Jhumpa Lahiri: "Melancholie der Ankunft"


Für ihr Debüt wurde die in London geborene und in den USA (Rhode Island) aufgewachsene Tochter indischer Einwanderer im Jahr 2000 mit dem "Pulitzer Preis" ausgezeichnet. Das Buch enthält neun Kurzgeschichten, die aber eine Gemeinsamkeit aufweisen: Sie handeln alle von Begegnungen der indischen mit der us-amerikanischen Kultur und den Überraschungen oder Problemen, die diese Begegnungen mit sich bringen. Fast all ihre Charaktere überschreiten lernend, liebend, reisend oder arbeitend kulturelle und nationale Grenzen.

Auch wenn es in den Geschichten von Jhumpa Lahiri zumeist um allgemeingültige Probleme, wie Ehe- und Beziehungskrisen, Treue, Einsamkeit und Fremdheit geht, machen sie den Leser subtil mit Besonderheiten der indischen Kultur vertraut.

In "A Temporary Matter" trauern Shoba und Shukumar um ihr tot zur Welt gekommenes Kind. Die Trauer entfernt die beiden von einander. Erst im Schein von Kerzenlicht, auf das sie durch einen Stromausfall angewiesen sind, beginnen sie wieder, miteinander zu reden. Die Atmosphäre versetzt die beiden in ihr Heimatland Indien zurück, wo die Stromversorgung des Öfteren ohne Vorankündigung zusammengebrochen war. Shukumar erinnert sich an eine Reiszeremonie in Dunkelheit, an der er teilgenommen hat. Bei der Reiszeremonie wird im großen Familien- und Freundeskreis die erste feste Nahrungsaufnahme eines Kindes gefeiert. Unser Kind wird nie eine Reiszeremonie erleben, denkt Shukumar melancholisch.
Doch die Gespräche zwischen den beiden führen nicht nur zur Annäherung, sondern bringen auch unbequeme Wahrheiten zu Tage: "They wept together, for the things they now knew."

In "Mrs. Sen" wird der Tagesablauf einer indischen Einwandererfamilie aus der Perspektive eines us-amerikanischen Buben wahrgenommen. Der elfjährige Eliot verbringt seine Nachmittage im Haus seiner heimwehkranken Babysitterin und liebt es, ihr beim Gemüseschneiden zuzusehen. "Instead of a knife she used a blade that curved like the prow of a Viking ship, sailing to battle in distant seas". Eliot spürt, dass dies die einzigen Momente sind, in denen die melancholische Mrs. Sen ein wenig glücklich ist. Dieser Eindruck eines elfjährigen Jungen verdichtet sich im Laufe der Geschichte auch für den Leser: Nur das Zubereiten indischer Mahlzeiten, vor allem von Fisch, vermag das Heimweh von Mrs. Sen zu lindern.

Zwei der Geschichten beschäftigen sich mit dem Verhältnis zwischen Indern und Pakistanis, deren Heimatstaaten durch die Briten im Jahr 1947 geteilt wurden. "When Mr. Pirzada came to dine" spielt in New England zur Zeit des Bürgerkriegs in Pakistan (1971). Mr. Pirzada, ein Pakistani aus Dakka (jetzt die Hauptstadt von Bangladesh), der ein Forschungsstipendium an einer Bostoner Universität innehat und dessen Familie in Pakistan zurückgeblieben ist, nimmt jeden Abend seine Mahlzeiten im Haus der zehnjährigen Lilia und ihrer Eltern ein. Diese sind indische Einwanderer und mindern durch diese gemeinsamen Abende mit einem "Leidensgenossen" ihr Heimwehgefühl. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen Mr. Pirzada und Lilias Familie. Ihr Vater versucht ihr die Teilung von Indien und Pakistan zu erklären. Doch Lilian versteht das nicht. "Mr. Pirzada and my parents spoke the same language, laughed at the same jokes, looked more or less the same. They ate pickeld mangoes with their meals, ate rice every night for supper with their hands. Like my parents, Mr. Pirzada took off his shoes before entering a room, chewed fennel seeds after meals as a digestive, drank no alcohol, for dessert dipped austere biscuits into succesive cups of tea. Nevertheless my father insisted that I understand the difference and he led me to a map of the world taped to the wall over his desk."

