Carol Loeb Shloss: "Lucia Joyce"
Die Biografie der Tochter
Auf
dem Weg nach draußen
Am 26. Juli 2007 jährte sich der Geburtstag der Tochter von
James Joyce zum
einhundertsten Mal. Ein wertvolles Geschenk legt Carol Loeb Shloss mit
"Lucia Joyce. Die
Biografie der Tochter" vor.
Der Name James Joyce und sein überragendes Werk
"Ulysses" sind
vielen
Literaturliebhabern ein Begriff. Doch kaum jemand kennt das tragische
Schicksal
seiner hochbegabten Tochter Lucia. Abgestempelt als geisteskrank,
verwirrt und
schizophren verstarb sie 1982 allein in einer Heilanstalt im englischen
Northampton.
Im Laufe der Jahre hat sich vor allem ein Bild von ihr verfestigt: "Sie
ist
die verrückte Tochter eines genialen Künstlers."
Ihr Vater teilte diese Ansicht so vieler anderer Menschen nie. Er
verlor die
"Schönheit und das Talent seiner Tochter nicht aus dem Blick;
er erkannte
das Leid und die Verzweiflung, die ihr Leben beherrschten, er lernte
von ihr -
und er sträubte sich energisch dagegen, sie einfach sich
selbst zu überlassen."
Diese Weigerung, eine vorgefertigte Meinung über Lucia Joyce
zu akzeptieren,
bildet den Hauptinhalt des vorliegenden Werkes.
Am Ende dieses Buches wird ersichtlich: Lucia Joyce war
äußerst begabt, und
"die Geschichte ihrer Kämpfe, bei aller Erbitterung, mit der
sie diese führte
- und zwar auch gegen ihren Vater -, [ist] zugleich eine der
größten
Liebesgeschichten des zwanzigsten Jahrhunderts".
"Wenn man dieses Buch aufschlägt, betritt man ein
Labyrinth."
So beginnt Carol Loeb Shloss - eine fundierte Kennerin von Joyces
Werken und
Professorin für Literaturwissenschaft an der
Universität Stanford - ihre
Biografie über eine Frau, die stets im Schatten ihres
berühmten Vaters stand.
"'Irgendetwas' war mit Lucia 'los', und bei dem Versuch herauszufinden,
was
genau ihr Problem war, verliefen Joyce und seine Frau sich manchmal
selbst. Sie
nahmen falsche Abzweigungen, irrten herum, fanden dann den richtigen
Weg wieder
und folgten ihm weiter."
Über all diese Irrungen und Versuchen der Aufklärung,
und "weil die Leute
später der mysteriösen Krankheit Lucias immer
größere Beachtung zu schenken
begannen", ist ein wichtiger Teil von ihrer Geschichte verloren
gegangen:
dass auch sie eine Künstlerin war.
Carol Loeb Shloss nimmt mit großer Verve den Leser hilfreich
an die Hand und führt
ihn sicher und fundiert durch das Leben dieser Frau.
Auch wenn viele Dokumente teilweise gezielt zerstört wurden
("Genau wie
Lucias Existenz es war, scheinen die Zeugnisse für das, was
ihr widerfahren
ist, einigen Leuten peinlich oder gefährlich zu sein"), hat
sie mittels
unzähliger Recherchen ein äußerst klares
Bild von Lucia Joyce, ihrer Familie
und ihrer Außenwelt gezeichnet. Trotzdem an manchen Stellen
nur eigene
Vermutungen und Wertungen möglich waren, stellt sie diese in
einen schlüssigen
Rahmen.
Auf jeden Fall hat sie das Leben Lucia Joyces "in seinem ganzen Zauber
und
seiner ganzen Komplexität" rekonstruiert und sich der Wahrheit
offensichtlich bedeutend angenähert.
Lucia, die "Lichtbringende", die "Führerin durch
dunkle
Regionen"
Licht und Schatten, Blindheit und Hellsichtigkeit spielten in der
Geschichte von
Lucia Joyce und ihrem Vaters eine große Rolle.
Am 26. Juli 1907 in einer Armenstation in Triest geboren, wuchs sie mit
ihrem
zwei Jahre älteren Bruder Giorgio an wechselnden Orten in
Europa auf. Die
Neigung ihres irischen Vaters zu einem Exildasein, immer an der
Schwelle zur
Armut, sorgten wiederholt dafür, dass "der Gang ihres Lebens
immer wieder
gestört werden würde" und sich in ihr ein
Gefühl der Unsicherheit
auszubreiten begann. Hinzu kam, dass sie zu ihrer Mutter nie eine
starke Bindung
entwickelte.
Demgegenüber steht die Kunst ihres Vaters, die sie umgab und
seit ihrer Geburt
prägte. Dass jedoch gerade diese Kunst "ungeheure Macht
über einen
Menschen ausüben und eine erfundene Welt ihn völlig
in ihren Bann ziehen
kann", lernte sie frühzeitig.
