Ivana Jeissing: "Unsichtbar"
"Wenn
du ganz unten bist, bist du auf dem Weg nach oben."
Dieses nur auf den ersten Blick ermutigende Lebensmotto prägt
die junge Jane Terry über eine lange Zeit. Auf einem
Kinoplakat hat sie es gelesen und tröstet sich damit ein ums
andere Mal. Ihre große Spezialität und Lebenskunst
ist es, sich unsichtbar zu machen, eine Fähigkeit, die sie von
ihrer Großmutter und ihrer Mutter gelernt hat, und die dem
Buch seinen Titel gegeben hat.
Diese Fähigkeit hilft ihr über eine lange Zeit, ihr
Leben zu bewältigen, gegen das sie eigentlich dauernd
protestieren und aufstehen müsste. Ihre
Eltern, beide
HNO-Spezialisten, leben in ihrer eigenen, wissenschaftlichen Welt,
wobei die Mutter, brav in ihrer Rolle bleibend, dem Vater immer wieder
den Vortritt lässt. Jane war als Kind für sie immer
nur dann von Interesse, wenn sie Hals-, Nasen- oder Ohrenprobleme
hatte: "Ist es da ein Wunder", fragt sich Jane an
einer Stelle des Buches, "dass das erste Gefühl, an
das ich mich erinnern kann, das Gefühl war, unsichtbar zu
sein? Gleich gefolgt von dem Gefühl, unwichtig zu sein."
Jane hat Peter geheiratet, einen in seinem Beruf sehr erfolgreichen,
ansonsten aber ziemlich blassen Mann, der sich in Jane verliebt hat,
weil ihr Gesicht ihn an
Picassos
extrem abstraktes Bild "Ma Jolie"
erinnert. Obwohl das wenig schmeichelhaft ist, fühlt Jane sich
geehrt und heiratet Peter, ohne allerdings einen einzigen Tag
glücklich zu sein. Glück und wirkliche Akzeptanz
findet sie bei Fred, einer von Ivana Jeissing wunderbar gezeichneten
Figur, einem Mann, der sich im Alter den Jugendtraum eines eigenen
Kinos mit Tausenden von alten Filmen erfüllt hat. In den
vielen Gesprächen mit ihm tankt Jane auf, und ganz langsam
reift in ihr der Entschluss, Peter zu verlassen und ein
eigenständiges Leben zu führen. Und endlich schreibt
sie Peter folgenden kurzen Satz:
"Langgehegter Irrtum, mein Misstrauen gegen die Sprache und
der Widerstand, den ich als Bild gegen das Betrachtet- und
Verstandenwerden hegte, sind passé. Das Kunstwerk hat den
längst fälligen Prozess der
Grenzüberschreitung und Horizonterweiterung vollzogen."
Als sie danach Freds Wohnung wieder verlässt, ist das Plakat,
das so lange dort hing, verschwunden und durch ein neues ersetzt. Eine
junge Frau sitzt auf einem Ast in einem Baum und sieht
lächelnd in die Ferne. Darunter steht:
"Wenn du wissen willst, wie ein Apfel schmeckt, musst du den
Apfel essen."
"Unsichtbar" ist ein absolut gelungenes Romandebüt mit einer
witzigen und originellen Sprache und sehr ungewöhnlichen
Akteuren. Eine schöne und unterhaltsame Lektüre
für einen Nachmittag.
(Winfried Stanzick; 06/2007)
Ivana
Jeissing: "Unsichtbar"
Diogenes, 2007. 223 Seiten.
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Ivana Jeissing wurde 1958 in Österreich geboren und verbrachte ihre Kindheit in Salzburg und Turin. Sie lebt in Berlin.