"I Ging"

Das Buch der Wandlungen


"Wenn man eine der Zeichenkombinationen anblickt, (...), so ist das kein Lesen, auch kein Denken, sondern es ist wie das Blicken in fließendes Wasser oder in ziehende Wolken. Dort steht alles geschrieben, was gedacht und was gelebt werden kann." (Hermann Hesse über das "I Ging")

Niemand weiß genau, wann das "I Ging" entstand oder wer die Schöpfer dieses "Buches der Wandlungen" waren. Sehr wahrscheinlich erlangte es seine heutige Form stückweise im Laufe der Jahrtausende, begleitete das Volk Chinas quer durch die Zeitalter; weshalb es im Westen oft auch als "Bibel der Chinesen" betitelt wird. Tatsächlich inspirierte das "I Ging" die großen philosophisch-religiösen Systeme des Taoismus wie des Konfuzianismus, ohne aber dogmatisch zu wirken. Das "Buch der Wandlungen" zwingt zu nichts und lässt sich zu nichts zwingen. Wer es in seiner Substanz verstehen will, muss sich voll darauf einlassen - wie bei einer Liebesbeziehung.

"I Ging" ist eine Sammlung von Orakelzeichen, so genannter Trigramme, welche aus drei übereinander liegenden Linien bestehen, die entweder durchgehend __ oder gebrochen - - sind. Die durchgehende Linie symbolisiert das schöpferische männliche Prinzip (Yang), die gebrochene das bewahrende weibliche (Yin). Insgesamt gibt es acht Anordnungsmöglichkeiten der Trigramme. Sie stellen Bilder dessen dar, was im Himmel und auf Erden vorgeht, geben aber nicht über die Dinge an sich Auskunft, sondern über ihre Bewegungstendenzen, ihre permanenten Übergänge ineinander, ihren Wandel. Damit sich das einfache Volk diese abstrakte Philosophie plastischer vorstellen konnte, bilden die acht Trigramme eine allegorische Familie, bestehend aus Vater, Mutter, drei Söhnen und drei Töchtern. Die Familienmitglieder symbolisieren Elemente wie Himmel, Erde, Donner, Wasser, Berg, Wind, Feuer oder See bzw. stehen für Eigenschaften von sanft und heiter bis erregend und gefährlich.

Durch Verschmelzung von zwei Trigrammen ergeben sich 64 Anordnungsvarianten, die Hexagramme. Diese Symbole korrelieren mit bestimmten Lebenssituationen, die der/dem Fragenden Auskunft über ihre/seine gegenwärtigen Möglichkeiten geben. Das "I Ging" beansprucht nicht, deterministisch die Zukunft vorauszusagen, sondern macht auf alle "Keime" aufmerksam, die im Moment der Fragestellung vorhanden sind. "Keime" sind Zukunftstendenzen. Was man mit ihnen tut, bleibt einem selbst überlassen; man kann sie aufgehen oder verdorren lassen.

C.G. Jung, der sich intensiv mit dem "I Ging" befasst hatte, war der Überzeugung, immer "sinnvolle Antworten" zu bekommen. Allerdings basieren diese nicht auf dem in der westlichen Denkweise so verankerten Kausalitätsprinzip, sondern auf jenem der Synchronizität. Es fordert ein Denken über die Grenzen der Logik hinaus, hinein ins Ganzheitliche. Alles, was im Sichtbaren passiert, ist Abbild der eigentlichen Idee, die unsichtbar bleibt. Weise oder Heilige sind imstande, diese Auswirkungen der Ideen in der materialistischen Welt intuitiv zu verstehen und zu interpretieren.

Befragt wird das Orakel des "I Ging" entweder durch eine spezielle Ziehweise von 50 Scharfgarbenstängeln oder aber - einfacher - durch Münzwurf. Dazu nehme man drei gleichartige Münzen in die linke Hand (bei Linkshändern in die rechte) und werfe sie sechsmal. Kopf zählt als "2", Zahl als "3". D.h., man erhält pro Wurf Zahlenwerte von 6, 7, 8 oder 9, die wiederum einer bestimmten Linie entsprechen. Wurf eins wird als unterste Linie aufgeschrieben, Wurf zwei als darüber liegende notiert, usw. Nach sechs Würfen liegt ein Hexagramm vor, das den "Keim" auf die vor dem Werfen gestellte Frage enthält. Bei einer Wurf-Quersumme von 6 oder 9, ergeben sich "Übergangslinien", die ein zweites Hexagramm beschreiben, das für die nähere Zukunft steht.

Erstmals ins Deutsche übersetzt wurde das "I Ging" vom Priester Richard Wilhelm (1873-1930), der 1899 als Missionar nach Tsingtao kam und 1911 vom "verehrten Meister" Lao Naixuan, einem Gelehrten, auf "Das Buch der Wandlungen" aufmerksam gemacht worden war. Am "günstig" erachteten 21. März 1913 begann Wilhelm mit der Übersetzung, die durch den Ersten Weltkrieg eine Unterbrechung fand und erst 1917 bis 1924 weiterging. Die hier vorliegende vollständige Neuübersetzung des Schweizer Sinologen Georg Zimmermann nahm Wilhelms Transkription als Fundament und befreite es von veralteter oder patriarchaler Ausdrucksweise. Zimmermann gilt als der westliche Experte für das "I Ging".

Das "Buch der Wandlungen" hat viel mehr mit Wahrscheinlichkeitsrechnung als mit Tageshoroskop im Boulevardblatt zu tun, seine Hexagramme sind Archetypen (wie die Karten des Tarot); es basiert auf einer Philosophie des panta rhei, wie sie schon Heraklit vertrat. "Es ist ein Buch, das ich niemals mehr als ahnungsweise und für Augenblicke werde verstehen können, ein System für die ganze Welt aufgebaut." (Hesse).

Was nicht im Buch steht: Das "I Ging" fand durch vier Trigramme sogar Eingang in die Flagge der Republik Südkorea (siehe Abbildung links).
Links oben: Vater/Himmel, rechts unten: Mutter/Erde, rechts oben: 2. Sohn/Wasser, links unten: 2. Tochter/Feuer. Im Zentrum der vier Trigramme steht das Symbol der Einheit von Yin und Yang.

(lostlobo; 04/2004)


"I Ging. Das Buch der Wandlungen"
Übersetzt von Richard Wilhelm.
Neu eingeleitet von Georg Zimmermann.
Atmosphären-Verlag, 2004. 359 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen