo in der Folgezeit zu einem Trabantenstädtchen
mit zahlreichen fünf- und neungeschossigen
Wohnhäusern stereotyper Bauart und spartanischer Ausstattung,
aber auch mit Ladehöfen und Kühltürmen. Von
Oberbrjuchanowo blieb überhaupt nichts übrig
außer der Sandgrube und dem Friedhof für die Opfer
verschiedenster Ereignisse, und später dann wurde dort, wo
Grube und Friedhof gewesen waren, besagte Straße angelegt und
nach dem so gut wie unbekannten Bürgerkriegshelden Petrow
benannt. Ihre wenigen, einzeln stehenden Hochhäuser glichen
einem lückenhaften Gebiss vor der stomatologischen
Auffüllung.
Aber das nur nebenbei, die Hauptsache ist vielmehr, dass es keinen
Namen gab, den man dieser Petrow-Straße hätte
zurückgeben können. Ein freidenkerischer
Heimatkundler, der als Vertreter der Öffentlichkeit in der
toponymischen Kommission saß, kam auf die Idee, dem "Petrow"
einfach noch ein "Wodkin" anzuhängen, was jedoch stante pede
abgelehnt wurde, da der Maler Kusma Petrow-Wodkin in keinerlei
Beziehung zu der betreffenden Straße stand und der Appendix
zudem bei den einfachen Bürgern unerwünschte
Assoziationen auslösen könnte. Tatsächlich,
der Umbenennungsvorschlag fand zwar kein Gehör, ließ
aber neben der Metrostation zwei konkurrierende Etablissements
entstehen - die Tagesbar "Petrow-Wodkin" und die Schaschlik-Stube
"Rotes Ross" mit ihren Spielautomaten. Als beide später im
Zuge der Bekämpfung nicht genehmigter Handels- und
Gewerbeeinrichtungen abgerissen wurden, blieben dort, wo die
gläsernen Pavillons mit den Eisenkanten gestanden hatten, zwei
schmutzige Quadrate rohen Erdbodens zurück. Und ein paar
Monate darauf wuchs hier das Handelszentrum Petrov City empor, wieder
mit viel Glas, aber die Ecken und Kanten bereits in kapitales Aluminium
gefasst.
In jenen legendären Zeiten des ideologischen Wandels fand sich
ein weiterer Vertreter der Öffentlichkeit, der, obzwar nicht
Mitglied der Umbenennungskommission, direkt an den zuständigen
Amtsleiter herantrat und in einem Schreiben den Vorschlag
unterbreitete, die Straße einfach Geburtsstraße zu
nennen, zu Ehren der Kirche Mariä Geburt, die gerade in
Windeseile und fast unbemerkt auf einer früher mit rostigem
Eisenmetallschrott übersäten
Ödfläche entstanden war. Der
Entscheidungsträger schien sich für den Vorschlag
erwärmen zu können, der Name klang gut, das mussten
selbst die wenigen verbliebenen
Atheisten einräumen. Es sollen
sogar schon Emailleschilder mit der Aufschrift
"Geburtsstraße" bestellt worden sein. Doch dann wurde nichts
aus der Sache. Das Warum entzieht sich jeder vernünftigen
Erklärung, es lässt sich - besonders, wenn man die
nachfolgenden Ereignisse bedenkt - nur eines vermuten: Gott hat es
nicht gewollt.
Die ganze Umbenennungsgeschichte endete damit, dass ein Mitglied der
Kommission (kurz vor deren Auflösung) ein erstaunliches
Sprachgefühl und einen wachen Erfindungsgeist offenbarte,
obwohl dieser Mann in dem geisteswissenschaftlichen Gremium quasi
artfremd war, denn er vertrat die Interessen der lokalen Emaille- und
Blechindustrie. "Genossen", erklärte der Blechmann und
verstummte für einen Augenblick, offenbar um Kraft zu sammeln
für die notwendige Korrektur, brachte aber das "meine Herren"
nicht über die Lippen und behalf sich mit einem "liebe
Freunde": "Liebe Freunde, wir brauchen gar nichts zu ändern.
Wer von uns erinnert sich nicht an Puschkins berühmtes Poem
'Poltawa', in dem er ein Hohelied auf Zar Peter singt? Die wunderbar
poetische Verszeile von den 'Vögeln aus Peters Nest' gibt uns
einen Gedanken ein: Wenn es 'Peters Nest' sein kann, warum dann nicht
'Peters Straße'? Zum einen ehren wir damit den
großen Zaren und knüpfen, so meine ich, das beinahe
gerissene Band der Geschichte Russlands wieder zusammen. Und wenn wir
zum anderen auch noch des großen Reformators gedenken, so
bedarf das nach meinem Dafürhalten erst recht keiner weiteren
Begründung. Wie seht ihr das, Genossen und Freunde?"
Was soll man da sagen? Man kann nur staunen, was für gebildete
und unorthodox denkende Menschen einem in Russland
buchstäblich auf Schritt und Tritt über den Weg
laufen, darunter auch in einer rein äußerlich so
unauffälligen Sphäre wie der Emaille- und
Blechindustrie. Das hatte er sauber hingekriegt, der schlaue Fuchs!
