Hwang Sok-yong: "Der Gast"


Hwang Sok-yong wurde 1943 in der Mandschurei geboren und gilt als einer der bekanntesten und einflussreichsten Autoren Südkoreas. Nach einer Verhaftung und sieben Jahren Inhaftierung bei einem Besuch des nördlichen Nachbarstaates hatte er - eigenen Aussagen zufolge - viel Zeit, seinen Stil und seine Ideen zu entwickeln, lebt aber heutzutage sicherheitshalber in Paris. In seinen Werken setzt er sich in erster Linie mit Fragen der Unterdrückung, der Gewalt und der Verfolgung auseinander.

Den genannten Aspekten kommt in "Der Gast" große Bedeutung zu.
Vor etwa 50 Jahren sind die Brüder Yosŏp und Yohan aus Nordkorea geflohen und nach Nordamerika emigriert. Die Söhne eines christlichen Geistlichen sahen sich - selbst dem geistlichen Amt zugeneigt - in Korea allzu angefeindet und hatten im Verlauf des Koreakrieges allerlei Dinge getan und erlebt, von denen sie sich auch körperlich deutlich distanzieren wollten. Und so beginnen sie auf dem neuen Kontinent ein ganz neues Leben und bringen es in ihren dortigen Gemeinden zu außerordentlichem Ansehen. Aber gerade Yosŏp sieht sich immer wieder mit den Geistern seiner koreanischen Vergangenheit konfrontiert, Geistern, denen sich zu Beginn dieses Buchs auch noch jener von Yohan zugesellt, der als älterer Bruder wesentlich mehr Möglichkeiten hatte, im Krieg Schuld auf sich zu laden. Erstaunt hört Yosŏp, dass Yohan eine Reise nach Korea geplant hatte, die er nun anstelle seines Bruders antritt - mit allerlei Geistern im Handgepäck.

Wie viele "Heimkehrer" von offiziellen Vertretern empfangen und ständig begleitet, erlebt Yosŏp - neben der Wiederbegegnung oder Erstbegegnung mit zahlreichen Verwandten - die ebensosehr tendenziöse wie einseitige Geschichtsdarstellung in Bezug auf den Koreakrieg und wie viele koreanische Übeltaten den "Langnasen" aus den USA angedichtet werden. Sogar Massaker, an denen Yosŏp direkt oder indirekt beteiligt war.

Im Spannungsverhältnis zwischen Erinnerungen und Erfahrungen, zwischen katholischem Denken und koreanischem Ahnenkult versucht sich Yosŏp selbst zu vergeben und allen, die sich irgendwie schuldig gemacht haben, während seine Betreuer ganz klare Vorstellungen von der Verteilung der Schuld haben.
Gegen Ende treffen die Geister der toten Täter und Opfer aufeinander und erzählen von ihren Erfahrungen und Motiven, was schließlich eine Art erzählerischen Teppich ergibt, der dem Leser ein ungewöhnliches Verständnis von Zusammenhängen in Kriegen und gerade Bürgerkriegen zeigt, die mit Verantwortlichkeiten zu tun haben.

Der Roman folgt in seinem Aufbau einem schamanistischen Geisterritual, das in Korea unter dem Namen Chingowi-Kut bekannt ist und im Grunde die gleiche Funktion erfüllt, wie es der Roman tut. In Bezug auf Kriegserfahrung und Umgang mit Schuldmomenten erinnert "Der Gast" den westlich orientierten Leser eventuell an Hesses "Magisches Theater" oder an DeMilles "Mission".
Fazit: Ein wichtiges Buch über einen Krieg des 20. Jahrhunderts, den die meisten Menschen wohl schon vergessen haben.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 12/2006)


Hwang Sok-yong: "Der Gast"
Übersetzt von Katrin Mensing, Young Lie und Matthias Augustin.
dtv, 2007. 297 Seiten.
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