Paul Kirchhof: "Das Gesetz der Hydra"

Gebt den Bürgern ihren Staat zurück!


Der kranke Staat: Diagnose und Therapiemöglichkeiten

Während seines unfreiwillig kurzen Ausflugs in die deutsche Bundespolitik - er war in einer möglichen CDU/CSU-FDP-Regierung als Finanzminister vorgesehen - erwarb sich Paul Kirchhof, der offen für eine Vereinfachung des Steuerrechts und die Abschaffung von Subventionen und anderen Vergünstigungen eintrat, den Ruf eines Feindes der Krankenschwestern; eigentlich des "kleinen Mannes" schlechthin.

Dieses Bild, das auf nachweislich irreführenden Kampagnen des politischen Gegners und deren Forcierung durch die Medien beruht, falsifiziert Kirchhoff in seinem Buch.

Der Staat hat sich Kirchhof zufolge zu einer vielköpfigen Hydra entwickelt, die einst dazu herbeigerufen wurde, das Gemeinwesen zu schützen, nun aber unerträglich gefräßig geworden ist und alles verschlingt, dessen sie habhaft werden kann. Diese Hydra, eigentlich Hüterin des Rechts und seiner Anwendung, hat praktisch alle Bereiche des Lebens mit Vorschriften und Regeln gefüllt, die dem Bürger das Recht auf Eigenverantwortung entziehen und ihn somit entmündigen.
Nachdem Kirchhoff im ersten Kapitel die Hydra vorgestellt hat, zeigt er auf, wie der vernünftige Staat auszusehen habe; dieser basiert vor allem auf der Freiheit und versteht sich somit als Garant einer Freiheitsordnung. Vor allem aber muss er Gesetze vorweisen, deren Umfang übersichtlich ist und die vor allem gut verständlich abgefasst sind.
Verbände und andere Lobbyisten führen dem Gesetzgeber die Feder, sodass der am meisten zu bestimmen hat, der die lauteste Stimme besitzt - ein ganz und gar nicht demokratischer Vorgang! Kirchhoff, als langjähriger Verfassungsrichter ein Beobachter in der ersten Reihe, beschreibt dieses Problem detailliert und zeigt auf, wie sehr der Staat von Verbandsinteressen gesteuert wird und wie wenig der Einzelne, nicht Betroffene, sich dagegen wehren kann. Zur Beschönigung und "Legitimierung" bedienen sich Politiker wie Verbände der Sprache. Diese wird instrumentalisiert durch verquaste Formulierungen, die die wahren Absichten der Verfasser verschleiern.
Dass Kirchhoff eine Lanze für die Familiengründung und die politische Unterstützung der Familien bricht, verwundert nicht, wenn man 2005 die politischen Debatten verfolgt hat. Im Gegensatz zu den damaligen Medieninformationen wünscht er jedoch nicht die Verbannung der Frauen an den Herd und ins Kinderzimmer, sondern er hält einige interessante Lösungen im Ausbildungs- und Hochschulsektor bereit, die eine Familiengründung ohne allzu einschneidende finanzielle Einbußen ermöglichen würden. Gleichzeitig zeigt er auf, wie bedeutsam Kinder im Staatsgefüge sind. Auch erläutert er die Grenzen und Gefahren, denen die moderne rastlose Jagd nach beruflichem und finanziellem Erfolg unterworfen ist.
Ein Kapitel erläutert die Bedeutung von Steuern, die heute unsere Freiheit bestätigen, mittlerweile aber in vielfach nicht nachvollziehbarer, die Wirtschaft, noch mehr jedoch den Verbraucher und die Familien schädigender und oft ungerechter Weise einseitig belasten. Eng mit dem Steuerrecht verknüpft ist das Problem der wachsenden Verschuldung, eine schier unerträgliche Hypothek für die nächsten Generationen. Kirchhoff bietet ein radikales, aber offensichtlich effektives Konzept zur progressiven Entschuldung. Zum Abschluss formuliert er die einzelnen Hydraköpfe und bietet "Schwerter" zu ihrer Vernichtung an.

