Khaled Hosseini: "Tausend strahlende Sonnen"


Die Burka der Vergangenheit
Khaled Hosseini widmet sein neues Buch den Frauen in Afghanistan


"So wie eine Kompassnadel immer nach Norden zeigt, wird der anklagende Finger eines Mannes immer eine Frau finden." 
Khaled Hosseini lüftet in seinem neuen Roman ein weiteres Mal den Mantel der afghanischen Vergangenheit.
Gerade wurde sein erster Roman "Drachenläufer" (2003) in England zum zweiten Mal zum "Reading Group Book of the Year" gewählt.
Die afghanische Variante von Dostojewskis "Schuld und Sühne", die Geschichte von Amir dem Paschtunenjungen aus wohlhabendem Haus und dessen Diener und Freund Hassan vom Volk der Hazara wurde in 40 Sprachen übersetzt, hat sich bislang neun Millionen Mal verkauft und wird bereits verfilmt. Auch der deutschsprachige Raum, wo immerhin 500.000 Exemplare "über die Ladentische gewandert" sind, hat zum Erfolg beigetragen.

Dabei hat das erste Buch des sympathischen afghanischen Schriftstellers seinen Erfolg keinem Medienrummel zu verdanken. "Drachenläufer" war und ist ein internationaler Überraschungserfolg, der ausschließlich aus dem enormen Interesse privater Lesekreise in England und den USA gewachsen ist.

Khaled Hosseini hat mit einfachen Mitteln große Wirkung erzielt: eine geschickte Verknüpfung von dramatischen Ereignissen mit großen Gefühlen in einer klaren, schnörkellosen Sprache. Und er hat ein Thema als Leitfaden appliziert, mit dem sich seine Leserschaft hundertprozentig identifizieren kann: "dass man zwar ein Leben lang andere, nicht aber sich selbst betrügen kann".

Nun liegt sein zweites Buch mit dem Titel "Tausend strahlende Sonnen" vor. Nicht zwei Jungen sind diesmal die Hauptprotagonisten, sondern zwei Frauen, deren Lebenswege sich auf dramatische Art und Weise kreuzen, eine gemeinsame Zeit in gleichen Bahnen verlaufen, um am Ende wieder zum Ursprung zurückzufinden, sozusagen das weibliche Pendant zum "Drachenläufer".

"Nachdem ich 'Drachenläufer' abgeschlossen hatte, wollte ich über die afghanischen Frauen schreiben", sagt Hosseini. "Im ersten Roman standen die Männer im Mittelpunkt. Da war also ein substanzieller Teil der Gesellschaft, den ich bisher ausgelassen hatte, eine ungeöffnete Schatzkiste voller Geschichten":
Mariam, das uneheliche Kind eines wohlhabenden Kinobesitzers aus Herat - ein harami, ein Bankert - lebt gemeinsam mit ihrer verbitterten Mutter als Ausgestoßene in einer schäbigen kolba (Hütte) am Rande der Stadt. Schon frühzeitig wird ihr Selbstwertgefühl im Keim erstickt: "Das ist unser Los, Mariam. Das Los von Frauen wie uns. Wir müssen aushalten. Mehr ist nicht drin."

"Es gibt nur eine Tugend, die wir Frauen lernen müssen, klaglos alles auszuhalten."
Nach dem Selbstmord ihrer Mutter wird das fünfzehnjährige Mädchen von seinem leiblichen Vater an den dreißig Jahre älteren Schuhmacher Rashid nach Kabul verheiratet. Sie fühlt sich "entwurzelt, vertrieben und fehl am Platz. (...) Sie, Mariam, gehörte nicht hierher. Aber wohin gehöre ich? Was soll ich jetzt tun?" Ihr Ehemann, stark mit islamistischen Traditionen verwachsen, zwingt ihr die Burka auf und hält sie wie eine Leibeigene. Nach mehreren Fehlgeburten bleibt die Ehe kinderlos. Rashid zeigt ihr seine Verachtung zum Teil mittels körperlicher Gewalt. Klaglos fügt sie sich in ihr trostloses Schicksal.
Mit sechzig nimmt sich Rashid die vierzehnjährige Laila - die im Bombenhagel der verfeindeten afghanischen Milizen ihre Eltern, ihr Heim und auch ihre junge Liebe Tarik verloren hat - zur Zweitfrau.