Die Protagonistin in "A real Durwan" ist Boori Maa, eine 64-jährige Bengalesin. Sie wurde nach der Trennung von Indien und Pakistan nach Kalkutta deportiert, wo sie als Hausmeisterin ihren Lebensunterhalt verdient. Sie erzählt allen Hausbewohnern die Geschichten ihres früheren Lebens. Vor dem Krieg lebte sie mit ihrem Ehemann und ihren vier Töchtern in einem zweistöckigen Häuschen. Nun muss sie auf dem Dach eines Mietshauses schlafen und wird von niemandem ernst genommen. Boori Maa wird daher immer eigenartiger. Doch es kommt noch schlimmer: Als das einzige Waschbecken im Stiegenhaus gestohlen wird, wird sie bezichtigt, mit den Dieben zusammengearbeitet zu haben. Schließlich ist sie die einzige Fremde. Mit Schimpf und Schande wird sie von den Hausbewohnern verjagt.

Die Titelgeschichte "Interpreter of maladies" handelt von einer us-amerikanischen Familie indischen Ursprungs, die Ferien in Indien macht. Sie lässt sich von einem indischen Führer zum Sonnentempel von Konarak führen. Die Das erfüllen zunächst das Klischee verwöhnter us-amerikanischer Touristen. Die Ehefrau beklagt sich während der Autofahrt über das Fehlen einer Klimaanlage, lackiert ihre Nägel und nimmt die Umgebung ebenso wenig wahr wie ihr Ehemann, der in einen Reiseführer über Indien vertieft ist. Die Kinder quengeln die ganze Zeit auf dem Rücksitz. Der Führer, Mr. Kapasi, erzählt, dass er während der Woche bei einem Arzt arbeitet. Als "Interpreter of maladies". Mr. Kapasi spricht neun Sprachen und übersetzt dem Arzt die Leiden seiner Patienten. Mrs. Das findet das sehr romantisch.
Als sie am Rückweg noch bei einem ehemaligen Kloster vorbeikommen, steigen der Ehemann und die Kinder aus, um dieses zu besichtigen. Währenddessen bleibt Mrs. Das mit Mr. Kapasi im Auto zurück. Sie vertraut ihm ein Geheimnis an, von dem niemand etwas weiß: Eines ihrer drei Kinder ist nicht von ihrem Mann. Dieses Geheimnis bedrückt sie seit acht Jahren, nun erwartet sie von Mr. Kapasi in dessen Eigenschaft als "Interpreter of maladies" Heilung. Mr. Kapasi fühlt sich überfordert, er stellt seiner "Patientin" nur eine einzige Frage. Die irritierte Reaktion von Mrs. Das beweist ihm aber, dass er den Kern des Problems getroffen hat.

Alle Geschichten in "Interpreter of maladies" enthalten sozialkritische Elemente - ohne dabei aber moralisierend zu wirken. Die Autorin schafft dies, indem sie sich mit großer Sensibilität in ihre Figuren hineinversetzt. Statt sich auf Gemeinplätze zu beschränken, schildert sie sehr facettenreich die psychischen Nöte der Protagonisten.

Ein einziger Wermutstropfen trübt die Lektüre der Kurzgeschichten: Sie geht zu schnell zu Ende. Gerne würde man die Charaktere noch ein wenig länger auf ihrem Lebensweg begleiten.

(Dani Tomasovsky)


Jhumpa Lahiri: "Melancholie der Ankunft"
(Originaltitel "Interpreter of Maladies")
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Ein weiteres Buch der Autorin:

"Das Tiefland"

Am Rande eines von Hyazinthen überwucherten, zu Monsunzeiten überschwemmten Tieflands in einem Vorort von Kalkutta wachsen die Brüder Subhash und Udayan Mitra auf. Sie sind unzertrennlich, aber auch sehr verschieden. Beide interessieren sich für Wissenschaft und Politik. aber Subhash, der Pflichtbewusste, entzieht sich den wirren politischen Verhältnissen der 1960er-Jahre und zieht in ein ruhiges Küstenstädtchen in den USA, um sich dort der Wissenschaft zu widmen. Udayan hingegen lässt sich mit militanten Maoisten ein und riskiert alles für seinen Traum von einer gerechteren Welt, sogar sein Leben. Aber als Subhash erfährt, was seinem Bruder in jenem mit Hyazinthen überwucherten Gewässer zugestoßen ist, kehrt er nach Indien zurück, um die Wunden zu heilen, die Udayan, nicht zuletzt im Herzen seiner jungen, schwangeren Frau, geschlagen hat. Es entspinnt sich ein mitreißendes familiäres Drama über Kontinente und Generationen ... (Rowohlt)
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