Eine grundlegende Umbenennung war nicht nötig, aber das
Schlitzohr konnte alle überzeugen, dass nun -
natürlich in seiner Fabrik zu fertigende - Blechschilder her
mussten, auf denen der neuen Sinngebung und dem Geist der russischen
Sprache gemäß statt "Petrow-Straße"
"Petersstraße" prangen würde. Ein halbes Jahr
später wurden die nagelneuen, noch kein bisschen abgeplatzten
Schilder tatsächlich an den Häusern angebracht.
Natürlich ging es nicht ohne eine ärgerliche
Kleinigkeit ab: In sämtlichen offiziellen Dokumenten, darunter
auch denen finanztechnischer Natur, schrieben alle nach wie vor
Petrow-Straße, und dabei blieb es dann auch. Aber wir wollen
nicht kleinlich sein, mit so etwas kann man leben, das historische
Gedächtnis des Volkes nimmt dadurch keinen Schaden.
Und noch ein Detail. Wie sich herausstellte, war der Blechhersteller
dann doch ein studierter, sogar ein promovierter Mann, besaß
einen Doktortitel - der Philologie oder der Geschichtswissenschaften,
am Ende vielleicht gar der
Philosophie.
Das ist ein Ding, was?! Der
überraschende Beginn der ökonomischen Reformen hatte
ihn zeitweilig im Blechgeschäft Zuflucht suchen lassen, doch
sobald sich das Leben normalisierte, stieg er blitzartig auf, machte
Karriere als Kunsthändler (moderne Kunst), Reklame-Fachmann
und politischer Berater. Allerdings ist er aus unserem Blickfeld
verschwunden und wird deshalb im Folgenden keine Rolle mehr spielen.
Um so mehr, als wir uns dringend wieder der Baustelle zuwenden
müssen. Jeder, der sich ihr im Auto näherte oder zu
Fuß von der Metrostation kam, sah bereits von weitem, noch
mit dem zähen, glitschigen Schlamm der letzten nicht
asphaltierten fünfhundert Meter kämpfend, eine
überdimensionale Tafel, die an dem akkuraten, aber
abgrundhässlichen Zaun aus Profilbetonplatten hing. Die
farbige Darstellung des zukünftigen Hauses unterschied sich
wesentlich von dem, was in den Zeitungen zu sehen gewesen war. Wenn wir
jetzt versuchen, den visuellen Eindruck in Worten zu beschreiben, sind
wir uns durchaus der prinzipiellen Unmöglichkeit bewusst, die
Formensprache einer Kunst in die einer anderen zu
überführen.
Vor allem überraschte die Form des Hauses: keiner der oben
spitz zulaufenden Bleistifte, an die sich die Städter bereits
gewöhnt hatten, sondern ein runder
Turm,
dessen breiter unterer Teil nach oben sachte schmaler wurde. Die
Außenmauern stießen in den dunkelblauen Himmel vor,
wo sie die Wolken auseinander trieben, allmählich in der
geballten Schwärze der oberen Luftschichten ihre Kontur
verloren und schließlich ganz verschwanden. Diese Mauern
waren ebenfalls dunkel, weder aus gelben oder wenigstens roten
Ziegelsteinen, noch mit einem leuchtenden Anstrich aus bleichfesten
finnischen Farben auf hochwertigem Putz. Einfach dunkler Stein. Auf
seinem schweren, amorphen Fundament, das der Künstler zur
Verdeutlichung der Dimensionen mit dem Gekräusel winziger
Waldungen sowie sattgrün hingeklecksten Feldern und Fluren
umgeben hatte, erhob sich das Haus als riesige Spirale. Auf der von
Etage zu Etage umlaufenden Galerie bewegten sich mikroskopisch kleine
Menschen, einige schauten nach unten, auf die Erde, die sie
zurückgelassen hatten, andere blickten mit in den Nacken
gelegtem Kopf hinauf, in den Himmel, der noch unerreichbar war.
Beim Anblick des Bildes bekam man richtig eine Gänsehaut, so
gigantisch ragte der Turm auf, so finster dräute der Himmel,
so unbehaust lag die Erde, so undurchdringlich dicht waren die
Wäldchen, so öde die Felder, so kläglich die
Menschen. Ach, die Menschen, was würde da auf sie zukommen?!
Seitlich neben dem Bauwerk prangte in purpurroter Schrift quer
über der Himmelsschwärze und dem Wolkendunkel ein
einziges Wort: BABYLON. Darunter stand die nämliche
Telefonnummer mit drei feuerfarbigen Sechsen. Und ganz unten fand sich
noch - in Schreibbuchstaben und tiefrot, wie mit einem blutenden Finger
hingeschmiert - ein Slogan. "Reiche
zum Himmel empor!", konnte man
lesen. Was für ein Kokolores da manchmal produziert wird,
bloß um der Reklame willen! Über die Folgen macht
sich dann keiner Gedanken.