Die anfängliche Feindschaft Mariams gegenüber ihrer neuen Konkurrentin ändert sich jedoch nach der Geburt des ersten Kindes. Laila bringt eine Tochter - Aziza - zu Welt. Rashid, für den ein Mädchen keinen Wert darstellt und der sehnsüchtig auf einen männlichen Nachfolger gewartet hatte, ist enttäuscht und lehnt das Kind ab. Mariam jedoch findet in Aziza zum ersten Mal in ihrem Leben eine erfüllende Aufgabe und in Leila eine Verbündete, die, trotz der weiteren Geburt eines männlichen Nachkommens, alsbald ebenso den gewalttätigen Eruptionen ihres brutalen Ehemannes ausgeliefert ist.
Als Rashid arbeitslos und der Hunger zum ständigen Begleiter der Familie wird, eskaliert die Situation ...

Mit "Tausend strahlende Sonnen" knüpft Khaled Hosseini an sein erstes Buch an.
Wieder breitet er vor dem Leser ein geschichtliches Panorama Afghanistans aus, was ihm dieses Mal sogar noch besser gelungen ist. Der Kampf der beiden Frauen ums Überleben angesichts von Gewalt, Erniedrigung und Willkür wird feinfühlig und äußerst realistisch mit der wechselhaften Historie des geschundenen Landes verwoben.

Seine Geschichte umspannt einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren, beginnend mit dem Königreich, welches 1973 der Republik weicht, dem Einmarsch der Sowjets im Jahre 1979, über deren zehnjährige Bekämpfung durch die Mudschaheddin, die am Ende in deren eigener "Selbstzerfleischung" endet und schließlich die brutale Herrschaft des Talibanregimes und dessen grausame Vergehen an der Menschlichkeit. Hosseini spart nichts aus, sei es eine öffentlichen Exekution in der Halbzeitpause eines Fußballspiels oder aber die Auslebung sinnloser Zerstörungswut an Kulturdenkmälern, so geschehen an den riesigen Buddha-Statuen in Bamiyan.

Doch der Autor nimmt das unnütze Blutvergießen der vergangenen dreißig Jahre nicht als willkommene düstere Kulisse, sondern als Teil des Alltags seiner Figuren. In die ungeschönte Gewalt setzt er immer wieder Lichtreflexe, so zum Beispiel, wenn er über das ausgebrochene "Titanic-Fieber" - die unglaubliche Begeisterung der Afghanen für diesen berühmten Film mit Leonardo DiCaprio - berichtet.

"Dieses Buch handelt von der schrecklichen Situation der Frauen in Afghanistan", sagte der Autor bei einer Lesung in New York. "Nach dem Erfolg meines ersten Buches habe ich mich in der Verantwortung gefühlt, meinen Teil dazu beizutragen, dass die Menschen die Lage der Frauen dort verstehen. Das ist sozusagen mein Beitrag zu ihrem Kampf, zu ihrem Mut und zu ihrem Überlebenswillen."

Dass es dabei mitunter etwas zu melodramatisch und teilweise zu klischeehaft zugeht, kann man verschmerzen.
Hervorzuheben ist Khaled Hosseinis wiederum wunderbare, orientalisch anmutende Erzählkunst, die schon den "Drachenläufer" auszeichnete und durch die erneut hervorragende Übersetzung von Michael Windgassen ungetrübt wiedergegeben wird.

Fazit:
Auch wenn die Geschichte mitunter ein wenig konstruiert, klischeehaft und konventionell erzählt wird und die Überraschungseffekte bezüglich der Lebenswendungen diesmal weniger prägnant und etwas vorhersehbarer als noch im "Drachenläufer" sind, so hat Khaled Hosseini mit "Tausend strahlende Sonnen" einen sehr emotionalen, spannenden Handlungsverlauf in einer kraftvollen, bilderreichen Sprache kreiert.

(Heike Geilen; 10/2007)


Khaled Hosseini: "Tausend strahlende Sonnen"
(Originaltitel "A Thousand Splendid Suns")
Aus dem Amerikanischen von Michael Windgassen.
Bloomsbury Berlin, 2007. 384 Seiten.
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