Semier Insayif: "über gänge verkörpert
oder
vom verlegen der bewegung in die form der körper"
"Beobachte also längere
Zeit einen Denkenden und beobachte dann, wie er geht, umgekehrt, beobachte längere
Zeit einen Gehenden und beobachte dann, wie er denkt. Nichts aufschlußreicher,
als wenn wir einen Denkenden gehen sehen, wie nichts aufschlußreicher, wenn wir
einen Gehenden sehen, der denkt, wodurch wir ohne weiteres sagen können, wir
sehen, wie der Gehende denkt, wie wir sagen können, wir sehen, wie der Denkende
geht, weil wir den Denkenden gehen sehen, umgekehrt, den Gehenden denken und so
fort, ..." (aus "Gehen" von Thomas
Bernhard).
Semier Insayifs sprachliches
perpetuum mobile konserviert beobachtbare Abläufe quasi in
Einzelbilddarstellung nach Art eines Daumenkinos: Für sich genommen ist jeder
Faktor einer Bewegung Abschluss eines naturwissenschaftlich erklärbaren
Prozesses, insofern ein Stillstand / eine Momentaufnahme unter vielen. Als
Instrumente mithilfe derer das zugrunde liegende Ursache-Wirkung-Prinzip samt
Einflüssen und Nachwirkungen in seine Komponenten zerteilt wird dienen dem
Autor freilich weder Skalpell noch Knochensäge sondern Wortschöpfungen sowie
-kombinationen besonderer Art.
Schon anhand der Kapitelüberschriften lässt sich erahnen, dass man es mit
einem Dichter zu tun hat, welcher sich darauf versteht, der Leserschaft seine
Kreationen mit wahrhaft chirurgischer Präzision zu implantieren (ein-gang,
bewegungs-richtungen, einige bewegungs-arten, drei-sprung, gegen über jeder
richtung ein himmel, grund-sätzliches und selbst-reflexives, denk-ströme und
gedanken-flüsse, mit-unter-wegs, ver-wegungen oder vier ver-satz-stücke, auf
weg-spuren ohr-wärts bestimmt, metamorphosen, aus-gang).
Einer naturwissenschaftlichen
Versuchsanordnung nicht unähnlich ist die Struktur der Gedichte in "über
gänge verkörpert": Dem Nachweis einer tieferen Wahrheit auf der Spur
werden alltägliche Bausteine der Bewegungs- und Sprachmuster entwirrt, aufgelöst
und verbinden sich im weiteren Verlauf des Vorganges zu neuen Gefügen, wobei
der Autor als Katalysator gelten kann, der überdies - einem Protokollführer
gleich - Aktionen und Reaktionen objektiv aufzeichnet und dem Geschehen gegenüber
etwa völlig in den Hintergrund tritt? Nicht ganz: Indem der Dichter die
Ereignisse in seiner höchstpersönlichen Wortwahl zu Papier bringt, beinhalten
sämtliche Darstellungen einerseits Aussagen von allgemeiner Gültigkeit,
andererseits tragen sie seinen charakteristischen Fingerabdruck; der Leser
erlebt verkörperte Momentaufnahmen aus der Warte eines anders beziehungsweise
über geordneten Bewusstseins.
Konsequent die Abwesenheit von
Satzzeichen, die durchgehende Kleinschreibung, der Einsatz des Partizip-Präsens,
spielerisch der Umgang mit dem Platzangebot einer Buchseite. Harmonisch nachgewürzt
wird mit Zitaten von Robert
Walser, Honoré
de Balzac, Aristoteles, Thomas Schestag, Thomas Bernhard, Friedrich Kaulbach
sowie Ovid.
Bewegung existiert in der
Gegenwart, im Moment. Das seiner Natur gemäß Unhaltbare festzuhalten, das
Wesen des Augenblicks Wort werden zu lassen, Eindrücke in Ausdrücken zu
konservieren - bei Semier Insayif ist Sprache Bewegung.
(kre; 08/2001)
Semier
Insayif: "über gänge verkörpert
oder
vom verlegen der bewegung in die form der körper"
Haymon-Verlag, 2001. 111 Seiten.
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