Eines muss man dem Gemälde lassen: Es erregte allgemeine
Aufmerksamkeit, man konnte einfach nicht gleichgültig daran
vorübergehen oder vorbeifahren, viele notierten sich die
verführerische Telefonnummer oder versuchten sie im Kopf zu
behalten. Die Leute überlegten: Wohnraum wird immer teurer,
vielleicht wäre es gar keine schlechte Investition, sein Geld
in ein paar Quadratmeter zu stecken und sich in einem oder anderthalb
Jahren dort oben wiederzufinden, auf der Galerie, unter denen, die den
Himmel erreicht haben, unter den Kühnen und Stolzen, den
Erfolgreichen und Starken.
Hinter dem Bauzaun wälzte sich schwerfällig wie eine
Riesenechse in einem Hollywood-Film ein Abraumbagger hin und her, waren
Tadschiken bienenfleißig mit Ausschachtungsarbeiten
beschäftigt. Sie schippten gebeugt, bogen den Rücken
nur selten gerade und sahen von oben so winzig aus wie die gemalten
Menschen, die auf der ebenfalls gemalten Galerie in den Himmel stiegen.
Doch bei näherer Betrachtung erwiesen sich die Tiefbauarbeiter
als ganz normale Tadschiken - dunkelgesichtig, schmächtig,
mager. Sie waren erstaunlich sauber für ihre schwere,
schmutzige Arbeit und die Lebensumstände in dem ehemaligen
Pionier-Ferienlager, von wo aus sie jeden Tag in Kleinbussen mit
zugehängten Fenstern - wie Angehörige einer
Spezialeinheit der Schnellen Eingreiftruppen - zu ihrer
zwölfstündigen Schicht gekarrt wurden.
Neben den Tadschiken verlegten sehr stille, abgerissene moldawische
Brigaden Versorgungsleitungen, begannen hier und da bereits Teile des
Fundaments zu gießen. Solide ukrainische Monteure hantierten
mit japanischer Technik, ein Trupp von Armeniern, die ganz unter sich
blieben, asphaltierte ohne sonderliche Eile die
Zufahrtsstraße ... Und über der Baustelle hing,
niemals abschwellend, ein so dichtes Stimmengewirr, dass selbst der
Monsterbagger mit seinem höllischen Dröhnen und
Scheppern nicht gänzlich dagegen ankam, und immer wieder drang
durch diesen Heidenlärm - mit unterschiedlichem Akzent
gesprochen - ein höfliches "Arschloch" oder andere
unersetzliche Wörter aus jenem Alltagsvokabular, das uns alle
als Einziges noch eint in der angenehmen, lange währenden
Erinnerung an die unwiederbringlich verlorene Heimat Sowjetunion.
Mindestens ein Mal pro Woche glitt das Eisentor im Betonzaun zur Seite
und gab eine Lücke frei. Dann erschien zunächst ein
Wachmann in einem wattierten Wintertarnanzug, und kurz darauf rollten,
gewaltige Schlammlawinen aufspritzend und durch die tiefen
Schlaglöcher schaukelnd, zwei Automobile herein, wie man sie
selbst in Moskau nicht oft zu sehen bekommt: ein in diesem besonders
britischen Königsblau gehaltener Bentley und ein martialischer
Hummer H2, den man durch perlgraue Lackierung und den Einbau von
Ledersitzen an seine relativ zivile Verwendung angepasst hatte.
Die Wagenkolonne bedeutete, dass Iwan Eduardowitsch Dobroljubow, der
Direktor der OAG Babylon, in Begleitung seiner Bodyguards wieder einmal
zu einer Baustellenbesichtigung eingetroffen war. Dieser Herr
Dobroljubow mit seinen unermüdlichen geschäftlichen
Aktivitäten spielt die Hauptrolle in unserer Geschichte,
weshalb wir vorab ein paar Worte über ihn verlieren
müssen.
Seinen Familiennamen hatte Wanja nicht etwa geerbt von dem
großen Demokraten, Literaturkritiker und Publizisten Nikolai
Dobroljubow, dessen fransigen Kapitänsbart alle gebildeten
Leute in Russland vor Augen haben. Nein, Eduard Wilorowitsch
Dobroljubow, Wanjas Vater, war Offizier der Truppen des Inneren,
vormals bekannt unter der Bezeichnung Truppen des Ministeriums
für Staatssicherheit, in denen er kalendarisch
fünfundzwanzig, rententechnisch - da in diesen Organen einige
Jährchen doppelt zählen - sogar mehr als
dreißig Jahre lang Dienst getan hatte, zuletzt im Majorsrang
als Kommandant der Außenstelle eines Gefangenenlagers. Und
Wilor (gebildet aus den Anfangsbuchstaben von Wladimir Iljitsch Lenin +
Oktober-Revolution) Mefodijewitsch Dobroljubow wiederum stammte ab von
Mefodi Dobroljubow, einem Bauern aus dem Gouvernement Perm, der der
Partei der Bolschewisten beigetreten war, es schließlich zum
Sekretär des Exekutivkomitees eines Kreises gebracht hatte, im
Alter von 34 Jahren der Säuberungswelle des Jahres 1937 zum
Opfer gefallen und 1958 rehabilitiert worden war. Das Dorf, in dem
Nikolai Dobroljubow zur Welt kam (den Vornamen Wilor nahm er mit
Bedacht erst später an), wurde überhaupt nur von
Dobroljubows bewohnt.
