Alison Wearing: "Meine iranische Reise"
"Ich bin eine Bildhauerin. Ich berühre den Stein, trete einen Schritt zurück und schaue ihn mit geschlossenen Augen an, bis ich den Geist erkenne, der in der Versteinerung gefangen ist. Dann befreie ich sein Bild. Ich bin gekommen, um Geist aus Stein zu befreien."
Die Kanadierin Alison ist in den Iran
gekommen, um die Angst, die dieses Land bei ihr auslöst, zu bezwingen und weil
sie dieser Angst nicht so viel Macht einräumen möchte. Gemeinsam mit ihrem homosexuellen
Mitbewohner Ian fährt sie, getarnt als Hochzeitsreisende, quer durch den Iran.
Mit dem Übertritt
von der Türkei in den
Iran legt Alison die obligatorische Verschleierung nur mehr im Hotelzimmer
oder in den Privaträumen ihrer Gastgeber ab. Auf der Suche nach dem Geist dieses
wunderschönen Landes begegnen die beiden Reisenden unterschiedlichen Menschen,
die allesamt unglaublich gastfreundlich sind. Immer wieder werden sie in Privathaushalte
eingeladen, königlich bewirtet und gedrängt, auch dort zu nächtigen. Ihre Gastgeber
kümmern sich rührend um sie und trachten danach, ihnen jeden Wunsch von den
Augen abzulesen. Ein guter, richtig großzügiger Mensch zu sein, ist in diesem
Land wichtiger als alles Andere und definitiv wichtiger als
Geld zu machen.
Von unwiderstehlicher Abenteuerlust getrieben, besuchen
Alison und Ian die ehemalige Sommerresidenz des Schah, überklettern das Tor und
waten durch Wiesen, die mit armdicken
Schlangen übersät sind, um im Palast davon
zu träumen, Gast in diesem Hause zu sein. Mit offenen Augen und Sinn für das
Schöne erfahren sie den Iran auf ganz besondere Weise, lernen die Verbundenheit
der Bewohner mit ihrem Land kennen und sind immer wieder auch mit jenen Menschen
konfrontiert, die vom islamischen Regime unterdrückt werden. Von einem Gastgeber
werden sie mitten auf der Straße im Schlafanzug begrüßt, spielen Ping-Pong mit
einer iranischen Familie, deren Mutter alle schlägt und eine Art Sportverein im
Ort gegründet hat, bekommen die vorgesehenen Orte für Dreharbeiten für eine
amerikanische Serie zu Gesicht, lernen einen jungen Drogendealer kennen,
erblicken immer wieder Menschen versunken im Gebet und sind betroffen von der
Verzweiflung einer deutschen Mutter ob ihrer Situation.
Nach dem Fotografieren einer Parade landen sie auf dem Polizeirevier, und es
entbrennt eine scharfe Diskussion wegen des Films, bis Ian ihn letztendlich
aus dem Apparat nimmt und dadurch vernichtet. Beschämt wird einer der Beamten
losgeschickt, um ihnen als Geschenk einen neuen Farbfilm zu überreichen. Doch
nach diesem Zwischenfall entscheiden die Beiden, die Bilder dieser Reise in
ihren Herzen aufzubewahren. Sie lernen Schah-Befürworter und Revolutionsgegner
kennen, moslemische Würdenträger und christliche Gelehrte und die Ansicht, dass
Freiheit kein
Element ist, das man von außen erhalten kann, sondern man kann sie nur im eigenen
Inneren finden.
Als sie nach Monaten des Reisens und
Eintauchens in eine fremde Kultur die kanadische Botschaft betreten, ereignet
sich fast so etwas wie ein Kulturschock. Das erste Mal seit fünf Monaten legt
Alison in der Öffentlichkeit ihre traditionelle iranische Kleidung ab. Ein
amerikanisches Musikvideo im Fernsehen führt Alison vor Augen, dass sie fast
schon vergessen hatte, wie Frauen aussehen, die ihr ganzes Leben damit
zubringen, sexy wirken zu wollen und dabei verdammt einsam wirken.
"Meine
iranische Reise" ist ein farbenprächtiger Roman - ein wunderschön gewebter
Bildteppich aus Geschichten, Menschen, Politik, Landschaften und Begegnungen.
Ein spannendes und berührendes Buch, das es vermag, Ängste zu zerstreuen und die
Sehnsucht nach einem Land zu schüren, dessen Menschen die Gastfreundschaft
leben.
(margarete; 03/2004)
Alison Wearing: "Meine iranische
Reise"
(Originaltitel "Honeymoon in Purdah")
Deutsch von Barbara
Ostrop.
dtv, 2004. 337 Seiten.
ISBN 3-423-24383-X.
ca. EUR 15,-.
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Alison Wearing wurde nach einem Studium in Frankreich, Kanada und Deutschland Reisejournalistin und hat Reisen durch Europa, den Nahen Osten, China, die frühere Sowjetunion und die Amazonasgebiete in Ecuador und Peru unternommen. Sie wurde für ihre Artikel mit der National Magazine Award Gold Medal und dem ersten Preis der Western Canada Magazine Awards ausgezeichnet. Alison Wearing lebt in der Nähe von Peterborough/Ontario.