Ein wenig Beständigkeit kam erst in ihr Leben, als die Familie
1920 nach Paris
übersiedelte.
Lucia, sprach- und musikbegabt, fand durch eine Freundin jedoch zu
ihrer ganz
persönlichen künstlerischen Bestimmung, einer
Kunstform, "die sie zu
ihrer ganz eigenen machen würde" - dem Tanz.
Sie wurde Elevin von Robert Duncan, der "seinen Schülern
beibrachte, ihre
Körper rauschhaft-dynamisch zur Verehrung des Gottes Dionysos
einzusetzen". Weitere Persönlichkeiten prägten ihr
Leben, so z.B. die englische Tänzerin Margaret Morris und der
aus Schweden nach Paris
gekommene Tänzer Jean Borlin. Lucia Joyce trat mit der
Frauentanzgruppe
"Les six de rythme et couleur" auf und wirkte in Jean Renoirs Film
"La petite marchande d'allumettes" mit.
Prägend für ihren weiteren Lebenslauf sollte die -
hauptsächlich durch ihre
Mutter Nora beeinflusste - Entscheidung sein, trotz eines Angebots, in
Darmstadt
Tanz zu unterrichten, ihre Tanzkarriere aufzugeben.
Als die Spannungen mit Nora Joyce kontinuierlich zunahmen und sie in
rascher
Folge von verschiedenen Männern enttäuscht worden war
(darunter Samuel
Beckett, der amerikanische Bildhauer Alexander Calder, und
auch die Verlobung
mit Alex Ponisovsky, dem Schwager von Joyces Freund und homme
d’affaires, Paul
Léon, musste für gescheitert erklärt
werden), erlitt Lucia einen
Nervenzusammenbruch und wurde Ende Mai 1933 von ihrem Bruder mit Hilfe
eines Täuschungsmanövers
in eine Nervenklinik eingeliefert.
Damit begann - nach Ansicht ihrer Biografin - eine unheilvolle
Verkettung familiärer
Konflikte, verfehlter Therapien und gesellschaftlicher Vorurteile, die
Lucia
immer weiter von der Welt der Normalität entfernten.
Lucia und James - eine stumme Partnerschaft
Wenn der Leser dieses großartige und im wahrsten Sinne des
Wortes - gewichtige
- Buch zuschlägt, hat Carol Loeb Shloss auf jeden Fall
erreicht, das
verschwommene Bild von Lucia Joyce zu konturieren und fundiert in einen
gesellschaftlichen Kontext zu stellen.
Lucia ging offensichtlich nicht unausweichlich, ohne Gegenwehr oder
aufgrund
einer Veranlagung, die schon von Geburt an existierte, unter. Sondern
ihr Leben
war ein großer Kampf, und "sie stellte den Preis dar, der
für ein Buch
gezahlt worden, eine Entäußerung, die durch den
Drang eines Schriftstellers
nach Ruhm nötig geworden war.“
Besonders feinfühlig arbeitet Carol Loeb Shloss die Geschichte
von der "Transposition,
der Übertragung der Kunst ins Leben" und vor allem, wie Kunst
eigentlich
geschaffen wird, heraus.
Das Buch erzählt von Lucia Joyces stummer Partnerschaft mit
ihrem Vater. Denn
unstrittig ist auf jeden Fall, dass sie die Kreativität ihres
Vaters anregte
und in seine Romane eingegangen ist - "als Milly, Issy, Isolde, Anna
Livia
Plurabelle und die anderen Verkörperungen der heranwachsenden
jungen Frau."
Am Ende stehen drei einfache, aber tiefgreifende Fragen im Raum: "Was
ist
das Leben eines Kindes wert? Was ist ein Buch wert? Welches ist das
Verhältnis
zwischen 'Genie und 'Wahnsinn'?"
"Die Geschichte von Lucia Joyce ist weitgehend die von einer einfachen
Tatsache, die zu spät erkannt wurde, letztlich aber nicht zu
unterdrücken war:
dass Töchter es vorziehen können, selbst kreativ
tätig zu werden, statt die
Inspiration für die Kreativität eines anderen zu
liefern, und auch durchaus in
der Lage zu eigenem Schaffen sind."
Dank der soliden Übersetzung aus dem Amerikanischen von
Michael Müller ist
dieses Buch trotz seiner Daten- und Materialfülle
übersichtlich und flüssig
lesbar.
(Heike Geilen; 07/2007)
Carol
Loeb Shloss: "Lucia Joyce. Die
Biografie der Tochter"
Originaltitel "Lucia Joyce. To Dance in the Wake".
Aus dem Amerikanischen von Michael Müller.
Albrecht Knaus Verlag, 2007. 654 Seiten.
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