Aber wir schweifen schon wieder ab zu solchen
Nebensächlichkeiten wie Namen, wo es doch viel Wesentlicheres
zu berichten gibt. Seine ordentliche Herkunft hinderte Iwan Dobroljubow
nicht daran, bereits in frühester Jugend (noch vor dem
Komsomol-Alter, also als Pionier) die persönliche Bereicherung
über alles zu stellen und auf die schiefe Bahn zu geraten. In
der Stadt Joschkar-Ola, wo sich die Familie nach der Entlassung des
Vaters aus dem aktiven Dienst niedergelassen hatte, erlangte Wanja bei
seinen Mitschülern und der Miliz schnell Berühmtheit,
weil er gewieft mit Kaugummi dealte. Wie er an das "Kaugi" kam, blieb
sein Geheimnis. Etwas älter geworden, mauserte sich Wanja
überraschend zum Komsomol-Aktivisten, wurde ehrenamtlicher
Instrukteur des Stadtkomitees der Jugendorganisation und stellte mit
viel Elan studentische Baubrigaden auf die Beine, obwohl er selbst
nicht lange Student gewesen war, ja nicht einmal als Soldat dienen
musste, weil das griechisch-römische Ringen, in dem er es
sogar zu Meisterehren brachte, seine Gesundheit allzu sehr
geschwächt hatte. Danach ... ja, danach kam mancherlei. Sogar
ein Jahr Bewährung in den Anfangszeiten der Perestroika, weil
Iwan den Beschlüssen der Partei ein wenig vorgegriffen und
seine private Makler- und Vermittlungskooperative "Junost" zu
groß aufgezogen hatte. Dann folgte die Übersiedlung
nach Moskau, die schwierige Zeit des Einstiegs in den Markt der
Computer, die der frischgebackene Unternehmer mehrere Male
eigenhändig in das gerade auf den Kurs der Modernisierung
eingeschwenkte Russland importierte: Ganz vorn im Laster, neben dem
Fahrer, die Kalaschnikow auf den Knien, spähte er angestrengt
in die Finsternis der wild-verwegenen polnischen Straßen ...
Ja, schwer war die Geburt des heutigen zivilisierten
Geschäftslebens im Lande. Nehmen wir nur diese OAG Babylon,
gegründet und ununterbrochen geleitet von besagtem Iwan
Dobroljubow. Heute ist das eine absolut offene Aktiengesellschaft, die
bekanntlich Elitewohnungen baut für gutbetuchte Moskauer,
deren Zahl nicht täglich, sondern stündlich
wächst. Die Gesellschaft arbeitet auf das Engste mit der
Stadtregierung zusammen, so dass nicht einmal der hirnloseste
Schutzgelderpresser auf die Idee käme, ein Unternehmen mit
einem so verlässlichen "Dach" angehen zu wollen. Iwan
Eduardowitsch Dobroljubow ist nicht nur bekannt als Präsident
der Aktiengesellschaft und Großunternehmer, sondern auch als
großzügiger Mäzen, der zahlreiche Projekte
im Bereich Kunst und Kultur unterstützt. So gründete
er beispielsweise die gemeinnützige Stiftung "Krassota", die
erhebliche Mittel bereitstellt, um die Hauptstadt mit neuen
Denkmälern zu schmücken. Ohne "Krassota"
gäbe es weder das bekannte dreihundert Meter hohe Denkmal
Iwans des Schrecklichen, dessen hochgereckter Knüttel seinen
Schatten über die Weiten des Komsomol-Prospekts wirft, noch
die vielfigurige Komposition "Der Sieg der russischen Flotte bei
Zusima", die sich aus den Wassern des Flusses Jausa erhebt, und erst
recht nicht die Büste
Alexander
Puschkins auf einer Säule, die selbst die
Petersburger Alexandersäule überragt (wie es sich der
Dichter wünschte) und endlich die moralisch absolut veraltete
und unsäglich von Taubendreck verschandelte alte Skulptur an
der Prachtstraße Twerskaja ersetzt hat.
Nun war die Zeit gekommen für die Erfüllung eines
lang gehegten Traums, den Iwan Dobroljubow bereits seit seiner Kindheit
in sich trug. Er wollte das höchste Haus der Welt bauen.
Damals, in Joschkar-Ola, hatte der kleine Wanja zufällig in
der Zeitschrift "Smena" gelesen, dass es in New York Häuser
gab, die die Menschen mit ihren einhundert und mehr Etagen
förmlich niederdrückten, und dass in dem
neokolonialen Stadtstaat Singapur und an anderen weit vom heimatlichen
Joschkar-Ola entfernten Orten der Welt sogar noch höhere
Gebäude errichtet wurden. Lange betrachtete er die ein wenig
unscharfen Fotos der Wolkenkratzer, konnte den Blick nicht
losreißen vom feinmaschigen Netz der Fenster und versuchte
sich vorzustellen, dass hinter jedem der winzigen Quadrate ein Zimmer
lag, vielleicht sogar ein großes, womöglich viel
größer als die achtzehn Quadratmeter ihrer Stube in
Joschkar-Ola, und in diesem Zimmer stand sehr wahrscheinlich gerade ein
Mensch am Fenster und schaute durch die Scheibe in die Leere des
Himmels ... Wanja kam der Gedanke, dass einen nichts bedrücken
konnte, wenn man im Himmel wohnte, er legte die Zeitschrift aus der
Hand, ging zum Fenster und schob die Tüllgardine beiseite. Von
der Höhe des dritten Stockwerks (und die Decken waren
ordentlich hoch, zwei Meter siebzig) fiel sein Blick hinaus in den
März: Im öden Hof grauer Schnee, durchquert von
kurzen Trampelpfaden zum Lebensmittelgeschäft und zur
Bushaltestelle, neben den Schuppen unzählige braune, an den
Rändern auseinander fließende Häufchen,
zurückgelassen von Menschen und Hunden, und fast kein Himmel.
