Miljenko Jergović: "Buick Rivera"
Ein Konflikt in der kommunikativen
Einbahnstraße
"... und versuchte zu verstehen, was
eigentlich passiert war, ob er jemand vernichtet, dafür allerdings zu teuer
bezahlt hatte - das war das Wahrscheinlichere -, oder ob ihm der andere -
weniger wahrscheinlich - zuvorgekommen war und ihn vernichtet hatte." (Seite
220)
Hasan Hujdur verließ seine bosnische Heimat schon lange
vor dem
Krieg. Der Traum von einer Karriere in Hollywood blieb unerfüllt; mit seiner
Frau, einer deutschen Schauspielerin, lebt er ohne eigenes Einkommen in Toledo,
einem verschlafenen Ort in Oregon, und vertreibt sich seine Zeit meist mit zwei
Freunden in einem Billardsalon. Seine Liebe und einzige Leidenschaft gehört
einem Auto, seinem Buick Rivera Baujahr 1963.
Auf dem Weg in die
nächstgrößere Stadt Salem, wo er seine Frau von einer Theaterprobe abholen soll,
gerät er in einen Schneesturm und landet im Straßengraben. Der Serbe Vuko
Šalipur bietet ihm als Erster Hilfe an. Der ehemalige Busfahrer aus Bosnien
musste als gesuchter Kriegsverbrecher seine Heimat verlassen, schmuggelte sich
als Kriegsopfer in die USA und heiratete in eine begüterte Familie ein. Kurz vor
der Pannenhilfe verließ er seine Frau Lisa, um mit ihrem teuren Auto und ihren
Ersparnissen anderswo ein neues Leben zu beginnen.
Vuko ist hilfsbereit,
führt Hasan nach Salem, wartet mit ihm auf Angela. Später bringt er ihm das
verlorene Portemonnaie nach Hause nach und lernt seine Freunde aus dem
Billardsalon kennen. Was zu einer Freundschaft hätte werden können, wird zum
kommunikativen Desaster. Sie waren "zwei Menschen, die genug voneinander
wussten, um miteinander intim zu werden, obwohl sie sich überhaupt nicht
kannten. Was sie allerdings voneinander hörten, führte sie zu falschen
Schlüssen." (Seite 63)
Der gegenseitige Umgang mit der historischen Last
in der früheren Heimat nötigt die beiden Männer, den gutgläubigen Hasan und den
oberflächlich charmanten, aber brutalen Vuko, sich gegenseitig jeweils nur als
Vertreter der anderen Kriegspartei wahrzunehmen. In ihren Dialogen -
Einbahnstraßen einer irrigen und tragikomischen Wahrnehmung - geben sie viel
Persönliches preis. Sie haben es aber verlernt, sich gegenseitig anders als
ethnisch zu charakterisieren - bis zum absurden Ende, das auch die amerikanische
Öffentlichkeit zwingt, sich gemäß eigenen medialen Zerrbildern grotesk zu
verhalten.
Hinter der nur rund vierundzwanzigstündigen Begegnung des
Serben und des muslimischen Bosniers tun sich Abgründe überlieferter Ängste und
Schwächen auf, verdichten sich kulturelle und politische Diskurse, die die
Übersetzerin Brigitte Döbert gekonnt ins Deutsche übertrug. In der Deutlichkeit
der Dialogführung und der prägnanten Charakterisierungen der einzelnen Szenen
erfasst man hinter den Worten die irrealen Weltbilder eines Krieges, selbst wenn
man mit der jüngsten Geschichte Bosniens nicht vertraut ist und nicht jede
Anspielung versteht. Angela Raubal, Hasans deutsche Frau heißt beispielsweise
wie Hitlers Nichte und jugendliche Geliebte, sie schleppt auch ein Nazi-Trauma
mit sich herum; Al Rahimi, ihr syrisch-stämmiger Chef im Theater trägt als Namen
ein Attribut Allahs aus dem Koran, "der Barmherzige". Sollte die Übersetzerin
dann auch erklären, womit Bosnier die Namen Hasan Hujdur oder Vuko Šalipur
assoziieren?
Wer wissen möchte, wie kriegerischer Hass funktioniert und
Kommunikation zum Kippen bringt, findet in diesem Buch ein
Lehrstück für alle, nicht nur südosteuropäische Konflikte: Miljenko Jergović, geboren 1966 in
Sarajevo, wo er bis 1993 als Journalist lebte, versteht es meisterhaft,
politische Auseinandersetzungen in Schicksale zu verdichten, die unausweichlich
ihrem tragikomischen Ende zustreben.
