Amartya Sen: "Die Identitätsfalle"
Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt
Stigma
Identität
Der Professor und Ökonomie-Nobelpreisträger (1998)
Amartya Sen möchte uns mit dem vorliegenden Buch
erläutern, 'Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt'
(Untertitel). Die Grundthese lautet, dass wir Menschen "viele
verschiedene Zugehörigkeiten" haben, unterschiedliche
Identitäten eben - und nicht nur eine schicksalhafte
Gruppenzuordnung. Momentan scheint es so zu sein, dass durch die
fundamentalistische Reduktion auf eine religiös definierte
Identität eine Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen
Religionskulturen stattfindet, dass eine solitaristische Zuordnung der
Menschen zu gewaltsamen Konflikten führt. Sen ist der
Auffassung, dass wir Gewalt vermeiden können, wenn wir uns als
vielfältige Persönlichkeiten verstehen und
akzeptieren - ohne Anspruch auf die Dominanz irgendeiner
Identitätsideologie. Der Autor mahnt uns eindringlich: "Die
Chancen auf Frieden in der heutigen Welt könnten sehr wohl
davon abhängen, dass wir die Pluralität unserer
Zugehörigkeiten erkennen und anerkennen und dass wir als
gemeinsame Bewohner einer großen Welt von der Vernunft
Gebrauch machen, statt uns gegenseitig unverrückbar in enge
Schubladen zu stecken."
Die Identität mit einer Gruppe kann zur Solidarität
nach innen und zur Aggression nach außen, anderen Gruppen
gegenüber, führen. Ob wir es wollen oder nicht: wir
gehören vielen verschiedenen Gruppen an
(Staatsangehörigkeit, Wohnort, geografische Herkunft,
Geschlecht, Klasse, politische Ansichten, Beruf, Essgewohnheiten,
Interessen, Musikgeschmack etc.) - und können prinzipiell
selbst entscheiden, wo unsere Prioritäten liegen und ob wir
als Angehöriger einer Gruppe anderen gegenüber
freundlich oder aggressiv auftreten bzw. empfinden. Mit direktem Bezug
auf Samuel Huntingtons vieldiskutiertes Buch 'Kampf der Kulturen' weist
Sen die Grundannahme, man könne die Menschheit in eine
"westliche" und in eine "islamische" ("buddhistische", "hinduistische")
Kultur einteilen, zurück - ebenso wie die Behauptung, es
müsse zwischen diesen angenommenen "Kulturen" zum "Kampf"
kommen. Diese quasi institutionalisierte Borniertheit ist
gefährlich und befördert die subtile oder
fundamentalistische Konfliktbereitschaft - bis hin zu einem ideologisch
hochgezüchteten Konfliktbedürfnis. Wenn Sen
allerdings behauptet, jemand könne einen "starken -
islamischen oder anderen - religiösen Glauben und zugleich
eine tolerante politische Einstellung haben", dann ist er wohl zu
naiv-großzügig, wenn man die Realität in
Betracht zieht. Freilich könnte und sollte man - von der
Theorie aus betrachtet - Religion als Privatsache und Politik als
öffentliche Angelegenheit betrachten und voneinander trennen -
aber dies können eben Fanatiker und Orthodoxe und Radikale
jedwelcher Couleur nicht. Einer der entscheidenden Sätze in
diesem Buch ist wohl: "Unser gemeinsames Menschsein wird brutal in
Frage gestellt, wenn unsere Unterschiede reduziert werden auf ein
einziges, willkürlich erdachtes Einteilungsschema, dem alles
andere untergeordnet wird." Also sind wir doch alle aufgerufen, uns
gegen die Stigmatisierung durch aufgezwungene Identitäten zu
verwehren.
Die Wichtigkeit bestimmter Identitäten kann beispielsweise von
der Situation abhängen, vom sozialen Kontext, in dem man
auftritt. Wenn man etwa eine Rede halten soll, wird die
Identität Bildung gefragt sein, geht man in ein Restaurant,
wird etwa die Identität wichtig, ob man
Vegetarier ist oder
nicht. In den seltensten Fällen wird es übrigens im
täglichen Leben eine Rolle spielen, welche Identität
Religion man hat - da ist die Identität Raucher oder
Nichtraucher viel gewichtiger. Auch müssen wir leider damit
umgehen, dass die Definitionen einer Identität durch einen
selbst und durch andere recht verschieden, ja gegensätzlich
bis lebensbedrohlich sein können (besonders in ethnischen und
politischen Kontexten oder in der Randaliererszene). Die Entscheidung
für individuelle oder gemeinschaftliche Identitäten
hängt unmittelbar mit der Anerkennung bestimmter Normen
zusammen.
Sen weist also die Einteilung der Weltbevölkerung in
"Kulturen" zurück, weil historisch betrachtet immer wieder
gegenseitige Einflüsse stattgefunden haben und die Reduktion
auf eine Kulturzugehörigkeit den Menschen ohnehin nicht
gerecht werde. Auf jeden Fall geht es nicht an, die Menschen in der
Hauptsache nach Religionszugehörigkeit zu klassifizieren, in
"Gläubige" und "Ungläubige" - denn beispielsweise
"islamisch zu sein, kann kaum die einzige Identität selbst
eines Muslims sein. Verneint man die Pluralität und lehnt man
die Wahlfreiheit hinsichtlich der Identität ab,
können erstaunlich bornierte und irregeleitete Ansichten
herauskommen." Wenn Identität zum Stigma wird oder sich
instrumentalisieren lässt für Konflikte, dann ist mit
ihrer Definition etwas schief gelaufen. Es helfen nur Vernunft und
Toleranz auf dem Weg zu der Erkenntnis, dass gerade in der
Vielfältigkeit eines Menschen seine wahre Identität
liegt. Sens Buch könnte uns eigentlich helfen, dem Weltfrieden
ein Stück näher zu kommen.
(KS; 03/2007)
Amartya
Sen: "Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen
gibt"
Aus dem Englischen von
Friedrich Griese.
C.H. Beck, 2007. 208 Seiten.
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Amartya Sen, geboren in Santiniketan, Indien, ist Professor in Harvard und war Master des Trinity College in Cambridge. 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie. Zu seinen bedeutendsten Werken zählen Ökonomie für den Menschen (2000) und Ökonomische Ungleichheit (1992).