Wanja presste das Gesicht gegen das kalte, feuchte Glas, das sofort
matt beschlug, verrenkte sich beinahe den Hals, um nach oben zu
schauen, und konnte doch nur ein kleines Fetzchen Himmel erhaschen, nur
einen schmalen grauen Streifen über dem Dach des
gegenüberliegenden Hauses, das ebenfalls vier Stockwerke und
zwei Aufgänge besaß und an dessen
Außenmauern entlang ein dickes Gasrohr über den
höckerigen Bürgersteig lief. Es war mit hellblauer
Ölfarbe gestrichen, und wo das Blau nicht gereicht hatte,
dunkelte Grün. Schnell trat Wanja vom Fenster zurück
und ging los, um sich seinen Geschäften zu widmen: dem Verkauf
von Kaugi in der Schulgarderobe.
Die Jahre vergingen. Gerade hatte Iwan Dobroljubow seine Frau Oksana,
die Söhne Mefodi und Nikolai sowie die alten Eltern zum
Winterurlaub in die österreichischen Alpen geschickt, denen
Oksana immer noch etwas abgewinnen konnte. Er langweilte sich, so
allein mit den Bediensteten in dem großen Haus.
Übrigens, man sieht dieses Haus ganz gut von der Abzweigung
aus, wo es zu den Hängen von Nikolina Gora hinaufgeht, viele
schauen hin, bestimmt haben auch Sie es bemerkt, so eine gelbe Villa,
im Stil eines russischen Gutshauses. Egal, weiter im Text. Ein paar
Querelen mit Krediten und die Notwendigkeit seiner
persönlichen Präsenz bei den Verhandlungen der
beteiligten Seiten hatten den bekannten Unternehmer daran gehindert,
sich der Familie anzuschließen. Tagsüber musste er
die Situation entschärfen, Frieden stiften,
Kampfhähne trennen. Abends vertrieb er sich die einsame Zeit
in irgendeinem annehmbaren Etablissement, wo man - ohne den
Leibwächtern allzu viel Mühe zu bereiten - ruhig
unter seinesgleichen sein, Billard spielen, ein gutes Bier - irisches
mochte Iwan in letzter Zeit am liebsten - trinken und sogar ordentlich
zu Abend essen konnte, so wie es sich gehört, mit einem guten
Wein, bei dessen Auswahl einen dieser, wie hieß er doch
gleich, ach ja: Sommelier taktvoll beriet.
So beehrte Iwan Dobroljubow auch den Club seines engen Freundes
Woloditschka Trofimer, der nicht nur ein populärer
Parlamentarier war, sondern auch als Stilikone der modernen Jugend
galt. Bei Woloditschka hatte sich an diesem Abend eine
prächtige Gesellschaft zusammengefunden. Am Nachbartisch
saß die stadtbekannte Schönheit Olessja Grunt, die
im letzten halben Jahr überall in Begleitung von Senja
Beloglinski (Mangangewinnung) auftauchte, es gab sogar Fotos der beiden
in einigen Zeitschriften. Etwas weiter entfernt hatte - man
höre und staune - Pjotr Pawlowitsch ("Westinvest") Platz
genommen und speiste diskret in Gesellschaft seiner Mitarbeiter. In
einer Ecke relaxte mit einer Zigarre im Mund Tima Bolkonski, der
berühmte Filmregisseur der neuen Generation ("Drugan" und
"Drugan kehrt zurück"), Produzent von Videoclips, politischer
Berater, Motorradfan und Sohn eines Großmeisters der
sowjetischen Kultur. Timas kahlgeschorener Schädel
glänzte mit seinen Ohrringen um die Wette, dunkel stach das
Spitzbärtchen hervor. Zu der Zeit, in der diese Geschichte
spielt, hatte Tima Moskau noch nicht verlassen, war noch nicht
verschwunden in die Republik Eire oder gar nach Quebec, war noch nicht
unter die Feueranbeter oder die
Zen-Buddhisten gegangen.