(Wolfgang Moser; 04/2006)
Miljenko Jergović: "Buick Rivera"
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert.
Schöffling & Co., 2006. 249 Seiten.
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Miljenko Jergović studierte
Philosophie und
Soziologie an der dortigen Universität. Er
ist Mitbegründer der GROUP 99. Jergović berichtete u.a. für die Zagreber
Wochenzeitung "Nedeljna Dalmacija" aus dem belagerten Sarajevo und war dort auch
Redakteur beim Fernsehen. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller in Zagreb
und ist als politischer Kolumnist für verschiedene kroatische und internationale
Zeitungen (in Deutschland für "DIE ZEIT" und die "FAZ") tätig. Für seine Arbeit
als Journalist und politischer Kolumnist wurde er mehrfach
ausgezeichnet.
Weitere Bücher des Autors:
"Sarajevo Marlboro"
Miljenko Jergović erzählt aus dem
belagerten Sarajevo: Seine Helden sind die kleinen Leute, beschädigt und zerstört
von den Schrecken des Krieges, der ihren Alltag und das Zusammenleben im Vielvölkerstaat
völlig aus den Fugen hebt. Er erweist sich als Meister des Details: der Kaktus
der Geliebten, der während des Bombardements im Keller vertrocknet; der
Apfelbaum zwischen zwei Grundstücken, der in der schlimmsten Phase des Krieges
die prächtigsten Äpfel trägt und zerstrittene Nachbarn in ihrer Not wieder
zusammenbringt; der Tontopf für ein typisches bosnisches Gericht, der im Exil
sehnlich vermisst wird - die einfachen Dinge des täglichen Lebens spiegeln die
große Tragödie im Kleinen und lassen Schrecken und Verzweiflung unmittelbar spürbar
werden:
"Für die Welt, die so eingerichtet ist, wie sie es ist, gibt es eine
Grundregel: Sieh zu, dass sich deine Habe auf zwei stets gepackte Taschen
reduzieren lässt." (Schöffling & Co.)
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"Das Walnusshaus"
Im Jahr 1905 erhält der Holzschnitzer August Lišcar einen ungewöhnlichen
Auftrag: Er soll ein passendes Spielzeug für das ungeborene Enkelkind eines
Mannes aus Dubrovnik anfertigen. Eine schwierige Aufgabe: Aus Walnussholz
fertigt der Schnitzer schließlich das verkleinerte Abbild des Hauses der
Familie seines Auftraggebers, samt Einrichtung und Bewohnern. Ein großartiges
Geschenk für die kleine Regina ...
Doch halt, das alles erzählt Miljenko Jergović erst viel später!
Denn die Geschichte um das Walnusshaus beginnt in der Gegenwart, auf einer
Polizeistation, wo sich eine gelangweilte Beamtin mit den ungewöhnlichen Umständen
des Todes der "verrückten Manda" konfrontiert sieht - die keine Andere ist,
als jene 1905 geborene Regina Sikirić.
Zwischen diesen beiden Episoden spielen die Lebens- und Liebesgeschichten
mehrerer Generationen, die Miljenko Jergović meisterhaft zu einem
fulminanten Familienroman zusammenführt. Er gibt die Fäden seiner Geschichte(n)
niemals aus der Hand und entführt den Leser gleichzeitig in die hochpolitische
und dramatische Historie des Westbalkan von der Ablösung der osmanischen
Herrschaft bis zur Bombardierung Dubrovniks zu Beginn der 1990er Jahre. (Schöffling
& Co.)
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"Mama Leone"
"Als ich geboren wurde, bellte auf dem Flur der Entbindungsanstalt
ein Hund" - diese früheste Erinnerung bildet den Auftakt zum ersten Teil des
Buches, einem episodenhaften Familienroman. Ein kindlicher Erzähler beobachtet
die von absurder Normalität geprägte Erwachsenenwelt. Unfassbar komisch,
berührend und von einer Ursprünglichkeit, wie nur die Wahrnehmung des Kindes sie
kennt, sind seine Assoziationen und Betrachtungen.
In "An diesem Tag endete
eine Kindheitsgeschichte", dem zweiten Teil des Bandes, erzählt Jergović von
schicksalsentscheidenden Momenten im Leben junger Menschen - wie dann, wenn sie
in den Krieg einberufen werden. (Folio Verlag)
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