Anosh Irani: "Die Weisheit meines verlorenen Arms"

Eine Reise durch die Unterwelt von Bombay


Blanker Horror oder märchenhafte Groteske?

Der Debütroman des 1974 in Bombay geborenen, seit einigen Jahren in Vancouver ansässigen Autors Anosh Irani erzählt die Geschichte einer magisch-realistischen Suche eines jungen Mannes nach seinem amputierten linken Arm im Chaos von Bombay.
Dabei handelt es sich (auch) um eine mit blutrünstigen Szenen gespickte Schilderung einer spirituellen Reise. Angemerkt sei, dass der für den deutschsprachigen Raum gewählte verharmlosende Buchtitel dem Inhalt kaum gerecht wird, wohingegen der übersetzte Originaltitel "Der Krüppel und seine Talismane" lautet.

"Ich hatte ein Bild von eben amputierten Gliedmaßen, die an einem dunklen Ort von der Decke hängen, vor Augen. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Aber ich beschloss, es zu notieren. Ich schrieb den ersten Satz und hörte vier Stunden lang nicht auf zu schreiben. Und dann weigerte sich das Bild, zu verschwinden, die Geschichte wollte nicht weggehen. Ich glaube, das ist die wichtigste Lektion für einen Schriftsteller. Wenn sich etwas weigert zu verschwinden, wenn es dauernd zurückkommt, muss es schließlich geschrieben werden."
(Anosh Irani in einem Interview)

Iranis Zunftkollege Yann Martel schrieb über "Die Weisheit meines verlorenen Arms": "Ein in höchstem Maß fantasievoller Roman, voller Humor, Poesie und Erkenntnis, geschrieben in einem schönen, sparsamen Stil. Durchwegs wird in der Geschichte eine großartige Stadt sichtbar, Bombay, verrückt gespiegelt im Leben eines Einwohners, der verwirrend, abscheulich, hoffnungslos und oft ziemlich spaßig versucht, das Göttliche mit beiden Armen zu umschlingen."

Ein Antiheld auf Sinnsuche - macht Not erfinderisch?

Der namenlose Erzähler erwacht ohne Erinnerungen - und ohne linken Arm - in einem Spital. Infolge der Behinderung fortan quasi aus dem Paradies vertrieben, seiner allem Anschein nach privilegierten Herkunft entfremdet, kehrt er den materiellen Annehmlichkeiten den Rücken, bewirbt sich u.a. als Selbstmordattentäter bei der Regierung und entdeckt die ihm zuvor gänzlich unbekannten faszinierenden "Eingeweide" Bombays, durch die er grübelnd irrt, als Zeuge des sozialen Elends.

Anosh Iranis schöpferische Vorstellungskraft gebar eine reichlich abstruse Kulisse. In "seinem" Bombay wirkt eine eigentümliche Magie, und kuriose Gestalten bevölkern die nicht gerade harmlose Szenerie. Absurde Figuren liefern dem Erzähler allerlei kryptische Hinweise. Ein Bettler namens Gura, der unter einem Eierwagen haust, rät ihm, Antworten aus den Klängen der Straßen herauszuhören, eine Frau, die Regenbogen verkauft, warnt ihn vor einem bösen Auge, ein geheimnisvoller Sargmacher sowie
ein Blinder, der sich nicht entleeren kann, wenn er nicht das Geräusch eines Zuges hört, tragen das Ihre bei, und ein Aussätziger gibt ihm einen Finger, den der Protagonist fortan bei sich trägt, auf der Suche nach seiner Bedeutung. Überdies spricht sein verlorener Arm zu ihm.
Im Verlauf dieser prall gefüllten, nicht durchgehend ernstzunehmenden Selbstentdeckungsreise erforscht der hartgesottene Erzähler seine Vergangenheit und tritt seinen Sünden gegenüber. Ein gottähnlicher Meister der Unterwelt, Baba Rakhu, der mit Extremitäten handelt, offenbart dem Erzähler allerlei mehr oder minder brauchbare (Binsen-) Weisheiten, z.B. das Motto, nach welchem er selbst sein Gewerbe betreibt:
Die Welt könne nicht dadurch verändert werden, dass die Ungerechtigkeit beendet würde, sondern durch eine gerechtere Verteilung derselben. So kommt es, dass dem Erzähler schlussendlich auch noch der rechte Arm abgehackt wird ... 

Anosh Irani über seinen Erzähler: "Was auch interessant ist, ist wie lebendig meine Erinnerungen manchmal sind, ich erinnere mich nicht an Orte. Sie sind verschwommen. In diesem Roman ist es das, was ich für den Protagonisten verwendet habe. Er ist jemand, der halluziniert. Er ist nicht gänzlich sicher, er hat kein gutes Ortsgefühl. Er ist desorientiert."

Wer die fruchtbare Verbindung von Grausigem und schwarzem Humor, von Irrationalität und Lebensweisheit schätzt, mag Gefallen am Romanerstling Anosh Iranis finden und sich überdies womöglich für die Studienrichtung "Kreatives Schreiben" begeistern, denn dem Autor stand während des gesamten Schaffensprozesses sein Kreativschreibprofessor mit Rat und Tat zur Seite.

(Franka Reineke; 03/2006)


Anosh Irani: "Die Weisheit meines verlorenen Arms"
(Originaltitel "The Cripple and His Talismans")
Übersetzt von Karin Dufner.
Europa Verlag, 2005. 352 Seiten.
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Anosh Irani wurde 1974 in Bombay geboren und studierte an der dortigen Universität. 1998 emigrierte er nach Kanada. An der University of British Columbia studierte Irani "Kreatives Schreiben". Der in Vancouver lebende Autor verfasst Theaterstücke und Prosa.
Lien zur Netzseite der Übersetzerin: https://www.karindufner.de/.