Ganz in Dobroljubows Nähe saß, vollkommen
unauffällig, einfach als Gleicher unter den Ersten, der
durchaus nicht unbekannte N. (Innenministerium, Finanzministerium,
wieder Innenministerium, Duma-Ausschuss für
Vergünstigungen und Privilegien). An diesem Abend war er noch
am Leben, und nichts deutete auf das bevorstehende Unheil hin. Auch
Ruslan, er hieß wohl Abstulchanow, aber alle nannten ihn
einfach Abstul, also, der war ebenfalls da, ein Freund hatte ihn und
Dobroljubow flüchtig miteinander bekannt gemacht, gut
möglich, dass sich nützliche
Geschäftskontakte ergeben konnten, vielleicht in Sachen
Beschaffung auswärtiger Arbeitskräfte, aber es sollte
nichts daraus werden, denn an diesem Abend hatte Abstul bereits zu viel
getrunken oder gekifft, und kurz darauf soll er umgekommen sein, wie
man hört. Was ja zu erwarten gewesen war.
Auch die zahlreichen weiteren Gäste kannte Dobroljubow
ausnahmslos.
Man saß da, aß und trank, plauderte angenehm.
Je weiter die Zeit auf Mitternacht zu rückte, je mehr sich
nicht nur Iwans - vom Sommelier empfohlene - Flasche Bordeaux, sondern
auch die Flaschen der Anderen leerten, desto allgemeiner wurde
naturgemäß die Unterhaltung. Schließlich
fanden sich alle an einem Tisch wieder, sogar Pjotr Pawlowitsch, jeder
goss sich ein Glas ein, und wie auf Kommando wurde es still, als Wanja
Dobroljubow ansetzte - zu einem Toast, oder zu einer Rede, jedenfalls
lauschten alle, auch Olessja Grunt wandte ihre wunderbaren, verlogenen
Augen nicht von ihm ab.
Ich, begann Iwan Eduardowitsch Dobroljubow, baue Häuser, und
jeder weiß, dass es in dieser Stadt keine besseren
Häuser gibt als meine. Ihr wohnt ja selbst alle darin, und
diejenigen, die noch keine Wohnung bei mir haben, wünschen
sich nichts mehr als möglichst schnell eine zu beziehen. Wo
habt ihr denn früher gehaust? Du, Tima, einmal ausgenommen,
ich weiß, du hast es auch früher schon gut gehabt in
Stalins Wohnwolkenkratzer in Kotelniki, aber der Rest? Chruschtschows
stinkende Fünfgeschosser mit den klitzekleinen genormten
Grundrissen, das war euer Zuhause, Baracken mit Holzheizung und einem
schiefen Plumpsklo ganz hinten im Hof, umgebaute
Obdachlosenunterkünfte ohne Telefon (an so etwas war gar nicht
zu denken), Wohnheime von Sowchosen, Wohnheime von Fabriken, Internate
mit ganzen Reihen winziger Zimmerwürfel und einer
Küche für die ganze Etage, vollgepisste
Hauseingänge mit vollgeschissenen Fahrstühlen;
Dürftigkeit und Hässlichkeit, Erbärmlichkeit
und Gestank, Widerwärtigkeit und Fäulnis, das war
euer Leben.
Ich, Wanja Dobroljubow aus Joschkar-Ola, habe Häuser
für euch gebaut. Exklusive Residenzen mit Penthäusern
und verda... einer erstklassigen verdamm ... Infrastruktur, mit
Videoüberwachung verdammich... und Fitnessraum,
verdammichundzugenäht, und mehr Garagen als Wohnungen, aber es
reicht euch immer noch nicht, mit extra starken Zwischendecken
für eure Whirlpools und drei Tonnen schweren Badewannen, mit
venezianischem Stuck und hi... Carrara-Marmor in der Eingangshalle und
himm... Säulen in den himmi... ganz nach euren
Wünschen projektierten himmikruzi...
Exklusivgemächern für gut betuchte Herrschaften
himmikruzifixnochmal! Und denkt bloß nicht, das wäre
schon alles, was ich gebaut habe.
Vielleicht wohnt ihr ja lieber in Bodennähe als in der Luft,
bevorzugt ein Landhaus der Clubklasse, in einer Siedlung mitten im
Wald, aber mit zentraler Versorgung, schnellem Internetzugang, Laden,
Restaurant, Schule - alles da. Dann schreibt euch hinter die Ohren:
Auch das habe ich gebaut.
Und die schicken Reihenhäuser in der Innenstadt ebenfalls.
Und die Herrenhäuser auf dem Lande, groß wie
Paläste, mit Flussufer, Landschaftspark, etlichen Hektar
Ländereien. Alles ich!
Ich, Iwan Eduardowitsch Dobroljubow, Jahrgang 1969, männlich,
Russe, nicht abgeschlossene Hochschulbildung, habe euch gegeben, was
euch am stärksten unterscheidet von euren Eltern, den Eltern
eurer Eltern und sämtlichen Vorfahren, die in
russgeschwärzten Hütten unterm Strohdach Rauch
schluckten und Kakerlaken zerquetschten, aber auch von euren
Zeitgenossen, die weniger Schwein hatten als ihr, von denjenigen, die
noch immer in den kostenlosen sowjetischen Wohnungen mit den schiefen
Wänden und den dunklen Wasserflecken an den Decken hausen, und
erst recht von
den Obdachlosen: Ich habe euch menschenwürdigen
Wohnraum gegeben! Autos sind wichtiger, sagt ihr? Und ich sage: Ein
Dreck sind sie, eure ganzen deutschen, englischen, japanischen und was
weiß ich noch für Blechkarossen! Meine ersten
fünfzig waren geklaut, gleich hinter der Grenze gekauft, aber
wenn du damit gegen einen Mast knallst, kannst du die Abschreibung
vergessen. Ein Haus kriegt man nicht klein mit einem Verkehrsunfall!
Elitärer Wohnraum, das ist die lichte Zukunft, an der sich
alle so lange versucht haben. Aber hingekriegt, hingekriegt habe sie
nur ich! Elitäres Wohnen heißt elitäre
Zukunft, merkt euch das, ihr Kretins! Ich habe euch zur Elite gemacht,
ich, nicht euer Jelzin. Ganz konkret ich.
Trotzdem ist das alles Scheißdreck.
Weil man an die Seele denken muss, Kumpels. Glaubt mir, ich
weiß, wovon ich rede, und ich wette mit jedem, dass ohne
Seele alles Scheiße ist, wie bereits oben gesagt.
Also kurzum, ich habe über die Seele nachgedacht. Und
begriffen, was sie braucht,
meine Herren. Den Himmel braucht sie, das
ist es. Ein Haus, ein normales Haus, und sei es noch so gut, bleibt
immer eine Höhle, die man zur Reduzierung der Schachtarbeiten
nicht in, sondern auf die Erde baut. Und egal, wie viele Etagen man
hochzieht - zwanzig, vierzig oder hundertvierzig -, es ist trotzdem nur
eine Aufschüttung des Bodens, ein künstlicher Berg
mit künstlichen Höhlen, und wir, die wir darin leben,
sind Wilde, die sich feige in der Erde festkrallen, sich für
immer auf ihr niedergelassen haben.
Dabei muss der Mensch im Himmel leben. Dort geht es der Seele gut, hat
sie es hell und geräumig. Sie versucht sich schon einmal peu
à peu an die zukünftigen Wohngefilde zu
gewöhnen, indem sie nachts aus dem Fenster fliegt, in den auf-
und absteigenden Luftströmen herumrudert, allerdings nur auf
der Höhe des jeweiligen Stockwerks. Normalerweise
müssen menschliche Seelen, um, wie es sich gehört,
den Körper über Nacht zu verlassen,
Rauchfänge oder Ventilationsschächte benutzen, was
nicht gerade Spaß macht. Wir gehören in den Himmel,
dort ist unser Zuhause. Und man sollte nicht warten, bis man dorthin
gerufen wird, bis einem die Ärzte die Einladung
überreichen und die Geistlichen beim Packen helfen, sondern
den Umzug in eigener Initiative und mit meiner Hilfe meistern.
Und jetzt hört alle genau zu!
Die Offene Aktiengesellschaft Babylon baut in Moskau das
höchste Haus der Welt. Dieses Haus verbindet Erde und Himmel.
Nur noch Restplätze frei! Flexibles Rabattsystem! Reiche zum
Himmel empor!“
Iwan Eduardowitsch verstummte und schaute sich um. Im Club herrschte
erstaunliche Ruhe, viele Tische waren leer, die meisten Bekannten
bereits gegangen. Die wenigen, die Dobroljubow noch sah, beachteten ihn
überhaupt nicht, als sei es nicht er gewesen, der gerade diese
kühnen, furchtbaren Worte gesprochen hatte.
"Womöglich", schoss es dem plötzlich verunsicherten
Gottesverächter durch den Kopf, "habe ich das alles gar nicht
laut gesagt, sondern nur in Gedanken?"
Aber Timofej Bolkonski schien etwas zu Ohren gekommen zu sein. Er
saß in seiner Ecke, kaute versonnen an seiner Zigarre,
ließ die Ohrringe schaukeln, strich sich über das
Spitzbärtchen, sah Iwan aufmerksam an und sagte
schließlich:
"Also das muss man dir lassen, Wanja, als PR-Mann bist du
große Klasse. Ich wollte dich nur fragen, ob dich nicht
beunruhigt, dass ..."
"Was denn?", unterbrach ihn Dobroljubow hastig. Ihm dämmerte
bereits, was der junge Bolkonski meinte, aber er sträubte
sich, es zu verstehen. "Was soll mich denn beunruhigen? Der Untergrund
ist felsig, das hat die geologische Tiefenerkundung gezeigt. Und im
Gutachten der Akademie ..."
"Die Akademie kannst du vergessen", lachte der belesene Tima
spöttisch auf. Du kennst doch das Ergebnis des ersten
Versuchs?! Das musst du ganz einfach kennen."
Dobroljubow wollte Bolkonski zum Teufel schicken, kam aber nicht dazu,
weil zwischen ihnen plötzlich ein unbekannter junger Mann im
schwarzen Lederjackett über dem ebenso schwarzen T-Shirt
auftauchte. Mit seinem feisten grünlich-bleichen Gesicht und
dem runden, kahlgeschorenen Schädel sah der Unbekannte aus wie
eine Raupe.
"Hör mal, Kumpel", wandte sich der Raupenmann an Dobroljubow,
"deine Firma heißt Babylon, stimmt’s? Ich wollte
dich schon lange fragen, was dieses Babylon eigentlich bedeuten soll.