Paul Kirchhoff ist ein wertkonservativer Autor, und wer Konservatives pauschal ablehnt, wird vermutlich wenig Interesse daran haben, sich auf seine Politkritik und vor allem seine Verbesserungsvorschläge einzulassen. Auch dem eher konservativen Leser wird nicht jedes Kapitel schmecken, fordert der Autor doch dazu auf, abzurücken von der Meinung, der Staat habe "mir", dem Einzelnen, finanziell möglichst viel bei möglichst geringer Belastung zu bieten. Stattdessen möchte Kirchhoff den Staat zurücklenken auf sein "Kerngeschäft", das Recht. Diesem Ziel müssen alle gesellschaftlichen Gruppierungen, Arme und Reiche, einfache Arbeitnehmer und Wirtschaftsbonzen, einen erheblichen Teil ihrer Erwartungen an den Staat opfern - und zwar vor allem zugunsten der Familien, die der Gesellschaft die nächste Generation von Leistungserbringern möglichst gut heranzieht.
Kirchhoff erläutert die Chancen und Risiken der EU und des internationalen Wettbewerbs der Staaten um Industriestandorte. Vor allem aber gehört er nicht zu den Kritikern, die lediglich Missstände bemängeln. Der erfahrene Jurist bietet zahlreiche realistische, wohl durchdachte und letztlich bürgerfreundliche Vorschläge zu deren Beseitigung an, und schon dafür muss man ihm Respekt zollen.
Jedes Kapitel wird von einem "Märchen" eingeleitet, das reale Probleme des Staates leicht nachvollziehbar widerspiegelt. Auch darüber hinaus ist das Buch für Menschen ohne Jurakenntnisse sehr gut verständlich. Im ersten Drittel mag Kirchhoff in seinem Bemühen, seine Kritikpunkte und Lösungsvorschläge allgemeinverständlich zu präsentieren, zuweilen über das Ziel hinausgeschossen sein: Hier kommt es öfters zu inhaltlichen Wiederholungen, doch die Spannung nimmt im Verlauf des Buchs zu.

Dieses Buch schildert somit logisch und für jeden interessierten Bürger nachvollziehbar die gegenwärtigen Probleme des deutschen Staates (und auch die der meisten seiner EU-Nachbarn!) und bietet bemerkenswerte, wenn auch schmerzhaft anmutende Lösungen an. Man muss dem Autor vielleicht nicht in jedem Punkt zustimmen. Aufrüttelnd und diskussionswürdig ist das Buch auf jeden Fall.

(Regina Károlyi; 11/2006)


Paul Kirchhof: "Das Gesetz der Hydra"
Droemer, 2006. 384 Seiten.
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Prof. Dr. Paul Kirchhof, geboren 1943, war von 1987 bis 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts. Im Bundestagswahlkampf 2005 gehörte der parteilose Wissenschaftler als designierter Finanzminister zum Kompetenzteam der CDU/CSU um Angela Merkel. Lehre und Forschung als Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u.a. erhielt er im Jahr 2005 den "Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache".

Ein weiteres Buch des Autors:

"Die Erneuerung des Staates - eine lösbare Aufgabe"

In Deutschland war das Lamento nach der Wahl groß, und manche wollten sogar auswandern. Paul Kirchhof rät zu Nüchternheit und Klarheit. Er verliert über den Details die große Perspektive nicht aus den Augen. Sachlich argumentierend und in gebotener Deutlichkeit präzisiert er seine Position, aktualisiert die Analyse und führt die Debatte um ein Erneuerungskonzept zurück auf die zentralen Fragen: nach dem Verhältnis Sozialstaat und Geld, nach der Balance zwischen Freiheit und Gemeinschaft, nach einer verständlichen und klaren Rechtskultur, nach der Verständigung über verbindliche Werte und Verhaltensmaßstäbe, nach der Notwendigkeit einer ehrlichen und argumentativen Sprache in der Politik. Das sind die Themen, um die es nach wie vor geht. Reformen wurden angepackt. Aber sie können nur der Auftakt sein. Die Situation ist schwierig. Aber die Reform des Staates ist möglich. (Herder)
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