"Der heilige Baum
Ein indianisches Weisheitsbuch"


Den Texten zugrunde liegt das sogenannte Four Worlds Development Project, das als Ergebnis der vereinten Bemühungen vieler weiser Menschen zu verstehen ist. Es gab mehrere Konferenzen, die dazu dienten, einen Kontext zu schaffen, der die Vorstellungen der Indianer Nordamerikas zusammenfasst. Interessant ist, dass das Buch an und für sich als philosophisch-religiöse Grundlage innerhalb eines Hilfsprogramms für Alkoholiker und andere Drogenabhängige konzipiert worden ist. Der Text kann aber für jeden Menschen als Lebenshilfe dienen, der die Magie der Zeilen einzuatmen versteht.

Der heilige Baum ist so etwas wie ein Monolith, der im Zentrum der Kernfragen des Lebens steht. Ähnlich wie jener, der im Film "Odyssee 2001" von Urahnen des Menschen verehrt wird, dient er als Symbol abseits verklärender Idealismen. Er ist so etwas wie der Urgrund, von dem sich die geistigen und spirituellen Erkenntnisse der Menschen immer wieder ableiten lassen. Alles, was der Baum in und außer sich trägt, weist über Zeit und Raum hinaus, und lässt den Menschen teilhaben an einer Universalität, die sich wie Äste eines Baumes ausbreitet.

Das Medizinrad ist ein weiteres Symbol, das die innere Suche nach Balance vom Kern aus beginnen lässt. Die vier wichtigsten Komponente sind Emotionalität, Geistigkeit, Spiritualität und Körperlichkeit. Nur wenn diese vier Wesensmerkmale des Menschen durch Weisheit miteinander so verbunden werden, dass eine Ganzheitlichkeit des Wesens entstehen kann, ist Entwicklung möglich. Freilich stößt diese Entwicklung nie an Grenzen; ständig gibt es neues zu entdecken, und immer weiter zu streben, ohne sich gesättigt zu fühlen, entspricht auf "ver-rückte" Weise den Vorstellungen der Menschen, wie sie in der "modernen" Welt gang und gäbe sind. Diese nämlich richten ihre Konzentration auf geistige Energie, die einem Nichts dient, was letztendlich nur in den geistigen und spirituellen Untergang führen kann. So und nicht anders ist auch die Tendenz der Selbstvernichtung des "modernen Menschen" zu verstehen. Der heilige Baum steht in derartig eklatantem Kontrast zu einer kompromisslosen Lebensführung, die nur an Kapitalmaximierung und Wettbewerb orientiert ist, dass es einem sauer aufstoßen muss.

Dieses Büchlein steht für sich. Es ist ein Anker, der gesetzt werden kann. Der Mensch mag den Anker lichten, und auf die weiten Meere hinausfahren, wo er seine Gaben von Osten nach Norden hin entwickeln mag. Entscheidend ist, dass das Leben nur dann Sinn ergibt, wenn es sich nicht in der eigenen Durchleuchtung blendet. Anderen Menschen Gutes zu tun, einer wichtigen Idee zu dienen, die anderen Menschen hilft, der Verzweiflung zu entfliehen, ist Voraussetzung für ein sinnerfülltes Leben. Die Ellbogengesellschaft, wo nur der persönliche Profit zählt, und über Leichen gegangen wird, hat hier nichts zu suchen. Der Wunsch nach einer universellen Bestimmung des Menschen muss ins Herz einsickern, um eine Lebensführung anzustreben, die sich von den Gesetzen des Marktes und der Anpassung an allerlei morbide Strukturen unterscheidet. "Du kannst nicht Gott und dem Mammon dienen", heißt es schon in der Bibel. Tatsächlich gilt es in dieser Hinsicht sich zu entscheiden. Gott, und das ist das Entscheidende an den Aussagen, die in diesem Büchlein enthalten sind, ist jene Größe, die stets in den Dingen enthalten ist, an denen wir Anteil nehmen. Er wird nicht explizit erwähnt, da er implizit in uns suchenden Menschen enthalten ist. Es gibt nur zwei Arten von Lebensführung: Jene, die uns mit der Schöpfung und Gott in Verbindung bringt, und jene, die uns von der Schöpfung und Gott loslöst. Die universalistische Seite unseres Ich zu bekennen und zur Erkenntnis zu gelangen, dass Erkenntnis nicht mit dem Menschen identisch sein kann, mag ein letzter Wink mit dem Zaunpfahl sein, um den Implikationen dieser indianischen Weisheitstexte Ehre zu erweisen.

(Jürgen Heimlich; Juli 02)


"Der heilige Baum. Ein indianisches Weisheitsbuch"
Patmos Vlg. 2002
99 Seiten
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