Das kommt von Lohn, oder? Ein Quadratmeter kostet doch bei dir dort
mehr als mancher Jahreslohn. Wir sollen alle reichlich löhnen,
das meint dein Babylon, oder? Und du baust dann aus ganz viel Lohn von
uns dein Babylon, oder?"
Wieder kam Dobroljubow nicht zu einer Antwort, weil sich hinter dem
Rücken des neugierigen Raupenmannes Tima Bolkonski einmischte.
"Wenn es von Lohn käme, müsste Babylohn dastehen",
erklärte der Erbe reicher Kulturtraditionen, "Iwans Babylon
soll an ein Lied erinnern. Es gibt da nämlich so einen Song,
weißt du: Oh, Babylon! Yea! Tam-tam-ta-ta ...Oh, Babylon ...
Yea!"
Der Raupenmann strahlte förmlich vor Freude. "Mann, klar! Bin
bloß nicht gleich drauf gekommen. Die Beatles, klar, das
kennt man doch! Oh, Babylon! Yea! Also, Kumpel, du weißt
wirklich alles, oder? Oh, Babylon ..."
Fast hätte sich Iwan Dobroljubow auf den Blödmann
gestürzt, aber er kam nicht dazu. Weil der plötzlich
verschwand. Und nicht nur er, sondern auch Tima Bolkonski und
Woloditschka Trofimers Club mit allen Gästen, von denen viele,
wie gesagt, schon früher gegangen waren. Alles,
überhaupt alles verschwand.
Und bald darauf endet auch diese Geschichte, bei der von Anfang an klar
war, wie sie ausgehen würde.
Der Bau wuchs und wuchs und erreichte am Ende fast den Himmel, so dass
die Wolken, besonders die niedrigen Regen- und Schneewolken,
über die dunklen Mauern krochen, um von ihnen zerfetzt zu
werden. Der Himmel färbte sich schwarz, hoch droben flammten
glutrote Lichter, vielleicht elektrische Entladungen in der
Atmosphäre, vielleicht die Neonbuchstaben des
Reklame-Schriftzuges BABYLON oder die Zahlen der verfluchten
Telefonnummer mit den drei Sechsen. Rief man diese Nummer an,
hörte man am anderen Ende der Leitung furchtbares Geschrei und
ein Fauchen und Heulen, als lodere ein Feuer. Auf der Galerie wuselten
noch immer winzige Menschen, hastig bemüht, die Bauarbeiten
zum Abschluss zu bringen. Manche schauten nach oben zum Himmel, manche
nach unten auf die Erde, aber sie verständigten sich jetzt
nicht mehr in Russisch, vermieden es, in dieser Höhe das
zärtliche "Arschloch" und all die anderen unabdingbaren
russischen Worte zu gebrauchen, sie schämten sich, redeten in
ihren eigenen Sprachen und verstanden einander nicht mehr. Die
Tadschiken, für die es nichts mehr auszuschachten gab und die
nun als Hilfskräfte für Be- und Entladearbeiten
eingesetzt waren, verstanden die lispelnden Moldawier nicht, den
Ukrainern schien, die Armenier würden statt zu sprechen
husten, die zur Unterstützung der auswärtigen
Arbeitskräfte angeheuerten Russen aus Rjasan ächzten
nur mit vielen "ohs" und mussten hundertmal nachfragen. Das war der
Anfang vom Ende.
Der Bau wurde schließlich stillgelegt. Die Aktien der
verschuldeten OAG Babylon fielen an die Stadt, was dann damit wurde,
ist unbekannt. Die Investruine sollte eigentlich abgerissen werden,
aber es fehlte das Geld dafür, und während man noch
damit beschäftigt war, Mittel aufzutreiben und die Angriffe
der über die verhunzte Stadtsilhouette empörten
Öffentlichkeit abzuwehren, löste sich das Problem von
allein.
Die Mauern begannen einzusinken, bröckelten ...
Auf den Steinen siedelten sich dünne Bäumchen an, in
den Ruinen nisteten riesige Vögel, wie man sie hier noch nie
gesehen hatte ...
Leise raschelnd flossen Rinnsale aus Sand ...
Windböen trugen die Körnchen fort ...
Und Babylon ging unter, wie es untergehen musste.
Dobroljubow kann einem leid tun, das ist schon wahr. Er hatte eine
Vision, wollte Höhe, Höhe, wie es in dem Lied vom
Piloten heißt, aber sein Traum fand keine Erfüllung.
Andererseits kommt Hochmut immer vor dem Fall. Und
schließlich hat er ja auch nicht allzu sehr gelitten, wie man
hört. Er soll angeblich noch geschäftlich aktiv sein,
auf Zypern, wo er Hochhäuser saniert und unterhält.
Hauptsache, er will nicht wieder zu hoch hinaus.
Wir sind schlimmer dran.
Die Sprachen haben sich verwirrt, die Menschen verstehen einander nicht
mehr. Man geht die Straße entlang - und ringsum lauter
Fremde. Den Himmel haben wir nicht erreicht, aber die Erde verloren. In
der Höhe über den Mauern hängt Finsternis,
in der Finsternis über den Mauern leuchten Lichter, die
Steine
zerfallen zu Staub, und bald gibt es keine Stadt mehr. Dabei ist sie
einmal da gewesen.